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Virologen-Chef appelliert an Politik: Jeder Tag kostet Leben


Virologen-Chef
"Man ist sehenden Auges in die vierte Welle gelaufen"


17.11.2021Lesedauer: 6 Min.
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Behandlung von Corona-Patientin in Leipzig: Auch in der vierten Corona-Welle laufen die Intensivstationen wieder voll.Vergrößern des Bildes
Behandlung von Corona-Patientin in Leipzig: Auch in der vierten Corona-Welle laufen die Intensivstationen wieder voll. (Quelle: getty-images-bilder)

Die Corona-Inzidenzen steigen, die Situation auch in den Krankenhäusern wird immer dramatischer. Der Chef des Virologen-Verbandes fordert schnelle Maßnahmen – und hält einen Lockdown für möglich.

Die vierte Corona-Welle überrollt das Land. Die Politik sucht nach Lösungen – viel zu spät, sagt Dr. Ralf Bartenschlager im Gespräch mit t-online. Er hält auch einen zweiwöchigen Lockdown für denkbar, um das Infektionsgeschehen zu brechen.

t-online: Herr Bartenschlager, was sehen wir aktuell mit den steigenden Inzidenzen und den erneuten Warnungen vor einer Überlastung des Gesundheitssystems?

Ralf Bartenschlager: Wir sehen ein Zusammenspiel aus drei Faktoren: Zum einen schlägt in diesem Herbst die deutlich infektiösere Delta-Variante zu, dazu kommt die bekannte Saisonalität des Virus. Es verbreitet sich in den kalten Monaten einfach wesentlich besser, weil wir uns vermehrt in Innenräumen aufhalten und die Aerosole sich dort stärker verbreiten. Und natürlich ist die Impfquote nach wie vor zu gering.

Alle diese Dinge sind lange bekannt. Trotzdem scheint es, als seien wir in einem Déjà-vu gefangen. Warnende Stimmen gab es genug. Ist die Politik sehenden Auges in die vierte Welle gelaufen?

Die jetzige Situation ist dramatisch, aber sie überrascht Experten nicht. Tatsächlich waren diese Dinge alle bekannt, insofern muss man sagen: Man ist sehenden Auges in die vierte Welle gelaufen, ja.

Dr. Ralf Bartenschlager
Dr. Ralf Bartenschlager (Quelle: privat)


Dr. Ralf Bartenschlager leitet die Abteilung für Molekulare Virologie an der Universität Heidelberg und ist Präsident der Gesellschaft für Virologie.

Man hat auch das Gefühl, dass dieselben Fehler immer wieder gemacht werden …

Das lässt sich auch in einzelnen Etappen nachvollziehen. Zum Ende des Sommers zum Beispiel hatten wir die Reiserückkehrer. Da gingen die Zahlen hoch, stagnierten dann aber, bevor sich mit dem Beginn der kalten Saison wieder exponentielles Wachstum der Infektionsfälle aufbaute. Das ist ähnlich wie im vergangenen Jahr.

Aber wir haben doch jetzt Impfungen …

Ja, aber zum einen ist die Impfquote nach wie vor zu niedrig. Zum anderen haben wir das Problem, dass die Impfstoffe zwar sehr gut vor einem schweren Krankheitsverlauf, aber weniger gut vor der Infektion schützen. Das wiegt die Menschen in einer gefühlten Sicherheit.

Sie selbst sind auch meist nicht gefährdet, aber sie können das Virus weitertragen. Das erschwert die Kontrolle über das Infektionsgeschehen. Vor allem dann, wenn die Hygieneregeln nicht mehr beachtet werden.

Ein Problem ist auch die Modifikation der Impfstoffe. Sie sind auf den Ursprungstyp des Virus zugeschnitten, nicht aber auf seine Varianten.

Da wäre eine Anpassung sehr wahrscheinlich hilfreich. Meines Wissens sind die auch in der Entwicklung. In den klinischen Studien hat man sich aber verständlicherweise darauf konzentriert, die bekannten Impfstoffe für immer mehr Gruppen zuzulassen, um sie zu schützen, also vor allem auf Jugendliche, Schwangere und Kinder. Aber ja: Ein an die Varianten angepasster Impfstoff würde vermutlich weiterhelfen, aber unser aktuelles Problem nicht lösen.

Abgesehen davon hat man den Eindruck, dass die Impfempfehlungen den aktuellen Daten auch oft hinterherhinken.

Ja, aber das liegt in der Natur der Sache. Ein Beispiel ist eine mögliche Impfempfehlung für Kinder. Diese erkranken in der Regel nicht schwer, weshalb die Impfung besonders sicher sein muss, um einen zusätzlichen Nutzen zu haben. Dafür sind aber große Zahlen an geimpften Kindern erforderlich, um auch sehr seltene Nebenwirkungen erkennen zu können.

Für über 60-Jährige gibt es auch bislang noch keine Stiko-Empfehlung zur Booster-Impfung. Sie gilt bislang für über 70-Jährige …

Hier wäre eine Anpassung schleunigst nötig. Die aktuellen Daten besagen, dass über 65-Jährige ein Sterblichkeitsrisiko von etwa einem Prozent haben, wenn sie an Corona erkranken. Gleichzeitig sind circa 3,5 Millionen über 60-Jährige noch nicht mal einmal geimpft.

Kommt es doch noch mal zu einem Lockdown für alle, wie ist Ihre Einschätzung?

