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Urin: Wie aus Harn große Kunst entstand


Begehrtes Exkrement
Wie aus Urin große Kunst entstand


07.02.2019Lesedauer: 4 Min.
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Latrine: Urin war eine wichtige Ressource im Römischen Reich.Vergrößern des Bildes
Latrine: Urin war ein wichtige Ressource im Römischen Reich. (Quelle: Philip Corke/ullstein-bild)

Die peruanischen Paracas bemalten Gefäße mit einer Farbe aus Reptilienurin. Auch in anderen Kulturen war Harn ein wichtiger Rohstoff. Ein Kaiser machte gar viel Geld damit.

Die Paracas an der peruanischen Südküste liebten Farben. Im ersten Jahrhundert vor Christus webten sie meterlange Stoffbahnen aus Baumwolle, die sie kunstvoll mit knallbunten Fabelwesen aus Llama- oder Alpakawolle bestickten. So farbenfroh wie ihre Stoffe gestalteten die Paracas auch ihr Geschirr. Töpfe, Schüsseln und Kannen bemalten sie mit roten, blauen, weißen und grünen Mustern und Figuren.

Nun hat eine Gruppe von Forschern um die Konservatorin Dawn Kriss vom New Yorker Brooklyn Museum sich diese Farben einmal genauer angeschaut. Und dabei festgestellt, dass zwei hellblau-weiße Scherben ihren leuchtenden Farbton einer ganz besonderen Zutat verdanken: Reptilienurin.

Spuren von Urin

Eigentlich wollten die Wissenschaftler herausfinden, wie sich die Farben der Paracas im Laufe ihrer Geschichte veränderten und ob sie für die Farbstoffe Handel mit benachbarten Kulturen betrieben. Bei der Untersuchung der zwei Scherben aus Cahuachi aber wurden sie stutzig.

Die Analyse zeigte ihnen chemische Komponenten, die sonst weniger von Farbpigmenten, sondern nur von Urin bekannt sind. Tatsächlich erkannten sie rasch Parallelen zu einem ähnlichen Fall. Weiße Farbe mit einem vergleichbaren chemischen Spektrum wurde vor einigen Jahren in Malereien der afrikanischen Volksgruppe der Dogon entdeckt – und diese Farbe war mit Schlangenurin angemischt. Die Dogon leben heute im Osten von Mali.

Der Farbfund stammt von Felsmalereien im Dorf Songo – einem Ritualplatz. Während der Zeremonien bemalen die Dogon die Wände eines Felsüberhangs mit roter, schwarzer und weißer Farbe. Ethnologen beschreiben, wie dabei für die weiße Farbe der Urin von Vögeln, Eidechsen oder Schlangen angemischt wird, chemisch nachweisbar war in diesem Fall jedoch lediglich der Urin von Schlangen.

Tierquälerei für die Farbherstellung

Das American Museum of Natural History in New York City sprang schnell ein und stellte für Vergleichszwecke eine Probe von getrockneten Reptilienexkrementen zur Verfügung – in diesem Fall von einem Parsons Chamäleon (Calumma parsonii). Das lebt zwar normalerweise nur im Norden und Osten Madagaskars, seine Ausscheidungen waren in diesem Fall aber trotzdem hilfreich. Die Forscher konnten nun eindeutig bestätigen, dass auch die Paracas Reptilienexkremente auf ihren Farbpaletten anrührten.

Die Verwendung von Urin für Farben ist gar nicht so abwegig, wie der spontane erste Ekel, den wohl die meisten Menschen empfinden, vermuten lässt. Lange Zeit konnten auch zwei in Europa genutzte Farben nur mit Urin gewonnen werden: Indischgelb und Indigoblau. Für das Indischgelb fütterten indische Bauern ihre Kühe ausschließlich mit Mangoblättern (Mangifera indica) und gaben den Tieren bei dieser Diät nur wenig Wasser zu trinken.

Die Mangelernährung führte zu einem intensiv gelb gefärbten Urin. Beim Erhitzen der Flüssigkeit blieb leuchtend gelbes Magnesiumeuxanthat zurück, ein Magnesiumsalz der Euxanthinsäure. Das wurde zu großen Kugeln gepresst und unter dem Namen Piuri bis nach Europa verkauft. Pro Tag konnte eine Kuh etwa 50 Gramm Piuri auspinkeln. Als jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Tierschutz zunehmend auch in Indien zum Thema wurde, untersagte die indische Verwaltung diese Prozedur.

Auch als Reinigungsmittel begehrt

Auch das Indigoblau der letzte blaue Farbton, bevor die Skala ins Violette kippt – stammt ursprünglich aus Indien. Allerdings diente hier eine Pflanze als Lieferant, die Hülsenfrucht Indigofera. Sie wurde zu Brei zermahlen und anschließend mit menschlichem Urin und Pottasche vergoren. Seit dem 12. Jahrhundert gab es eine Indigo-Produktion auch hierzulande, wobei der Färberwaid die Indigofera ersetzte.

Besonders in Thüringen bestellten nun viele Landwirte ihre Felder mit dem Farbstofflieferanten. Allerdings brauchten die Färber rund 300 Kilo Pflanzenmaterial, um ein Kilo Indigo produzieren zu können, während die indische Indigofera die dreißigfache Farbstoffmenge lieferte. Mit der Blüte des Handels im 17. Jahrhundert wurde damit der Anbau von Färberwaid in Europa schlicht unrentabel.

Urin kann jedoch noch mehr als färben er ist auch ein hervorragendes Reinigungsmittel. Diese Qualität der Harnausscheidungen schätzten vor allem die Römer. An belebten Straßenecken standen amphorenartige Urinale für alle, die unterwegs ein menschliches Bedürfnis überkam. In regelmäßigen Abständen zogen Sklaven ihre Runden und entleerten die Gefäße. Ließ man den Inhalt lange genug stehen, entwickelte sich alkalisches Ammoniak, das sich hervorragend zur Ledergerbung oder zur Reinigung von Wäsche eignete.

"Geld stinkt nicht"

Diese öffentliche Urinsammlung war in Rom so üblich, dass Kaiser Vespasian auf die clevere Idee kam, eine Urinsteuer auf den Amphoreninhalt zu erheben. Sein Sohn Titus war entsetzt, als er davon hörte. Doch Vespasian ließ sich nicht beirren, er wedelte vor seinem Sprössling mit einer Münze unter dessen Nase herum und rief: "Pecunia non olet – Geld stinkt nicht!" In Paris heißen die öffentlichen Toiletten bis heute Vespasienne, und auch in Italien erleichtern die Menschen den Druck in der Blase in sogenannten Vespasiani.


Unter welchen Umständen die Paracas den Reptilienurin für ihre Farben sammelten ob sie dafür die Tiere in speziellen Käfigen hielten oder ob Sammler die Exkremente von Felsen kratzten –, wird wohl nicht mehr geklärt werden können. "Unser nächster Schritt ist jetzt erst mal, die Verbindung zwischen dem Urin und der bildlichen Darstellung von Reptilien auf den Gefäßen zu untersuchen", schreibt Dawn Kriss in einer E-Mail an t-online.de. "Schlangen sind darauf ziemlich häufig zu sehen, aber es gibt auch hoch stilisierte Bilder von Eidechsen."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Schriftverkehr mit dem New Yorker Brooklyn Museum
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