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Reichsbürger-Szene: "Bayerische Staatsregierung hat keinen Überblick"


"Reichsbürger"-Szene
"Bayerische Staatsregierung hat keinen Überblick"


16.12.2022Lesedauer: 4 Min.
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Bayerns Innenminister Joachim HerrmannVergrößern des Bildes
Innenminister Joachim Herrmann (CSU), hier bei der Innenministerkonferenz, kann keine aktuellen Zahlen zu mutmaßlichen "Reichsbürgern" in Bayerns Landkreisen nennen. (Quelle: Matthias Balk/dpa/Archivbild/dpa)

Die bayerischen Behörden behalten die "Reichsbürger"-Szene nicht vollständig im Auge. Denn es werden nicht alle wichtigen Daten erhoben – obwohl es seit 2015 einen sehr großen Zulauf gibt.

Ermittlungen, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen: Die "Reichsbürger"-Razzia beschäftigt weiter die deutschen Behörden. Jetzt kommen neue Erkenntnisse ans Licht: Das Innenministerium hat nach eigenen Angaben keine Kenntnis davon, in welchen Regionen sich gerade wie viele "Reichsbürger" ansiedeln oder rekrutiert werden. Das haben Recherchen von t-online ergeben. Und das, obwohl das Innenministerium seit 2017 von einem Zuwachs an "Reichsbürgern" in zahlreichen bayerischen Landkreisen Kenntnis hatte.

Wieso "Reichsbürger"-Ballungszentren entstehen? Unter anderem durch "Reichsbürger"-Veranstaltungen, die in vielen Landkreisen Bayerns stattfinden. Beworben werden die Events auf einschlägigen Internetseiten. Bei den Treffen versuchen oft Rechtsextremisten als Referenten, neue Mitglieder zu rekrutieren. Einzelne Veranstaltungen besuchen meist zwischen 20 und 60 Bürger.

"Reichsbürger" missbrauchen Verwaltungsakt

Nach diesen Veranstaltungen gewinnt die "Reichsbürger"-Szene oft signifikant an Zulauf in den jeweiligen Landkreisen. Wie man den Anstieg misst? Ein Indiz: Wie viele Personen den sogenannten "Gelben Schein" beantragten. Nach dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913, das bis heute gültig ist, können Bürger mit diesem Schein amtlich gültig nachweisen, seit wie vielen Generationen die Antragsteller "deutscher Abstammung" sind. Dieser Schein, auch Staatsangehörigkeitsausweis genannt, kann in den Landratsämtern beantragt werden. Dabei handelt es sich um einen normalen Verwaltungsakt, der von den Reichsbürgern aber missbraucht wird – in Anlehnung an den "Ariernachweis" der 1930er-Jahre.

Die Antragsteller müssen dabei selbst durch Geburts- und Heiratsurkunden sowie Familienbücher nachweisen, wie viele deutsche Vorfahren sie besitzen. Viele Antragsteller gehen dabei zurück bis zum Königreich Preußen und Bayern. Das Dokument ist zu einer Art "Mitgliedsausweis" in der "Reichsbürger"-Szene geworden.

Viele "Reichsbürger" besitzen keinen Personalausweis oder Reisepass. Sie leugnen die Existenz des deutschen Staates. Für "Reichsbürger" ist der "Gelbe Schein" damit ihr einziges Identifikationsmittel. Wer eine lange Ahnenreihe deutscher Abstammung vorweisen kann, bekommt in der Szene mithilfe des Scheins meist Anerkennung.

Bei der Beantragung dieses Scheins geraten die Antragssteller allerdings in einigen Fällen ins Visier der Sicherheitsbehörden. In manchen Fällen werden Landratsämter hellhörig. Sie melden die Personalien im Zweifelsfall an den Staatsschutz oder an den Verfassungsschutz. Die Risikoabschätzung liegt alleine in der Hand von Angestellten des Landratsamts.

Rechtsterrorismus-Experte Florian Ritter (SPD) stellte im Jahr 2017 nach Beginn der Flüchtlingskrise eine Anfrage an die bayerische Staatsregierung, mit der er herausfinden wollte, wie oft der "Gelbe Schein" in Bayern beantragt wurde. Der Hintergrund: ein Seminar eines mutmaßlichen "Reichsbürgers" in Bolsterlang. In der Gemeinde im Landkreis Oberallgäu mit rund 1.000 Einwohnern sind die Antragszahlen für den vermeintlichen "Reichsbürger"-Ausweis daraufhin extrem in die Höhe geschossen – vom Jahr 2015 auf 2016 um 154 Prozent. In konkreten Zahlen: von 41 Anträgen auf 104. Alleine in diesem Landkreis.

