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Tickende Zeitbomben: Terroristen – unter dem Radar der Behörden


Gedenkraum für Opfer von OEZ-Anschlag in München
Terroristen – unter dem Radar der Behörden


21.01.2023Lesedauer: 6 Min.
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Beim Anschlag am Olympiaeinkaufszentrum herrschte eine Ausnahmezustand (Archivbild): Jetzt soll ein Gedenkraum am Marienplatz eröffnet werden.Vergrößern des Bildes
Beim Anschlag am Olympiaeinkaufszentrum in München 2016 herrschte Ausnahmezustand (Archivbild): Im Fall OEZ kommen immer wieder neue Erkenntnisse ans Licht. (Quelle: imago stock&people)

David Sonboly ermordete 2016 in München neun Menschen. Ganz aufgeklärt ist der Fall bis heute noch nicht. Jetzt eröffnet die Stadt einen Gedenkraum.

Sie waren tickende Zeitbomben: Drei Jugendliche, zwischen 15 und 21 Jahre alt. 2016 und 2017 planten sie Terroranschläge und Amokläufe in Deutschland und den USA. Zwei von ihnen töteten insgesamt elf Menschen – darunter neun beim Attentat am Olympiaeinkaufszentrum (OEZ) in München.

Dafür beschafften sie sich Pistolen, bauten ihren eigenen Sprengstoff – inspiriert von rechtsextremen und dem Amokmilieu nahestehende Gruppen auf vermeintlich harmlosen Kommunikations- und Spieleplattformen wie Steam, Discord und Telegram. Die ARD-Doku "Liken. Hassen. Töten." gab vergangenes Jahr verstörende Einblicke in den Radikalisierungsprozess der jungen Terroristen.

Hinter Terroristen und Amokläufern steckt Netzwerk

Dabei schafften sie etwas Außergewöhnliches: Jahrelang blieben William Atchison, Terrorist aus Aztec in den USA, Paul (Name geändert), Amoklauf-Planer aus Ludwigsburg und David Sonboly, OEZ-Attentäter aus München, unter dem Radar der Behörden. Dass sich hinter den radikalisierten Jugendlichen die Untiefen eines neuartigen Terrornetzwerks verbergen, war den Ermittlern jahrelang unklar.

Seit nunmehr fast sieben Jahren kämpfen neun Opfer-Familien inzwischen für die vollständige Aufklärung des OEZ-Anschlags, bei dem David Sonboly ausschließlich junge Menschen mit Migrationshintergrund erschoss. Jahrelang sahen die Behörden den Anschlag als unpolitischen Amoklauf und vernachlässigten eindeutige Indizien, die für ein rechtsextremes Attentat sprachen. Jetzt geht die Stadt München einen Schritt auf die Hinterbliebenen zu.

Gedenkraum für Opfer des OEZ-Anschlags

Mit der Initiative "München erinnern!" eröffnet am Sonntag, 22. Januar, im Rathaus ein Gedenkort für die Opfer des OEZ-Anschlags im politischen Herzen der Stadt. Die Angehörigen der Opfer vom 22. Juli 2016 und ihre Unterstützer können diesen Raum nutzen und selbst gestalten. Bis Ende August 2023 steht ihnen der Raum unentgeltlich zur Verfügung. Dann soll ein neuer Gedenkort gesucht werden. Damit unterstütze die Stadt das "Gedenken an das rechtsextreme Attentat", wie aus einer Pressemitteilung hervorgeht. Unterstützung, die allerdings sehr spät kommt, wie viele Angehörige denken.

Ein Rückblick: Nach dem OEZ-Anschlag vor sieben Jahren waren die Ermittler bemüht, schnell die Motivation des Attentäters herauszufinden. Alexander Horn, Leiter der operativen Fallanalyse (OFA) in München, kam dabei nach wenigen Tagen zu dem vorläufigen Ergebnis, dass es sich bei dem rechtsextremen Anschlag, um einen unpolitischen Amoklauf handele – das belegen die Ermittlungsakten.

Trotz eigentlich klar anderslautender Indizien: David Sonboly führte das Attentat im Stadtteil Moosach am fünften Jahrestag der Anschläge von Anders Behring Breivik aus – der Massenmörder und bekennende Nationalsozialist, der 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen tötete. Von ihm ließ sich der 18-jährige Münchner beeinflussen. Er sei zudem "stolz" darauf gewesen, am selben Tag wie Adolf Hitler Geburtstag zu haben. Informationen des "Münchner Merkur" zufolge sympathisierte der junge Mann mit dem Parteiprogramm der AfD.

