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Russland: Märchen und Sagen können helfen, Putins Reich zu verstehen


Kolumne "Russendisko"
Diese Märchen erzählt man sich in Russland

MeinungEine Kolumne von Wladimir Kaminer

16.06.2024Lesedauer: 5 Min.
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Wladimir Putin: In Russland gibt es viele Sagen und Märchen, erklärt Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: In Russland gibt es viele Sagen und Märchen, erklärt Wladimir Kaminer. (Quelle: Pavel Bednyakov/imago-images-bilder)

Russland ist reich an Folklore, besonders an Märchen und Sagen. Um das Land zu verstehen, sollte man sich genau diese Märchen näher anschauen, meint Wladimir Kaminer.

Die Froschpopulation in unserem Gartenteich wird von Jahr zu Jahr größer – und jeden Abend, wenn die Sonne untergeht, beginnen unsere Brandenburger Konzerte, von den Fröschen komponiert und aufgeführt. Wir haben uns an diese Naturmusik inzwischen gewöhnt, sitzen auf der Terrasse, trinken Wein und bewundern die Amphibien.

Einige von ihnen quaken in einer Qualität, da würde Anna Netrebko blass vor Neid. Das obligatorische Froschkonzert am Abend ersetzt uns den Besuch der Philharmonie oder des Konzerthauses, wo man die Getränke nicht mit in den Saal tragen darf. Bei uns kann man die Getränke selbstverständlich überall mit hinnehmen und gleichzeitig die Kunst genießen, es ist ein wunderbares Naturschauspiel, eine fantastische Geräuschkulisse.

(Quelle: Frank May)

Zur Person

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein aktuelles Buch "Gebrauchsanweisung für Nachbarn" (mit Martin Hyun) ist im März 2024 erschienen.

Andere Menschen, die uns ab und zu auf dem Land besuchen, reagieren ganz anderes auf die Frösche. Frau Hartmann, die beste Freundin meiner Frau, verbringt Stunden am Teich und spricht mit den Fröschen. Na, wen soll ich küssen, wer von Euch ist der Prinz? Auf uns wirkt ihr Verhalten befremdlich. Wie kann ein Frosch ein Prinz sein? Frau Hartmann ist mit deutschen Märchen aufgewachsen, nur in der deutschen Version ist der Froschprinz ein Männchen. Die Prinzessin küsst ihn, wenn auch nicht ganz freiwillig, sie wird mehr oder weniger von dem Frosch erpresst, der sich nach dem Kuss in einen anständigen Prinzen verwandelt.

Die russische Folklore bietet eine ganz andere Version an. Der Frosch ist hier selbstverständlich ein Weibchen, beim russischen Frosch handelt es sich um eine Zarentochter, von bösen Zauberern entführt und in eine Amphibie verwandelt. Sie soll ebenfalls so lange Frosch bleiben, bis ein Mann sie küsst. Iwan, der Hauptheld der russischen Folklore, ist auch nicht von schlechten Eltern, aber faul und zickig. Ein Mensch von schwierigem Charakter, er hat diesen Frosch aus Trotz, quasi demonstrativ geheiratet, um seinem Vater eins auszuwischen, der ihn ständig bedrängte und auf den Geist ging.

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Notorische Faulenzer

Zum Zeitpunkt der Hochzeit hatte Iwan nichts über die wahre Natur der verzauberten Prinzessin gewusst. Anscheinend war es ihm egal, wen er heiratet. Er küsste den Frosch, wie es der Heiratsbrauch verlangt, der Zauber verflog und plötzlich stand eine wunderschöne Prinzessin vor ihm. Ist auch okay, dachte Iwan und zuckte mit den Schultern. Die Iwans, die Helden der russischen Märchen, sind oft solche, die einen defensiven Lebensstil führen.

Sie verweigern ganz bewusst jede gesellschaftliche Aktivität und wollen sich traditionell nicht in das Leben ihrer Gemeinde, ihres Dorfes oder ihrer Familie einmischen. Sie faulenzen, gehen nicht zur Arbeit und sabotieren alle Aufgaben, mit denen die älteren Generationen sie zu belegen versuchen. Stattdessen liegen sie auf einem warmen Ofen (in den langen Wintern dienten früher die riesigen Steinöfen als bevorzugte Schlafplätze). Ab und zu gehen sie in der Natur spazieren, angeln oder unterhalten sich mit Tieren und Pflanzen.

