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Tagesanbruch: Merkel im Übermorgenland


Tagesanbruch
Merkel im Übermorgenland

Meinung von Florian Harms

24.05.2018Lesedauer: 6 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang auf dem Balkon über der "Verbotenen Stadt".Vergrößern des Bildes
Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang auf dem Balkon über der "Verbotenen Stadt". (Quelle: Michael Kappeler/dpa)

Guten Morgen aus Peking, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Wenn ein Genie stirbt, sollten wir innehalten. Für einen Moment die großen und kleinen Aufreger des Tages vergessen, das erste Diesel-Fahrverbot Deutschlands, das Unwetterchaos, den kaputten Staubsauger und die wartende Steuererklärung zu Hause. Wenn ein Genie stirbt, sollten wir uns verneigen. Vor seiner Persönlichkeit, seiner literarischen Brillanz, seinen intellektuellen Impulsen für die Gesellschaft. Und in Gedanken danke sagen für die fesselnden Geschichten, die er uns erzählt, für die vielen Einblicke in die menschliche Seele, die er uns eröffnet hat.

Danke, Philip Roth.

Danke, dass Sie sich jahrelang jeden Morgen an den Schreibtisch in Ihrem Gartenhäuschen gequält und Seite um Seite gefüllt haben. Danke für Ihre vielen Bücher, die ich erst aus der Hand legen kann, wenn ich auch die letzte Seite verschlungen habe. Danke vor allem für Ihren Roman "Mein Leben als Sohn", in dem Sie die Beziehung zu Ihrem sterbenden Vater reflektierten: die Liebe und den Hass, die Nähe und das Unverständnis zwischen den Generationen, das Altern und das Abschiednehmen. Ich wüsste nicht, wie man das komplexe Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen besser in Worte kleiden könnte. Nur Genies können so etwas. Ein Genie wie Sie.

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WAS STEHT AN?

Es ist warm hier in Peking, und die Luft ist heute überraschend klar. Ein vollgepacktes Programm erwartet die Bundeskanzlerin. Nach der Landung Ihres Regierungsjets hat sie mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang gefrühstückt (wissend, dass Herr Li außenpolitisch nichts zu sagen hat). Anschließend folgte ein Termin mit deutschen und chinesischen Wirtschaftsvertretern. Mittagessen jetzt wieder mit Herrn Li. Nachher geht es ins Goethe-Institut, um von chinesischen Künstlern zu hören, wie es ihnen in der gleichgeschalteten Kulturindustrie ergeht (wissend, dass die Künstler natürlich nicht frei reden können). Dann ein Treffen mit dem Vorsitzenden des Volkskongresses (der eigentlich auch nichts zu sagen hat), und abends endlich das Dinner mit dem Mann, der in China alles entscheidet: Staatspräsident Xi Jinping.

Früher liefen Visiten deutscher Regierungschefs in China so ab: Der chinesische Gastgeber las 20 Minuten lang seine Weltsicht von vorbereiteten Karteikarten ab, dann wartete man gemeinsam auf die mindestens ebenso lange Übersetzung, und schließlich durfte auch der Gast noch etwas sagen. Dann war das Gespräch schnell zu Ende.

Inzwischen läuft es anders. Auch die Chinesen haben erkannt, dass eine Simultanübersetzung Vorteile hat, wenn man sich unter vier Augen die Meinung sagen will. Gesprächsstoff gibt es schließlich genug. Die Konflikte mit dem Iran und Nordkorea werden diskutiert, aber vor allem geht es um Wirtschaftsthemen. Genau 186,6 Milliarden Euro beträgt das Handelsvolumen zwischen Deutschland und China – aber mit der zunehmenden ökonomischen Verflechtung beider Länder sind in letzter Zeit auch die Probleme gewachsen.

Deutsche Geschäftsleute berichten immer öfter, dass ihnen das Investieren in China schwer gemacht wird. Präsident Xi hat den Einfluss der Kommunistischen Partei gestärkt, deren Kader sitzen in jedem größeren Unternehmen, wollen im Zweifelsfall bei jeder wichtigen Frage mitreden (und zugunsten Chinas entscheiden). Zugleich üben die Chinesen Druck auf die ausländischen Partner aus, ihre Technologiegeheimnisse preiszugeben – um diese dann kurzerhand zu kopieren. Kürzlich machte ein spektakulärer Fall die Runde, über den die "Wirtschaftswoche" berichtete: Ein deutscher Unternehmer wunderte sich, warum seine chinesischen Arbeiter immer so müde waren. Also ließ er sie beschatten, als sie abends seine Fabrik verließen – und stellte fest: Sie gingen gar nicht nach Hause. Sondern in eine andere Fabrik wenige Kilometer entfernt. Die gehörte chinesischen Geschäftsleuten. Dort wiederholten die Arbeiter exakt dieselben Produktionsschritte, die sie in seiner Fabrik gelernt hatten. Plagiat kann man so etwas kaum mehr nennen, eher staatlich gedeckten Know-how-Klau.

Offenbar kein Einzelfall. "Viele Unternehmen wollen nicht darüber reden", schreibt Alexandra Stevenson in der "New York Times" – aber das Problem wächst und betrifft immer mehr deutsche Firmen.