Das ist nicht auszuschließen, wenn die Belastung der Krankenhäuser die Kapazität überschreitet. Die Politik muss jetzt schleunigst reagieren und das tun, was von vielen Seiten empfohlen wird. Möglich wäre als eines der letzten Mittel eine Art Notschutzschalter wie ihn meine Kolleginnen und Kollegen vorgeschlagen haben, um den exponentiellen Anstieg zu brechen. Das wäre ein zweiwöchiger Lockdown.

Aber selbst, wenn wir die Impfquote jetzt plötzlich enorm steigern könnten, wäre es doch für diese vierte Welle praktisch schon zu spät.

Das alleine würde zu lange dauern, denn der Immunschutz braucht etwa sechs Wochen, bis er komplett aufgebaut ist. Da sind wir dann schon im Jahr 2022, bis diese Menschen geschützt sind.

Die Booster-Impfung wirkt aber schneller?

Ja, deutlich. Hier ist eine verbesserte Immunantwort schon nach circa zwei Wochen nachweisbar.

Die Krankenhäuser sehen nun aber auch zunehmend jüngere Ungeimpfte auf den Intensivstationen. Was bedeutet das?

Dass die Infektion auch für Jüngere schwere Folgen haben kann. Die liegen leider deutlich länger auf den Intensivstationen. Die Auswirkungen der aktuell sehr hohen Inzidenzen werden wir im Krankenhaus immer mit einer Verzögerung von zwei bis drei Wochen sehen. Aber schon jetzt werden verschiebbare Operationen umgeplant, um die Kapazitäten freizusetzen, die wir erwartungsgemäß brauchen. Und es gibt Berichte von Notfallärzten, die Patienten zum Beispiel nach einem Herzinfarkt kaum noch in Kliniken unterbringen können, weil diese Auslastung melden.

Ein Versuch, das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu bringen und auch die Impfquote zu steigern, ist die Einführung der 2G-Regel. Sie ist aber auch umstritten. Einige Virologen sagen, sie reicht nicht aus, um die Welle zu brechen.

2G bedeutet, dass Ungeimpfte eingeschränkt werden und dadurch ein geringeres Risiko haben, infiziert zu werden. Allerdings ist die Impfung kein Schutz vor Infektion, sicherer ist 2G plus. Also, dass sich beim Aufenthalt in Innenräumen auch Geimpfte und Genesene vorher testen. So wird das Infektionsrisiko für beide Gruppe weiter eingeschränkt, denn auch diese können das Virus übertragen.

Am Donnerstag kommen die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin zusammen. Zu spät?

Ja, leider. Die Zahlen liegen schon seit vielen Wochen auf dem Tisch. Die Pandemiebekämpfung fiel in der vierten Welle in ein politisches Vakuum so direkt nach der Bundestagswahl. Wir müssen uns klar machen: Jeder Tag kostet Menschenleben.

Dazu kam die Ankündigung, die epidemische Notlage von nationaler Tragweite Ende des Monats auslaufen lassen zu wollen, was viele mit der Verkündung eines Endes der Pandemie verwechseln. In Wirklichkeit geht es aber um die Rückverlagerung der Entscheidungen in das Parlament.

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Diskutiert wird aktuell eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, auch um zum Beispiel ein erneutes Sterben in den Pflegeheimen zu verhindern.

Ja, die brauchen wir und das Ethik-Komitee hat der Bundesregierung ja auch bereits eine Prüfung einer Impfpflicht gegen Covid-19 für Mitarbeitende in besonderer beruflicher Verantwortung empfohlen. Eine allgemeine Impfpflicht ist jedoch meines Erachtens nicht durchsetzbar.

Wie wird unser Winter aussehen? 2G, 2G plus, 3G, Kontaktbeschränkungen wie im vergangenen Jahr, die auch keiner so richtig verstanden hat mit fünf oder manchmal zehn Personen aus zwei Haushalten etc.?

Der Winter wird für uns alle sehr mühsam. Klar ist, wir müssen die Kontakte wieder beschränken, nur wird nun sicher differenzierter abgewogen. Einmal, weil es durch die Impfungen eine gewisse Immunität in der Bevölkerung gibt, aber auch, um nicht erneut wieder ganze Wirtschaftszweige lahmlegen zu müssen.

Fragen, wie zum Beispiel: "Welche Gefahren bergen Weihnachtsmärkte?" sind pauschal nicht zu beantworten. Das kommt darauf an, wie viele Menschen etwa am Glühweinstand zusammenstehen. Und ob da ohne Maske zum Beispiel gelacht oder gesungen wird. Dann müsste mit Zugangsbeschränkungen und Auflagen gearbeitet werden. Ob 2G plus in der Masse überhaupt dauerhaft umsetzbar sein kann, ist auch fraglich. Ist ja auch alles eine Frage davon, wer das alles kontrollieren soll.

Wie sieht es mit Weihnachten aus?

Ich denke schon, dass wir mit den jetzigen Möglichkeiten in diesem Jahr ein halbwegs normales Weihnachten feiern können. Wenn wir jetzt relativ schnell die besprochenen Maßnahmen durchsetzen und damit ja auch schon zu einer Kontaktreduktion kommen, wird sich das auf Weihnachten auswirken. Ich denke in Familien, in denen alle geimpft sind und die Großeltern auch schon die Booster-Impfung hatten, wird ein gemeinsames Beisammensein möglich sein. Und wenn alle sich vorher noch einmal testen, ist es natürlich am besten.

Herr Bartenschlager, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
  • Interview mit Ralf Bartenschlager
  • Eigene Recherche
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