Sie werden dafür von ihrer arbeitsamen Umgebung ständig geschmäht, beschimpft und verunglimpft. Das Glück kommt in ihr Leben immer ungewollt und unerwartet, es bringt mehr Probleme, als es Lösungen bietet. Auf einmal muss der Dummkopf ein halbes Königreich regieren oder eine Prinzessin unterhalten, die er noch vor Kurzem gar nicht kannte. Worüber soll er mit ihr reden? Sie haben überhaupt keine gemeinsamen Themen oder Freunde.

Nur unwillig übernimmt Iwan die Verantwortung. Und so wird der Dummkopf zu einem Helden. Das Glück, die wundersame Veränderung des Lebens kommt in der Regel durch die Bekanntschaft des Dummkopfs mit einem fremden Lebewesen, einem Tier oder einer Pflanze. Iwan trifft den sprechenden Fisch, den Feuervogel, das bucklige Pferdchen oder den schlauen Wolf. Manchmal ist es ein Apfelbaum, der seine Hilfe braucht.

Lasst uns in Ruh!

Der Dummkopf fängt einen Fisch, mehr aus Spaß als aus Not, und hat plötzlich drei Wünsche frei. Er fängt ein Pferdchen oder einen Feuervogel, mit dem gleichen Ergebnis. Von dem Apfelbaum wird er aufgefordert, so viele Äpfel zu essen, wie es nur geht, die Apfelernte sei zu üppig, klagt der Baum, er würde unter dem Gewicht der vielen Früchten leiden. Kein Problem, nickt der Dummkopf, isst die Äpfel und wird dafür königlich belohnt. Mit seinem Gewinn weiß der Dummkopf aber nichts anzufangen, denn aus seiner Sicht braucht ein Mensch gar kein Königreich, keinen Reichtum und keine Prinzessin, um glücklich zu sein.

Er braucht nur Ruhe und Zeit. Und ein warmes Plätzchen. Am liebsten möchte er von allen in Ruhe gelassen werden, doch die Menschen drängen ihn, er solle Heldentaten vollbringen. Die Menschen brauchen Helden. Also schließt der Dummkopf mit dem Volk einen Kompromiss. Er tut so, als würde er die Prinzessin wirklich mögen und das Königreich schätzen, die Menschen sind zufrieden, sie denken, er wird sie vor dem Bösen schützen. Die bösen Gestalten werden in der russischen Folklore als uralte Leute dargestellt, die mit ihrem Alter nichts anfangen können.

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Zum einen ist es die Zauberhexe Baba Jaga, die im Wald in einer Hütte ohne Tür lebt. Die Hütte steht auf Hühnerbeinen und dreht sich ständig hin und her. Baba Jaga heißt mit vollem Namen "die Knochenbeinige", also hat sie anscheinend auch ein gesundheitliches Problem ungeklärten Ursprungs. Sie bewegt sich nicht wie mitteleuropäische Hexen auf einem Besen, sondern benutzt einen Mörser, den sie mit dem dazugehörigen Stößel lenkt.

Ein anderer Bösewicht, der unsterbliche Koschtschei, wurde aus nicht nachvollziehbaren Gründen mit dem Fluch des ewigen Lebens beschwert und leidet darunter. Sein Leben ist am Ende einer Nadel, die in einem Ei versteckt ist. Das Ei befindet sich in einer Ente, die wiederum in einem Hasen steckt. Der Hase sitzt in einer Kiste und die Kiste hängt am größten Baum des Landes. Selbst ein Selbstmord ist in dieser Konstellation ausgeschlossen. Man muss also wirklich ein Freund der Natur sein und sich mit vielen Tieren auskennen, um dem Koschtschei Schaden zuzufügen.

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Das ist aber auch das Einzige, was unser Dummkopf gut kann. Die Guten sind in den russischen Märchen auch in Form von drei Recken vertreten. Auf einem berühmten Bild von Wiktor Wasnezow steht einer vor einem Stein. Darauf steht in etwa: Gehst Du nach links – verlierst Dein Pferd, gehst Du nach rechts – verlierst Dein Leben, gehst Du geradeaus, wirst Du vergessen, wer Du bist.

Die Wege in den Märchen sind voller Gefahren. Der Recke steht vor dem Stein, kann sich nicht entscheiden und kommt nicht voran.

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