In seinem Manifest, das öffentlich wurde, nachdem er sich kurz nach dem Anschlag suizidierte, schrieb er von "Kakerlaken" und "Untermenschen" und einem "Virus", das sich in Moosach – einem Stadtteil, in dem jeder vierte Einwohner einen Migrationshintergrund hat – verbreitete.

Behörden erkannten Indizien spät

Wie sich erst 2019, drei Jahre nach dem Anschlag, herausstellte: Der Profiler Alexander Horn lag mit seiner Ersteinschätzung falsch. Genauso wie die Staatsanwaltschaft München I.

Im Gerichtsprozess vor sechs Jahren gegen den Waffenhändler, der dem Münchner Attentäter seine Tatwaffe, eine Glock 17 in Marburg, verkaufte, sprachen die Staatsanwälte vor dem Oberlandesgericht noch von keiner rechtsextremen Tat. Obwohl selbst der Waffenverkäufer vor dem Prozess mit rechten Parolen aufgefallen war – wie während des Gerichtsprozesses eingespielte Videos beweisen. Der Behördenleiter Hans Kornprobst warnte sogar damals im Gespräch mit dem "Bayerischen Rundfunk" davor, den OEZ-Amoklauf ausschließlich als rechte Tat einzuordnen. Warum, ist unklar.

Fakt ist: Fehleinschätzungen wie diese sind den Münchner Behörden bereits des Öfteren unterlaufen. Nachdem Oktoberfestanschlag 1980 führte die Spur erst spät zum Täter Gundolf Köhler, der zeitweise der rechtsextremen Wehrsportgruppe Hoffmann angehörte. Beim Prozess um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) richteten die Ermittler die "Soko Bosporus" und "Soko Halbmond" ein. Dadurch ermittelten sie im falschen Milieu. Sind das Parallelen zum OEZ-Anschlag?

Vernetzungen in rechtsextreme Terrorszene

Fest steht: Die Behörden ermittelten wohl vorerst nicht gründlich genug. Im Fall OEZ stützten sie sich jahrelang auf eine Einzeltäterthese. David Sonboly sei ein Mobbing-Opfer gewesen, habe sich langsam sein "Weltbild" aufgebaut und dann auf Menschen geschossen, die wie seine ehemaligen Mobber aussahen. Hätten die Behörden schon damals im Internet gründlicher ermittelt, wäre ihnen aufgefallen: Die Beweise für eine rechte Motivlage sind gewichtiger. Erst 2019 bringt das die Ermittler dazu, ihre Einschätzung in einem Abschlussbericht zu korrigieren.

In diesem Bericht fehlen allerdings noch Hintergründe, die Journalisten und Extremismus-Experten, wie unter anderem Florian Hartleb, in den vergangenen Jahren an die Oberfläche brachten: David Sonboly war auf der Spieleplattform Steam unterwegs. 4.000 Stunden spielte er auf dieser Plattform. Dort stand der Münchner unter anderem in Kontakt mit einem damals 15-jährigen Ludwigsburger, der 2016 plante, seine Schule mit selbstgebautem Sprengstoff in die Luft zu sprengen. Bei dem Jugendlichen wurden auch Stichwaffen gefunden.

Ein anonymer Hinweisgeber, der die Radikalisierung vom Ludwigsburger Paul (Name geändert) beobachtete, machte die Polizei auf den geplanten Amoklauf aufmerksam. Paul wurde daraufhin kurz vor seinem geplanten Amoklauf verhaftet und in eine Psychiatrie eingewiesen.

Behörden kommunizierten nicht miteinander

Ebenfalls vernetzt war Sonboly mit dem US-Amerikaner William Atchison aus den USA. Der damals 21-Jährige ließ sich von nationalsozialistischer Propaganda beeinflussen, kaufte sich eine Glock 19 und ermordete ein Jahr nach dem Anschlag am OEZ zwei Schüler an seiner High-School in New Mexico. Hätten die Geheimdienste aus Deutschland mit dem Federal Bureau of Investigation (FBI) kommuniziert, wäre wohl früher bekannt geworden, dass Atchison mit dem Münchner Schützen in Kontakt stand. Der Anschlag hätte demnach sogar verhindert werden können.

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Warum die Behörden nicht alles kommunizierten? Das ist unklar, doch die Lage war für sie komplex. Denn Paul, Sonboly und Atchison waren nicht nur zu dritt vernetzt. Sondern mit hunderten anderen Online-Chatpartnern aus dem Anschlags- und Amokmilieu. In den Online-Gruppen, in denen sie ihre extremistischen Weltansichten teilten, verschwimmen die Gedanken von Suizid, Gewaltbereitschaft und rechtsextremen Terror.