Extremer Anstieg an Antragsstellern

Durch solche Statistiken könnten Behörden "Reichsbürger"-Ballungszentren lokalisieren und dadurch weitere Rekrutierungen beobachten. Doch diese Zahlen werden in Bayern nicht statistisch erhoben. Im Fall Bolsterlang erfuhren die Sicherheitsbehörden vom deutlichen Anstieg erst aus der Presse. Das bestätigt das Innenministerium selbst. Es liegen zwar veraltete Zahlen für die Jahre 2015 und 2016 vor – aber nur durch die Anfrage von Florian Ritter (SPD). Um diese Anfrage zu beantworten, musste das Innenministerium alle Polizeipräsidien in Bayern anweisen, die Zahl ihrer Verdachtsmeldungen zu übermitteln. Ein Prozess, der ein halbes Jahr in Anspruch nahm. Eine regelmäßige, zentrale Datenerhebung findet hingegen nicht statt.

Aus der Anfrage des SPD-Abgeordneten ging auch ein eindeutiger Anstieg hinsichtlich von "Reichsbürger"-Verdachtsfällen in anderen Landkreisen hervor: In Freyung-Grafenau um 650 Prozent, in Rottal-Inn um 193 Prozent, in Regen um 190 Prozent und im Landkreis Miesbach um 118 Prozent – jeweils im Vergleich zum Vorjahr. Die Dunkelziffer dürfte noch höher sein. Denn gezählt wurden nur die Verdachtsmeldungen, die Mitarbeiter von Landratsämtern nach ihrer persönlichen Einschätzung machten. Wenn sie nach ihrer eigenen Risikoanalyse einen Bürger als unverdächtig einstuften, wurden die Polizeipräsidien gar nicht aufmerksam.

Weiterhin keine aktuellen Zahlen

Doch werden die Zahlen inzwischen erhoben und dokumentiert? Das wollte Martin Hagen, Vorsitzender der FDP-Fraktion in Bayern, herausfinden. In einer aktuellen Anfrage im Plenum des Bayerischen Landtags an Innenminister Joachim Herrmann (CSU) wollte er wissen, ob inzwischen Zahlen protokolliert werden – alldieweil in ganz Deutschland "Reichsbürger"-Razzien stattgefunden hatten. Die Antwort: Auch jetzt wird noch immer nichts dokumentiert. Um die aktuellen Zahlen herauszufinden, müssten die Mitarbeiter in allen Landratsämtern analog alle Akten der Antragsteller heraussuchen und sie händisch zählen. Dieser "Verwaltungsaufwand" sei zu hoch. Nicht von allen Besitzern des "Gelben Scheins" geht automatisch eine Gefahr aus – gefährlich wird es allerdings, wenn sie beispielsweise außerdem einen Waffenschein besitzen.

"Obwohl die Gefahr, die von diesem Milieu ausgeht, lange bekannt ist, hat die Staatsregierung über die Zahl der Antragstellungen keinen Überblick", mahnt Martin Hagen (FDP). "Wir erwarten, dass die Antragstellungen künftig statistisch erfasst werden. Außerdem müssen die Behörden vor Ort über die Hintergründe aufgeklärt und für die Gefahr durch 'Reichsbürger' sensibilisiert werden", sagt der Landtagsabgeordnete exklusiv im Gespräch mit t-online. Der 41-Jährige aus Oberbayern meint: "Die Staatsregierung scheint bei den 'Reichsbürgern' eine Sehschwäche zu haben."

Miesbacher Landratskandidat beantragte "Gelben Schein"

Einer von denen, die den "Gelben Schein" beantragten, ist Martin Beilhack aus dem Landkreis Miesbach. 2019 kandidierte er als Landrat für die Bayernpartei. Zuvor hatte er rund 20 Mal den Staatsangehörigkeitsausweis beantragt – mit dem Hinweis, er sei aus dem "Königreich Bayern". Die Anträge wurden abgelehnt. Der Landratskandidat besaß einen Waffenschein, den ihm die Behörden nach seinen Anträgen allerdings entzogen. Beilhack klagte vor Gericht und verlor. Er konnte vor dem Richter nicht zweifelsfrei nachweisen, ausreichend große Distanz zur "Reichsbürger"-Szene zu haben.

Ob der kürzlich verhaftete berühmte Münchner Koch Frank Heppner, der zugleich Schwiegervater in spe von Ex-Bayern-München-Star David Alaba ist, den "Gelben Schein" beantragt hat, ist unklar. Der Koch kommt, so wie Martin Beilhack, aus dem Landkreis Miesbach. Das dortige Landratsamt bezog auf unsere Fragen hin keine Stellung.

Verwendete Quellen
  • Anfrage des Abgeordneten Florian Ritter (SPD)
  • Anfrage des Abgeordneten Martin Hagen (FDP)
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