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Berlin: So werden geflohene Ukrainer am Hauptbahnhof empfangen


Tausende Ukraine-Flüchtlinge in Berlin
"Der Staat muss jetzt handeln"


04.03.2022Lesedauer: 5 Min.
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Viktoria Yudina nach ihrer Ankunft in Berlin: Sie ist mit ihrer 5-jährigen Tochter und ihrer Katze aus Kiew geflohen – ihr Mann ist noch in der umkämpften Stadt.Vergrößern des Bildes
Viktoria Yudina nach ihrer Ankunft in Berlin: Sie ist mit ihrer 5-jährigen Tochter und ihrer Katze aus Kiew geflohen – ihr Mann ist noch in der umkämpften Stadt. (Quelle: Katharina Weiß)

Zug um Zug kommen Flüchtende aus der Ukraine in Berlin an. Die Helfer am Hauptbahnhof rotieren – und bräuchten selbst mehr Unterstützung. Ein Ortsbesuch.

Voll ist es am Berliner Hauptbahnhof. Hier tummeln sich Menschenmassen. Es liegt eine unglaubliche Nervosität in der Luft. Nicht die übliche Großstadt-Hektik, sondern Überforderung angesichts des Grauens. Unter dem Deckmantel der Emsigkeit spürt man, dass jeder hier einen Kloß im Hals hat. Immer wieder sieht man weinende Kinder in der Ankunftshalle. Im Untergeschoss weisen verschiedene Pfeile und Plakate darauf hin, dass Ungewöhnliches vor sich geht. Denn Tausende Flüchtlinge sind aus der Ukraine nach Berlin geflohen. Vor Putins Armee, Gewalt, dem Krieg. Am Berliner Hauptbahnhof kommen sie an.

Eine von ihnen ist Viktoria Yudina. Sie ist mit ihrer 5-jährigen Tochter und ihrer Katze aus Kiew geflohen. Am Freitagmittag kam sie in Berlin an. "Mein Mann ist noch dort", sagt sie. Ihr Blick geht unter die Haut. "Die Männer dürfen nicht mehr raus. Und seine Mutter lebt noch in Kiew, eine alte Frau." Yudina versucht, sich nach Dortmund durchzuschlagen. Dort lebt ihre Mutter. Dort kann sie mit ihrer Tochter und der schwarz-weißen Katze unterkommen. Sie wirkt pragmatisch. Ihr Leben in der Ukraine musste sie hinter sich lassen.

Ukrainer in Berlin: "Meine Großeltern müssen das zum Glück nicht mehr miterleben"

In der Hauptstadt kennt sie niemanden, trotzdem ist sie nicht auf sich alleine gestellt. Viele Berlinerinnen und Berliner helfen freiwillig, unterstützen die Geflüchteten, wo sie nur können. So auch Simon Gordeev. Er ist seit drei Tagen am Hauptbahnhof. Auch er stammt aus Kiew, lebt aber bereits seit 28 Jahren in Deutschland.

Seine Hilfe ist deshalb besonders nötig, weil er Ukrainisch und Russisch spricht. Er kann helfen, zumindest die Sprachbarriere zu umgehen, die viele Ukrainer in der fremden Stadt erwartet. Bei Weitem nicht alle sprechen Englisch. Einen Großteil seiner Freizeit opfert er dafür. Enge Familie hat er keine mehr in der Ukraine. Darüber ist er froh. "Meine Großeltern sind zum Glück schon seit einigen Jahren tot und müssen das nicht mehr miterleben."

Vielen Geflüchteten konnte er schon helfen. Besonders im Gedächtnis geblieben ist ihm ein Ehepaar, dass ihm an seinem ersten Arbeitstag am Hauptbahnhof begegnet ist. Ihr Leben war von Flucht geprägt. "Der Ehemann hat mir in gebrochenem Russisch erzählt, dass er aus Aleppo in die Ukraine geflohen ist. Dort hat er seine Frau gefunden, sie haben sich auf der Krim niedergelassen. Von dort mussten sie 2014 nach Kiew flüchten." Nun mussten sie erneut vor dem Krieg fliehen und sind in Berlin gelandet.

Oft seien die Geflüchteten bei ihrer Ankunft sehr gestresst, erzählt er. "Man merkt Ihnen richtig an, wie nervös und unruhig sie sind. Oft wird es dann etwas besser, wenn wir Ihnen die richtigen Informationen zur Weiterreise geben konnten."

Auch Tara Brenninkmeyer hilft ehrenamtlich am Hauptbahnhof. Sie ist seit Tag zwei der Hilfsaktion dabei. Seit fünf Tagen ist sie jetzt durchgängig hier, wie sie sagt. Weil sie mehr Erfahrung hat als die meisten anderen, hat Tara die Rolle der Organisatorin angenommen. Die gebürtige US-Amerikanerin möchte vor allem eines: helfen. "Nur zu Hause vor dem Fernseher zu sitzen, ist unerträglich für mich."

Obwohl schon viel von den freiwilligen Helfern auf die Beine gestellt wurde, gibt es noch Verbesserungspotenzial. "Es gibt noch viel zu organisieren", erklärt sie. Dennoch ist sie guter Dinge. "Die Berlinerinnen und Berliner haben sehr schnell begriffen, dass sie handeln müssen." Auch der Senat solle sich stärker einbringen. "Bis dahin wollen wir eine Brücke sein, um die Ankommenden nicht sich selbst zu überlassen."

