Beschneidung von Grundrechten Außenministerium zeichnet düsteres Bild von Afghanistan
Grundlose Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Hinrichtungen: Ein interner Bericht des Auswärtigen Amtes warnt vor dem Land nach der Übernahme durch die Taliban. Eine Verbesserung ist vorerst nicht in Sicht.
Nach der Machtübernahme der militant-islamistischen Taliban müssen Teile der Bevölkerung dort mit Unterdrückung, Tod und Verfolgung rechnen – zu diesem Ergebnis kommt der aktuelle "Bericht über die Lage in Afghanistan" des Auswärtigen Amts.
Das vertrauliche Dokument liegt der Deutschen Presse-Agentur in Berlin vor. Insbesondere Menschen in Städten und ehemalige Regierungsmitarbeiter und Sicherheitskräfte erführen eine "massive Beschneidung ihrer Grundrechte und Freiheiten" und müssten Vergeltung fürchten. Manche ländlichen Gebiete hingegen seien teils schon jahrelang von den Taliban kontrolliert worden, weshalb sich ihr Alltag mit dem Siegeszug der Islamisten nicht tiefgreifend verändert habe. Es gebe Berichte über Hausdurchsuchungen, willkürliche Verhaftungen, gewaltsames Verschwindenlassen bis hin zu Hinrichtungen insbesondere gegen diese Gruppen sowie gegen politische Gegner der Taliban und Vertreter der Zivilgesellschaft und deren Angehörige.
Entscheidungshilfe für Asylbehörden
In den Vorbemerkungen stellt das Auswärtige Amt aber klar: Der etwa ein Dutzend Seiten lange Bericht stelle keinen regulären Asyllagebericht dar, sondern eine "Momentaufnahme".
Das Auswärtige Amt erstellt regelmäßige Berichte zur Situation in wichtigen Herkunftsländern Asylsuchender in Deutschland. Diese sollen vor allem dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) aber auch Gerichten und Innenbehörden als Entscheidungshilfe dienen. Das ist relevant für Asyl-Entscheidungen und auch Abschiebungen.
Ungewöhnlich ist: Auf die Entscheidungspraxis des Bamf soll dieses Papier nun – im Gegensatz zu vorherigen zu anderen Ländern – zunächst keinen Einfluss haben. Die Behörde wartet nach Angaben eines Sprechers noch auf Leitlinien, die das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (Easo) erstellen soll. Dies solle "ein gesamteuropäisches Vorgehen" sicherstellen. Derzeit gewährt das Bamf Afghanen zwar Asyl oder andere Formen von internationalem Schutz. Auch sogenannte Dublin-Verfahren, bei dem es um die mögliche Überstellung in ein anderes europäisches Land geht, laufen.
Knapp 300.000 Afghanen in Deutschland
Entscheidungen über einen möglichen Schutz vor Abschiebung liegen indes derzeit auf Eis. Vor einer erzwungenen Ausreise sind Afghanen in Deutschland bis auf Weiteres aber ohnehin sicher: Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) setzte Abschiebungen in das Krisenland am 11. August aus. Mit der Eskalation in Afghanistan machen sich viele Afghanen neue Hoffnungen auf Schutz in Deutschland.
Nach jüngsten Zahlen von Ende September leben knapp 300.000 Afghanen in Deutschland. Von ihnen sind 2.564 weder als Flüchtlinge geschützt, noch werden sie geduldet, etwa weil sie hier eine Ausbildung durchlaufen oder krank sind. Zudem stellen zahlreiche Afghanen, die hier bereits ein Asylverfahren durchlaufen haben und zum Teil abgelehnt wurden, neue Anträge: Im September taten dies rund 2.000, nach nur 330 sogenannten Folgeanträgen im August und 130 im Juli.
Tausende warten noch auf Ausreise nach Deutschland
Von Interesse ist der Bericht aber auch mit Blick auf diejenigen Afghanen, die auf der Ausreiseliste der Bundesregierung stehen und es noch nicht außer Landes geschafft haben. Anfang Oktober waren knapp 25.000 Menschen mit Aufnahmegenehmigungen in Deutschland registriert, darunter 17.800 ehemalige Ortskräfte von Bundeswehr oder Bundesministerien inklusive ihrer Familienangehörigen.