Angela Merkel hat mit ihren Gastgebern heute also viel zu bereden:

  • Sie wird fordern, dass die Rahmenbedingungen bei Investitionen für deutsche Firmen in China ebenso gut gestaltet werden wie jene für chinesische Firmen in Deutschland.
  • Sie wird auf den Schutz geistigen Eigentums pochen und gesicherte Internetverbindungen fordern.
  • Sie wird anregen, dass deutsche Banken Filialen in China eröffnen könnten und der leidige Stahlstreit mit Amerika konstruktiv beigelegt statt immer weiter angeheizt wird.

Alles wichtige Punkte, keine Frage. Eines allerdings sollten wir zwischen all den Wirtschaftsthemen nicht vergessen: Herr Xi, Herr Li und der Rest ihres Regimes sind verantwortlich für gravierende Menschenrechtsverletzungen. Es gibt in diesem Riesenland keine unabhängige Justiz, dafür gibt es Folter und Organraub in Gefängnissen, Tausende politische Gefangene darben in Arbeitslagern. Mehr als 1.000 Menschen wurden im letzten Jahr hingerichtet – auch da ist China Weltspitze. Mein Kollege Patrick Diekmann beleuchtet diese dunkle Seite Chinas heute Morgen in einem Report.

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Jakiv Palij gilt als letzter noch lebender SS-Scherge in den USA. Ein Sonderermittler des US-Justizministeriums warf ihm vor, während des Zweiten Weltkriegs an der Ermordung von bis zu 7.000 Menschen in einem KZ beteiligt gewesen zu sein. Zudem soll er geholfen haben, den Aufstand im Warschauer Getto niederzuschlagen. Nun hat die Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg Vorermittlungen gegen den 94-jährigen Palij aufgenommen.

Warum ist es sinnvoll, gegen Greise zu ermitteln, deren mutmaßliche Verbrechen mehr als 70 Jahre zurückliegen? Das haben mein Kollege Marc von Lüpke und ich den Leiter der Zentralstelle, Jens Rommel, gefragt, und er hat uns in einem Interview bereitwillig Auskunft gegeben.

Dann führte er uns ins Stockwerk unter seinem Büro. Dort stehen mehrere lange Eisenschränke mit vielen, vielen Schubladen. Rommel zog eine der Schubladen heraus und entnahm ihr eine der zigtausend vergilbten Karteikarten. Darauf: in Schreibmaschinenschrift Name, Geburtsort, Dienstgrad, Einsatzorte und Kurzbiografie eines Mannes. Sein Name: Adolf Otto Eichmann. "Der nationalsozialistische Staat entschied damals, dass Menschen, die eine bestimmte Abstammung, Religion oder politische Überzeugung hatten, nicht mehr leben durften. Ein derartiges Verbrechen muss bis zum Schluss verfolgt werden", sagt Jens Rommel. "Wir werden bis zum Tod des letzten NS-Verbrechers ermitteln." Gut, dass es ihn und seine Zentralstelle gibt.

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Ob auf Schulhöfen, in Büros oder im Internet: Überall werden dieser Tage diese kleinen Bildchen getauscht. Für Millionen große und kleine Fußballfans gehört das Sammeln der Kickerkleber zur WM-Vorbereitung einfach dazu. Für den Hersteller, den Panini Verlag, gehört demensprechend das Sammeln von Millionen bei jeder WM dazu. Allerdings nicht Fans, sondern Euro. Was in diesem Jahr dabei herumkommt? Ich tippe auf 45 Millionen. Und werde mir ab jetzt jeden Tütchenkauf zweimal überlegen.

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WAS LESEN?

Der SPIEGEL-ONLINE-Kollege Hasnain Kazim ist ein hervorragender Journalist. Schon seit Jahren aber wird er massiv angefeindet. Von Menschen, die nicht akzeptieren wollen, dass er als Deutscher mit indisch-pakistanischen Wurzeln selbstverständlich genauso zu unserem Land gehört wie jeder Deutsche mit deutschen Wurzeln. Die ihn beschimpfen, wenn er tut, was jeder Journalist tut: berichten, analysieren, kommentieren. Die ihm den Tod wünschen, wenn er mal augenzwinkernd, mal bissig über seine Erlebnisse schreibt. Jetzt hat Kazim ein Buch über diese Erlebnisse veröffentlicht: wie es ist, wenn man jeden Tag unzählige Hass-Mails bekommt – und was er deren Verfassern antwortet. "Post von Karlheinz" lautet der amüsante Titel. Was drinsteht, ist weniger amüsant.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Das kennen Sie vielleicht: Man macht einen Spaziergang, will ein paar Aufnahmen mit nach Hause bringen – und entdeckt, dass die Speicherkarte nicht in der Kamera steckt. Die liegt zu Hause. Aber das kennen Sie vielleicht nicht: Sie werden per stehender Funkverbindung aus der Ferne beraten. "Wenn ich auf den Knopf drücke, sehe ich 'Keine SD'. Brauche ich das? Und soll bei der Aufnahme nicht ein rotes Lämpchen leuchten?", fragt der Spaziergänger – und weit, weit entfernt in Houston machen sich Fachleute auf die Suche nach der Anleitung. Nützt aber wenig, denn bei einem Spaziergang im Weltraum huscht man nicht mal eben schnell wieder rein, um die vergessene Speicherkarte zu holen. Es kommt nicht oft vor, aber diesmal können auch wir Erdlinge uns im Nasa-Videostream ganz gut wiedererkennen.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und melde mich morgen aus Shenzhen.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: harms.chefredaktion@t-online.de

Mit Material von dpa.

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