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WM 2022: Boykottdiskussionen – Tanzt Deutschland aus der Reihe?


Umstrittene WM in Katar
Tanzt nur Deutschland aus der Reihe?

  • Noah Platschko
Von Benjamin Zurmühl und Noah Platschko, Doha

Aktualisiert am 27.11.2022Lesedauer: 7 Min.
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Deutsche Fans bei der WM in Katar: Nur wenige Anhänger der DFB-Elf sind in den Golfstaat gereist.Vergrößern des Bildes
Deutsche Fans bei der WM in Katar: Nur wenige Anhänger der DFB-Elf sind in den Golfstaat gereist. (Quelle: IMAGO/Matthias Koch)

Bisher steht bei der WM in Katar das Sportliche eher im Hintergrund. Zumindest in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Und im Rest der Welt?

Wer sich in diesen Tagen in Doha bewegt, könnte meinen, es sei eine ganz normale Weltmeisterschaft. In der U-Bahn unterhalten sich zwei US-amerikanische Fußballfans mit einem Ägypter darüber, wer außer Brasilien Chancen auf den WM-Titel hat. Argentinier färben vor ihren Spielen den Spielort himmelblau-weiß und auch mexikanische Sombreros gehören in der Sonne Katars inzwischen fest zum Stadtbild.

Dass es aber eben keine normale WM ist, zeigen die vergangenen Tage, Wochen, Monate und Jahre. Tote Gastarbeiter, mangelhafte Reformen, Diskussionen um Kapitänsbinden und Auftritte von Fifa-Präsident Gianni Infantino beherrschten und beherrschen die Themenlage in Deutschland.

Vor der WM riefen die aktiven Fanszenen fast aller Bundesligisten dazu auf, das Turnier in Katar zu boykottieren. Fredi Bobic, Geschäftsführer von Hertha BSC, nannte die Weltmeisterschaft "unsäglich", Greuther Fürths Trainer Alexander Zorniger bezeichnete sie als "Schwachsinn". Es gibt noch viele weitere Zitate dieser Art. Der deutsche Gegenwind für den größten Wettbewerb des Fußballs ist ein Orkan.

Die Fans und Vertreter der Vereine wollen bei der Fifa mit ihrer Kritik für ein Umdenken sorgen. Sie hoffen, dass die Boykott-Diskussion dazu führt, dass bei den WM-Vergaben der Zukunft neue Regeln gelten. Das Problem ist jedoch, dass der deutsche Orkan mehr oder weniger allein dasteht. t-online hat mit internationalen Journalisten und Fans gesprochen, TV-Quoten und Google-Daten analysiert. Die bittere Wahrheit: Der WM-Boykott wird immer mehr zu einem deutschen Boykott.

Wie sich die Boykott-Diskussion entwickelte

Vergeben wurde die WM nach Katar im Jahr 2010. Es gab damals einen kurzen Aufschrei, der aber schnell in ein Raunen mündete. Von einem Boykott war noch wenig zu hören.

Als die Fifa im März 2015 das Turnier vom Sommer in den Winter schob, folgten Kopfschütteln und Häme. Der Boykott-Begriff kam auf. Doch wirklich beschleunigt wurde das Thema erst sechs Jahre später.

Im Februar 2021 veröffentlichte die britische Zeitung "Guardian" ihren berühmten Bericht mit den 6.500 toten Gastarbeitern in Katar seit WM-Vergabe. Zudem schockierten Videoaufnahmen der ARD aus den Arbeitercamps die deutschen TV-Zuschauer. Die Boykott-Diskussion hierzulande nahm an Fahrt auf. Einige Fans hofften darauf, dass die deutsche Mannschaft nicht nach Katar reisen würde. Parallel kündigten sie selbst einen Boykott an. Das hielt bis zum WM-Start an, auch wenn eine Absage der DFB-Elf früh als unrealistisch angesehen wurde.

Was sagen andere europäische Länder?

In deutschen Nachbarländern war die Debatte weitaus kühler. David Fioux von der französischen Sportzeitung "L'Équipe" berichtet: "Eine Diskussion gab es nicht wirklich. Mehrere Prominente haben angekündigt, dass sie sich die WM nicht ansehen werden. Eric Cantona zum Beispiel. Einige Schauspieler taten das Gleiche und auch politische Vertreter der Linken. Die Welt des Fußballs engagierte sich jedoch überhaupt nicht. Noël Le Graët, der Präsident des französischen Fußballverbands, wollte nie etwas von einem Boykott hören. Nationaltrainer Didier Deschamps, sagte zudem, es sei nicht die Aufgabe von Sportlern, Politik zu machen."