Von der Solidarität am Bahnhof ist sie schwer gerührt. "Was ich in den letzten Tagen an Hilfsbereitschaft von der Berliner Bevölkerung gesehen habe, berührt mich tief: So viele Helferinnen und Helfer, die hart arbeiten und extrem großzügig und liebevoll im Umgang mit den Ankommenden sind." Während sie das sagt, hat sie Tränen in den Augen.

"Es ist unfassbar, welche Geschichten ein Mensch in 30 Minuten erzählen kann"

Brenninkmeyer setzt sich auch für eine Aktion ein, die ihr besonders am Herzen liegt. "Wir sammeln Kuscheltiere von Berliner Kindern für ukrainische Kinder. Nach langer Reise kommen sie oft vollkommen erschöpft und verwirrt hier an. Und wir können diesen traurigen Kinderaugen dann oft mit einem geliebten Kuscheltier ein erstes Lächeln in Berlin auf die Lippen zaubern."

Auch ihr Mann opfert seine Freizeit für die Vertriebenen. Er fährt den ganzen Tag mit dem Auto geflüchtete Familien vom Hauptbahnhof zu Privathaushalten oder offiziellen Auffangstellen.

Wenn neue Züge voller Geflüchteter eintreffen, wird es chaotisch. "Man versucht, den Kindern, die oft weinend ankommen, erst mal ein Kuscheltier in die Hand zu drücken, um diesen ersten Moment des Ankommens etwas abzufedern", so Brenninkmeyer. "Die Ankommenden sind unter großer Anspannung. Viele müssen weiterreisen, wissen nicht, wohin sie dafür laufen müssen."

Ein weiterer Helfer vor Ort ist Daniel Heinz. Als Übersetzer unterstützt er Geflüchtete bei ihrer Weiterreise, vor allem bei der Kommunikation. Er besorgt Zugtickets und begleitet die Familien bis zum Gleis. "Es ist unfassbar, was für Geschichten ein Mensch in 30 Minuten erzählen kann. Das hat mich sehr betroffen gemacht, aber auch in meinem Aktivismus gestärkt." Heinz hat ukrainische Wurzeln, auch seine Familiengeschichte ist von Umsiedlung geprägt. "Meine Großeltern sind in der ukrainischen Hafenstadt Odessa geboren und wurden von Stalin nach Sibirien deportiert", erklärt er im Interview. "In den 90ern sind meine Eltern als Spätaussiedler in die BRD emigriert."

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Geflüchtete in Berlin: "Der Staat muss jetzt handeln"

Besonders bemängelt er die fehlenden behördlichen Strukturen am Berliner Hauptbahnhof. "Alle Arbeitsgruppen und Angebote werden von Privatpersonen und Aktivistinnen und Aktivisten der ukrainischen Widerstandsbewegung in der Diaspora organisiert. Aktuell fühlt sich weder die Deutsche Bahn noch die Bundespolizei verantwortlich und sind wenig kooperativ. Wir stemmen die Ankunft der Personen aus der Ukraine dank der vielen zivilen Freiwilligen."

Der Hintergrund der Helfer ist sehr verschieden, wie er sagt. "Es sind Personen unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen. Einige reisen sogar aus anderen deutschen Städten an." Gesondert hervorheben möchte er den Zusammenhalt von Migranten aus Osteuropa, besonders aber auch von Menschen mit Wurzeln in der Ukraine. "Es ist unfassbar, welche Kraft insbesondere Menschen aufbringen, die selber Familie in der Ukraine haben."

Ohne die Freiwilligen stünden die Geflüchteten in Berlin allerdings beinahe ohne Hilfe da. Das macht Heinz sehr wütend, wie er sagt. "Wir erfahren aktuell eine immense Solidarität in der Zivilgesellschaft, aber auf einer strukturellen und institutionellen Ebene hatten und haben Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa und dem postsowjetischen Raum in der BRD nach wie vor Probleme und unnötige Hürden", so Heinz. "Wir brauchen jetzt dringend ein unbürokratisches und zugängliches Verfahren für Sozialhilfen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass auch nächste Woche noch so viele zivilen Helferinnen und Helfer am Start sind. Der Staat muss jetzt handeln."

Bis es so weit ist, tut Heinz, was er kann. Er hat eine Flüchtlingsfamilie aus der Ukraine bei sich aufgenommen. "Ich habe jetzt die Mutter und Schwester eines Freundes bei mir. Sie haben die Ausreise geschafft." Für die Familie hat er auch eine Spendenkampagne eingerichtet. Mit dem gesammelten Geld sollen sie es leichter haben bei ihrem Neustart in Deutschland. Bis Sonntag sollen die Geflüchteten bei ihm bleiben, dann fahren sie nach Hamburg. Dort konnte Heinz ihnen eine Wohnung organisieren. Ohne Hilfen vom Staat. Wie es für sie weitergeht und wie sie sich finanzieren sollen, wissen sie nicht. "Die Bundesregierung muss ihr Versprechen nun einlösen und schnell handeln", fordert der freiwillige Helfer.

Verwendete Quellen
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