Seit Ende der Bundeswehr-Luftbrücke vor gut zwei Monaten schreitet deren Evakuierung nur schleppend voran. Seit dem 16. August wurden insgesamt knapp 6.000 Afghanen geholt – darunter auch die von der Bundeswehr ausgeflogenen. Auf dem Luftweg geht inzwischen nur noch wenig, vereinzelt fliegen Chartermaschinen. Und die Ausreise auf dem Landweg in Nachbarländer ist mühsam.
Hartes Vorgehen gegen Demonstranten
Gut belegt mit Beispielen ist in dem Bericht das harte Vorgehen der Taliban gegen Demonstranten, auch mit dem Einsatz scharfer Munition gegen friedliche Menschen. Gerichte, die nach der islamischen Scharia Recht sprachen, gab es schon vor der Machtübernahme, schreiben die Verfasser. Deren Richter seien von der Bevölkerung zum Teil sogar als "effizienter und verlässlicher" als das korrupte Justizsystem der Republik empfunden worden.
Die Rechte von Frauen und Mädchen würden von den Taliban eingeschränkt, wie und in welchem Umfang, das hänge aber von lokalen und individuellen Gegebenheiten ab. Systematische staatliche Folter sei bisher nicht bekannt, es gebe aber Berichte über Einzelfälle, etwa Journalisten – wobei ausländische Reporter weitgehend ungehindert reisen könnten. Wie es Rückkehrern aus Deutschland und Europa ergehe, dazu lägen keine aktuellen Erkenntnisse vor, heißt es.
"Keine fundierten Erkenntnisse"
Der Bericht ist auch an anderen Stellen lückenhaft. Denn die Verfasser können sich nicht mehr auf eigene Informationen stützen, weil die deutsche Botschaft mit der Machtergreifung der Taliban Mitte August geschlossen wurde, wie auch Vertretungen anderer Staaten. Die Informationen stammen nun unter anderem von Menschenrechtsgruppen, internationalen Organisationen und aus Medienberichten.
Informationen seien "schwer zu verifizieren", es gebe "keine fundierten Erkenntnisse", heißt es in dem Papier immer wieder. Das gelte etwa für Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Erschießungen. Unklar ist, ob es "zielgerichtete, großangelegte Vergeltungsmaßnahmen" gegen Mitarbeiter der vorigen Regierung oder Sicherheitskräfte gibt.
Wiedereröffnung der Botschaft nicht in Sicht
Nicht nur deutschen Diplomaten tun sich schwer mit klaren Einschätzungen. Für viele Beobachter ist die Quellenlage seit der Machtübernahme der Taliban undurchsichtiger geworden. Offizielle Stellen sind oft noch unbesetzt oder geben keine belastbaren Auskünfte. Afghaninnen und Afghanen im Land halten sich mit Kritik zurück, Medien üben aus Angst vor Repressalien zunehmend Selbstzensur. In sozialen Medien kursieren viele Falschmeldungen. Organisationen der Vereinten Nationen vor Ort veröffentlichen teils weniger reguläre Berichte als vor dem Fall von Kabul.
Dass sich die Informationslage des Auswärtigen Amts bald verbessert, ist nicht zu erwarten. Eine Wiederöffnung der deutschen Botschaft in Kabul ist nicht in Sicht – wegen der prekären Sicherheitslage. Der deutsche Botschafter Markus Potzel der eigentlich im August nach Kabul entsandt werden sollte, ist stattdessen im Golfemirat Katar stationiert und hält von dort Kontakt zu den Taliban.
Das wird wohl erstmal so bleiben, auch wenn der politische Wille da ist, das zu ändern. "Wenn es politisch möglich wäre und wenn die Sicherheitslage es erlaubt, dann sollte auch Deutschland in Kabul wieder eine eigene Botschaft haben", hatte Außenminister Heiko Mass im September bei einem Besuch in Katar gesagt.
- Nachrichtenagentur dpa