Unzensierte Anschlagsvideos von Stephan Balliet aus Halle und von Brenton Tarrant aus dem neuseeländischen Christchurch – beides Anschläge mit einem ähnlich, rassistischen Muster – werden dort noch heute geteilt. Genauso auch Nazi-Propaganda aus den 1930er Jahren, oder Bücher wie "Siege" vom amerikanischen Neonazi James Mason oder "The Turner Diaries" vom 2002 verstorbenen William Luther Pierce, einem Anhänger der George Lincoln Rockwells American Nazi Party.

Einer, der ebenfalls in Kontakt mit Atchison und Sonboly stand und im Internet Propaganda verbreitete: ein Nutzer mit dem Namen "Ivan der Judenjäger", der sich besonders über die Anschläge in München "freute". Hinter diesem Username verbirgt sich ein spanischer Student, aus der Nähe von Barcelona, der noch bis heute Terror-Botschaften mit Bezug zum Nationalsozialismus teilt.

Terrororganisationen rekrutieren Jugendliche

Von diesen Gruppen auf Steam, die sich zurzeit mehr und mehr auf Telegram verlagern, gibt es Querverbindungen zu Terrororganisationen, wie der Atomwaffendivision (AWD) und Feuerkriegdivision (FKD). Diese zwei Organisationen sind online vernetzt und zählen weltweit mehrere hundert Mitglieder – in Deutschland zwischen 24 und 36. Ihr Ziel ist es einen Bürgerkrieg auszulösen, in dem nur die "weiße Rasse" gewinnt. Drei Mitglieder töteten seit 2017 insgesamt fünf Menschen. Ein 22-jähriger Terrorist aus dem bayerischen Cham, der Mitglied der FKD war, wurde 2020 verhaftetet und anschließend zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt.

In den noch heute aktiven Telegram-Gruppen werden oft auch Darknet-Plattformen beworben, auf denen Verkäufer Schuss- und Kriegswaffen mit scharfer Munition verkaufen. Auch Sprengstoff gibt es dort illegal zu kaufen – mit Anleitungen, wie man eine Bombe baut.

13-jährige Kinder planten Amoklauf an Schule in Bayern

Durch diesen Radikalisierungsprozess werden Jugendliche in diesen Gruppen oft zu tickenden Zeitbomben. Die Gefahr, die von ihnen ausgeht, ist nicht zu unterschätzen. Ein 13-jähriger aus Estland rückte ebenso vor drei Jahren in den Fokus der Behörden, als er unter dem Username "Kriegsherr" Teile eines Terrornetzwerkes als Gruppen-Administrator leitete.

Wie früh die Radikalisierung von Jugendlichen startet, beweist ein Fall aus dieser Woche: Durch die Polizeiermittlungen wurde am Dienstag bekannt, dass zwei 13-jährige Kinder im bayerischen Neustadt an der Waldnaab eine "intensive" Recherche zu Amokläufen und anderen Tätern betrieben. Die Polizisten wurden darauf aufmerksam und fanden bei einer Durchsuchung Sprengstoff und Waffen in den Elternhäusern der Kinder.
(Mehr dazu lesen Sie hier)

Angloamerikanische Behörden sind spezialisiert

Was unter dem Strich bleibt: Eine neue Form des Terrorismus braucht eine Gesellschaft, die bereit ist, genau hinzusehen. Die Zeit, in der sich Terroristen unter dem Radar versteckt in Hinterzimmern radikalisierten, ist vorbei. Heutzutage findet Radikalisierung oft online statt. Durch den stundenlangen Kontakt im Internet stehen sie sich besonders nahe und radikalisieren sich online gegenseitig.

Hierbei kann Deutschland von der Expertise der angloamerikanischen Sicherheitsbehörden lernen, wie unter anderem Rechtsterrorismusexpertin Julia Ebner aus Wien, vorschlägt. Diese seien im Verstehen von Internet-Subkulturen – insbesondere der Sprache von Extremisten mit vielen Insiderbegriffen – weit voraus.

Auch der Gedenkraum im Rathaus, im politischen Herzen von München, ist ein anderer, aber dennoch großer Schritt in die richtige Richtung, zumindest für die Angehörigen der Verstorbenen. Vier Jahre, von 2016 bis 2020, mussten die Hinterbliebenen der Getöteten bereits für eine neue Inschrift auf dem OEZ-Denkmal kämpfen. Über diesen Zeitraum stand dort "Amoklauf". Nach massivem gesellschaftlichem und politischem Druck, unter anderem von der Opposition im Landtag, änderte man die Inschrift zu "rassistischem Attentat". Erst seitdem sprechen das Landeskriminalamt und die bayerische Staatsregierung von einer politisch-motivierten Tat.

Verwendete Quellen
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