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Erdgas und Kernkraft nachhaltig: EU-Staaten wollen Kommission verklagen


Kritik an EU-Beschluss
Experte: "Das ist so, als sortiere man Pommes ins Salatregal"

  • Theresa Crysmann
InterviewVon Theresa Crysmann

Aktualisiert am 02.02.2022Lesedauer: 5 Min.
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Stürmische Zeiten für die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen (Symbolfoto): Ihre Behörde trägt die Verantwortung dafür, dass Investitionen in Kernkraft und Erdgas nun als nachhaltig gelten.Vergrößern des Bildes
Stürmische Zeiten für die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen (Symbolfoto): Ihre Behörde trägt die Verantwortung dafür, dass Investitionen in Kernkraft und Erdgas nun als nachhaltig gelten. (Quelle: Ewan Bootman/imago-images-bilder)

Atomkraft und Erdgas gelten nun offiziell als grüne Energiequellen. Damit setzt sich die EU-Kommission gegen heftigen Widerstand von Mitgliedsstaaten, Experten und Bänkern durch. Das könnte den Entscheidern in Brüssel auf die Füße fallen.

Die EU-Kommission hat ihren Willen im Eilverfahren durchgedrückt: Kernkraft und Erdgas gehören jetzt zur nachhaltigen Elite der Energieformen in Europa. Wer Geld in Erdgasprojekte oder in die Atomkraftbranche steckt, kann sich über ein grünes Label für diese Investitionen freuen – trotz umstrittener Umwelt- und Klimabilanz.

Der kontroverse Finanzkompass, den man in Brüssel "Taxonomie" getauft hat, stößt auf Widerstand aus allen Richtungen. Doch weder die Kritik von EU-Regierungen noch von Umweltverbänden oder Banken konnte den Ritterschlag für Kernkraft und Erdgas verhindern. Nur das Europaparlament oder eine große Mehrheit der Mitgliedsländer könnte noch eingreifen. Doch ein Veto ist unwahrscheinlich, die Hürden sind zu hoch.

Im Interview mit t-online erklärt Umweltschützer Christoph Bals, weshalb die Aufregung deswegen groß ist und warum sich die EU-Kommission bald vor Gericht wiederfinden könnte.

t-online: Brüssel hat ein Machtwort gesprochen. Erdgas und Atomkraft zählen nun als grüne Energiequellen. Wie sinnvoll ist dieser Beschluss?

Christoph Bals: Das ist ein Etikettenschwindel auf Kosten von Klima und Umwelt.

Inwiefern?

Kernkraft und Erdgas haben nichts mit Nachhaltigkeit zu tun. Erstere verursacht Atommüll für Zehntausende Jahre, ohne dass wir eine Lösung dafür haben. Letzteres ist ein fossiler Brennstoff und damit das genaue Gegenteil von Klimaschutz. Das ist so, als sortiere man Pommes ins Salatregal.

Was ist die EU-Taxonomie? Diese Klassifizierung legt fest, welche Aktivitäten und Projekte als grün zählen dürfen. Banken, Versicherungen, Pensionsfonds und Anleger sollen so besser abschätzen können, welche Investitionen tatsächlich nachhaltig sind. Dadurch will die EU-Kommission mehr Geld in klimaneutrale Vorhaben lenken. Alle weiteren Infos lesen Sie hier.

Ist der grüne Investment-Kompass der EU deshalb nutzlos?

Prinzipiell sind die neuen Regeln extrem wichtig: Sie holen grüne Investments aus der Nische in den Mainstream. Vorher hatten wir einen unübersichtlichen Wust von Nachhaltigkeitskriterien. Dank der Taxonomie ist jetzt endlich einheitlich geregelt, welche Geldanlagen als grün gelten dürfen. Nur so kann der Umbau zu einer klimaneutralen und ressourcenschonenden Wirtschaft tatsächlich gelingen.

Trotz Atomkraft und Erdgas?

Nun, es ist sehr schade, wie dieses Werkzeug gegen Greenwashing politisch verbogen worden ist. Dadurch ermöglicht die Taxonomie grüne Augenwischerei, statt sie zu verhindern. Alle seriösen Finanzdienstleister müssen deswegen mehr tun, als die Regeln verlangen, und auch Atom- und Gasprojekte aus ihren nachhaltigen Angeboten streichen.

Viele Experten, Banken und NGOs wollen die Entscheidung der EU-Kommission gar nicht erst akzeptieren. Glauben Sie, dass sich da noch etwas bewegt?

Ich hoffe es zumindest. Vor allem im Europaparlament gibt es interessante Gegenbewegungen. Aber es ist offen, ob das für eine Mehrheit reicht, um dieses Greenwashing durch die Kommission zu stoppen. Klar ist aber: Die Sache ist noch lange nicht abgehakt.

Sogar einige EU-Regierungen sind über das grüne Label für Atomkraft und Erdgas entsetzt, manche wollen dagegen klagen.

Tatsächlich gibt es große Bedenken, ob die EU-Kommission überhaupt den korrekten Weg gegangen ist.