Auch in Polen war die Ausgangslage ähnlich, berichtet Jacek Stańczyk von "Przeglad Sportowy Onet": "Es gab keine Diskussion über einen Boykott." Und das trotz ausführlicher Berichterstattung zu den verschiedenen Kritikpunkten an dieser WM. "Natürlich haben wir Medien über die Menschenrechte, die Situation der Arbeitnehmer, über andere Kontroversen, über Verbote und Haftbefehle in Katar, informiert. Wir müssen das tun, wir müssen alle Aspekte eines solchen Turniers zeigen", so Stańczyk.

In Spanien gab es zumindest eine Diskussion, sagt Jordi Delgado von der spanischen Zeitschrift "Sport". Aber: "Es sind nur einige Personen, die mit all dem nicht einverstanden sind. Es gibt keinen massiven Boykott."

Ein Blick auf die TV-Quoten

Tatsächlich zeigen auch die Google-Daten, dass das Suchinteresse in Spanien an dem Wort "Boycott" moderat war. Im Verhältnis war das Interesse in den vergangenen 30 Tagen nirgendwo so hoch wie in Deutschland. In England oder den USA war es beispielsweise zehnmal geringer. Ähnlich ist die Lage in den meisten südamerikanischen Ländern. Ein Boykott spielte bei Google dort ebenfalls kaum eine Rolle.

Ein weiteres Messinstrument für Interesse sind auch die TV-Quoten. Diese sind bei der WM in Deutschland vergleichsweise eingebrochen, auch wenn aufgrund der teilweise frühen Anstoßzeiten die Streamingzahlen mit eingerechnet werden sollten. Das deutsche Spiel gegen Japan am Mittwoch (Anstoß um 14 Uhr) sahen im TV durchschnittlich 9,23 Millionen Menschen. Die ARD gab dem Nachrichtenportal "Watson" zudem die Information, dass sie von rund sieben Millionen Abrufen via Online-Livestream ausgeht. Es kann also von knapp 16 Millionen TV-Zuschauern ausgegangen werden. Die Magenta-Zuschauer sind da noch nicht eingerechnet. Diese Zahl ist der Öffentlichkeit nicht bekannt.

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Auch wenn 16 Millionen Zuschauer nach viel klingen, sind sie es im Verhältnis nicht. Das WM-Länderspiel gegen Serbien 2010 in Südafrika (Anstoß 13.30 Uhr) sahen 22 Millionen Menschen am Fernseher. Nicht inbegriffen sind dabei die Besucher vom Public Viewing. Die tatsächliche Zahl war also weitaus höher. Der Boykott einiger Fußballfans ist spürbar, sagt auch ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky: "Das können verschiedene sein – klar ist für mich die Erkenntnis, dass diese WM in der Form, zu dieser unüblichen Jahreszeit und mit den vielen anderen Begleitumständen in Deutschland einfach nicht so gut angenommen wird."

Ein Blick ins Ausland verrät: Damit steht Deutschland mehr oder weniger allein da. In den USA wurde das Eröffnungsspiel zwischen Katar und Ecuador beim Sender Fox von 3,5 Millionen Menschen gesehen. Die Eröffnung vor vier Jahren in Russland von 1,7 Millionen. In Frankreich schalteten für Katar-Ecuador 5,05 Millionen Menschen den Sender TF1 ein. Zum Vergleich: Russland gegen Saudi-Arabien sahen lediglich 3,83 Millionen.

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Auch in England ist das Interesse nicht nennenswert gesunken. Das erste Spiel der "Three Lions" gegen den Iran (Anpfiff um 13 Uhr britischer Zeit) sahen 8,5 Millionen Menschen im TV. Weitere 8 Millionen streamten es live über die BBC. Macht insgesamt 16,1 Millionen Menschen. Das erste WM-Spiel 2018 gegen Tunesien sahen zwar 21 Millionen, es begann aber auch um 19 Uhr britischer Zeit. Das zweite Spiel gegen Panama, welches wie das Iran-Spiel dieses Jahr um 13 Uhr begann, sahen insgesamt 16,9 Millionen Zuschauer. Nur ein kleiner Rückgang, der auch auf die Jahreszeit zurückgeführt werden könnte. Die Partie gegen die USA am zweiten Spieltag sahen dann übrigens wieder über 18 Millionen.

In Südamerika sind die TV-Quoten teilweise signifikant gestiegen, was auch damit zusammenhängt, dass es dort aktuell Sommer ist. Die Verlegung der WM in den November und Dezember kommt den Fans aus Brasilien, Argentinien und Co. entgegen.

"Wenn es andere Länder machen, gefällt es euch nicht"

Vor Ort in Katar sind deutsche Fans ohnehin in der Minderheit. Nur 35.000 Anhänger der DFB-Auswahl werden insgesamt bei der WM erwartet. In Russland (62.000) und Brasilien (58.000) waren es weitaus mehr. Viel mehr wird das Stadtbild von Fans aus Süd- und Mittelamerika geprägt. Vor allem Mexiko und Argentinien sind bei jedem Spiel mit Zehntausenden Fans vor Ort.