Wie meinen Sie das?

Es kann sein, dass die Entscheidung zu Erdgas und Kernkraft so schwer wiegt, dass man sie gesetzlich festschreiben müsste. Weil das lange dauert und kompliziert ist, hat die Kommission über einen sogenannten delegierten Rechtsakt eine einfachere Option gewählt. Die Frage ist, ob sie das durfte. Außerdem ist es möglich, dass das Okay für Gas und Atom gegen die eigene Nachhaltigkeitsdefinition der Kommission verstößt. Man kann hier nicht einfach wissenschaftsbasierte Kriterien politisch umbiegen. Es wäre spannend, das juristisch überprüfen zu lassen.

Ist das bereits Thema?

Österreich und Luxemburg haben angedeutet, dass sie Klagen vorbereiten. Und auch einige andere EU-Staaten sind ziemlich empört.

Die Bundesregierung ist sauer über das aufpolierte Image für Atomkraft. Gleichzeitig findet sie es prima, dass Investitionen in Erdgasprojekte nun übergangsweise als nachhaltig gelten. Wie viel Sinn ergibt das?

Dass die Bundesregierung sich so für Erdgas einsetzt, ist bedauerlich, aber nicht überraschend. Deutschland hat sich die ganze Zeit darum bemüht, dass Erdgasinvestments in die Taxonomie aufgenommen werden. Das galt für die alte Regierung ebenso wie für die neue. Die Grünen wollten zwar eine andere Linie, sind in den Koalitionsverhandlungen aber am Widerstand von SPD und FDP gescheitert.

Auch der Kanzlerpartei müsste doch klar sein, dass Erdgas kaum als grün gelten kann.

Ich denke, da werden zwei Diskurse vermischt. Einerseits geht es darum, dass die Energiewende ohne vorübergehenden Einsatz von Erdgas nicht zu schaffen ist. Das sehe ich auch so: Wir brauchen eine ganze Reihe moderner Kraftwerke, um die Stromversorgung aufrechtzuerhalten, wenn die Sonne nicht scheint und nur wenig Wind weht. Einige Jahre müssen diese noch mit Erdgas laufen, bis es genug Biogas oder Wasserstoff gibt. Aber das rechtfertigt trotzdem nicht, dass man Erdgas als nachhaltig einstuft. Dafür ist es viel zu klimaschädlich. Dieser Unterschied scheint längst nicht überall präsent.

Gebe es ohne den grünen Investitionsanreiz denn genug Geld für die Gaskraftwerke, die uns beim Umstieg auf Solar- und Windenergie als doppelter Boden dienen sollen?

Ich bin überzeugt davon, dass genug Geld in Gasprojekte fließen würde. Aber es könnte dann schon sein, dass solche Vorhaben ein Stückchen teurer würden.

Warum?

Weil Investitionen in Branchen außerhalb der Taxonomie am Kapitalmarkt als zusätzliches Risiko angesehen werden. Gleichzeitig wäre die Teuerung ein zusätzlicher Wettbewerbsvorteil für die erneuerbaren Energien.

Neben der Bundesregierung hatte anscheinend auch die Gaslobby die Finger bei der Taxonomie im Spiel. Wie viel Druck kommt aus der Branche?

Wir sehen seit Jahren, wie stark die Gasindustrie versucht, sich die Tür offen zu halten. Das zeigt sich in der Taxonomie, aber auch in vielen anderen Debatten rund um die Energiewende.

Wo denn noch?

Die Branche versucht, Gaskraftwerke als Ersatz für reguläre Kohle- oder Kernkraftwerke hinzustellen. Dabei brauchen wir Gaskraftwerke mittelfristig nur noch als Absicherung bei zu wenig Sonne und Wind, wenn andere Ausgleichsmöglichkeiten im Stromnetz nicht reichen. Hier ist auch in der neuen Regierung noch keine klare Linie erkennbar.

Die Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern ist überzeugt, auch die Megapipeline Nord Stream 2 trage zum Klimaschutz bei. Inwiefern trifft das zu?

Man kann Nord Stream 2 aus geopolitischen Gründen für notwendig halten, aber ganz sicher nicht aus klimapolitischen. Und ein Einmarsch Russlands in die Ukraine würde auch die letzten geopolitischen Gründe für die Pipeline entkernen.

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Also Erdgas im Namen des Klimas auf Kosten des Klimas?

Genau. Der Gasbedarf für Deutschland wird trotz des vorübergehenden Nachfrageanstiegs im Stromsektor in den nächsten Jahren regelmäßig sinken – das sagen alle wissenschaftlichen Studien voraus, die unseren Weg zur Klimaneutralität 2045 darstellen.

Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?

Es ist wichtig, dass man sich weder bei uns noch auf EU-Ebene von der Gasbranche dazu drängen lässt, unnötige Investitionen zu finanzieren. Damit würden wir uns ohne Not abhängig machen, die Klimaziele gefährden und letztlich Investitionsruinen schaffen.

Herr Bals, vielen Dank für das Gespräch.

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