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Von Unbehagen gegenüber der WM in Katar ist nichts zu spüren. Auch nicht bei Juan, Fidel und Juan. Die drei Mexikaner sind gemeinsam in den Golfstaat gereist, um die "El Tri", wie die Nationalmannschaft der Mexikaner genannt wird, zu unterstützen. Sie sehen im Gespräch mit t-online in der Kritik am Gastgeberland etwas typisch Europäisches. "Das ist ein sehr politisiertes Thema. Europäische Länder denken, sie seien die einzigen, die Migranten ausnutzen dürfen. Wenn es andere Länder machen, gefällt es euch nicht", sagt Juan (Nummer eins). Sein Kumpel Juan (Nummer zwei) wird noch direkter: "Wenn Sie in die USA schauen, werden Mexikaner ausgebeutet. In Spanien sind es die Ecuadorianer. Und in Deutschland Afrikaner."

Auch Fidel sieht in der Katar-WM trotz der Tausenden Todesfälle von Gastarbeitern keine Besonderheit: "Es passiert auf der ganzen Welt, nicht nur in Katar. Aber Katar steht jetzt im Fokus. All das muss bestraft werden, das gehört nicht zu einer guten Welt, aber es ist Teil der Realität." Und in dieser Realität steht die Unterstützung für ihre Nationalmannschaft im Vordergrund. "Fußball ist für uns die Nummer eins. Wir müssen dieses Team unterstützen", betont Juan. Mit einem Grinsen fügt er an: "Euer (europäisches, Anm. d. Red.) Blut ist warm, unseres ist heiß."

Auch für die japanischen Fans Ken und Motoya steht die Unterstützung der eigenen Nationalmannschaft über allem: "Wir sind hier, um Spaß zu haben. Man sollte diese Dinge trennen. Wir wissen, dass es ein schwieriges Thema ist, aber wir lieben den Fußball einfach."

Das angeknackste Verhältnis zwischen Fans und DFB

Wenn man Fans wie Ken, Motoya, Fidel und die Juans in Doha nach den Gründen für ihre Anreise fragt, ist die Antwort im Kern oft die gleiche: Was passiert ist, ist schlecht, aber unter den Konsequenzen sollten nicht die Spieler leiden. Dabei fällt auch auf, welch hohen Stellenwert der Nationalmannschaftsfußball in Ländern wie Mexiko, Argentinien oder auch England genießt.

Diese Leidenschaft ist in Deutschland seit einiger Zeit verschwunden. Das Gefühl von 2014, als die DFB-Auswahl den WM-Pokal in Rio de Janeiro gewann, ist weg. Die Entfremdung von Nationalmannschaft und Fans geht weiter. Über die schlechten TV-Quoten für die "normalen" Länderspiele außerhalb von EM und WM sowie die leer bleibenden Plätze in den Stadien bei DFB-Heimspielen wurde schon oft berichtet.

Und sie spielt in der aktuellen Situation ebenfalls eine Rolle. Denn auch wenn Millionen deutsche Fußballfans die WM in Katar aus anderen Gründen boykottieren, die Hürde, es zu tun, ist geringer als bei vorherigen Turnieren. Auf Nationalmannschaftsfußball zu verzichten fällt vielen leichter als noch vor acht oder zwölf Jahren. Und somit auch der Boykott.

Ein Ausblick

Für den DFB hat die Boykott-Diskussion einige Folgen. Er steht unter Druck, ist in den kommenden Monaten und Jahren zum Handeln gezwungen. Präsident Bernd Neuendorf betonte bereits, man stehe "in Opposition zur Fifa". Unterstützung gibt es bisher aber nur aus Norwegen und Dänemark. Wie das aber konkret aussieht, ist noch unklar. Denn auch der DFB ist von der Fifa abhängig, auch wenn das aufgrund der Aussage Neuendorfs anders klingt.

Der Fifa selbst wird die Boykott-Diskussion in Deutschland wohl egal sein. Denn im Rest der Welt ist die Lage, wie beschrieben, eine andere. Zudem wird Gianni Infantino im nächsten Jahr als Präsident bis 2027 voraussichtlich wiedergewählt, da es keinen Gegenkandidaten gibt. Auch der DFB will niemanden ins Rennen schicken.

Und wer hofft, der Fußball-Weltverband unter Infantinos Führung habe insgeheim aus dem Fall Katar gelernt, wird den Fifa-Kongress 2024 aufmerksam verfolgen. Denn dann wird die WM 2030 vergeben. Und Saudi-Arabien, das sich zusammen mit Ägypten und Griechenland bewirbt, hofft auf den Zuschlag. Was Menschenrechte angeht, ist Katar seinem großen Nachbarn um einiges voraus. Eine WM in Saudi-Arabien? Die Boykott-Diskussion in Deutschland würde dann wohl wieder von vorne losgehen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen und Gespräche vor Ort in Katar
  • Schriftliche Anfragen an David Fioux, Jordi Delgado und Jacek Stańczyk
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