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Nur die Grünen haben es begriffen – und die Wirtschaft


Das Alte ist vorbei, das Neue beginnt
Nur die Grünen haben es begriffen

  • Gerhad Spörl
MeinungVon Gerhard Spörl

10.06.2019Lesedauer: 5 Min.
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Grünen-Chef Robert Habeck: Die Kerninhalte der Grünen prägen heutzutage bereits die Wirtschaft.Vergrößern des Bildes
Grünen-Chef Robert Habeck: Die Kerninhalte der Grünen prägen heutzutage bereits die Wirtschaft. (Quelle: Andreas Gebert/Reuters-bilder)

Wie geht es weiter mit Deutschland? Ausgerechnet von der Wirtschaft kann die Politik lernen. Allein die Grünen haben verstanden, dass sich Wesentliches geändert hat.

Um besser zu verstehen, was in Deutschland vor sich geht, habe ich mich mit den Managern in Industrie und Wirtschaft beschäftigt. Dabei ist mir aufgefallen, dass sie ziemlich viel über Tugenden reden: über gute Führung und Werte, die über das bloße Geldverdienen hinaus reichen. Das Zauberwort heißt "Purpose", womit die Zweckbestimmung eines Unternehmens gemeint ist – der Sinn, den es sich gibt.

Joe Kaeser mischt sich ein

Am weitesten geht Joe Kaeser, der Vorstandsvorsitzende der Siemens AG, eines ehrwürdigen Unternehmens aus der Tiefe des 19. Jahrhunderts mit rund 380.000 Mitarbeiter. Er mischt sich ein, kommentiert die AfD oder den Brexit, er ist ein politisierender Manager. In einem Interview erläuterte er, was junge Leute, die sich bei ihm bewerben, von seinem Konzern erwarten: "Sie fragen: Machst du etwas, was mir wichtig ist – für die Umwelt, die Gesellschaft? In der jüngeren Generation vollzieht sich derzeit ein Wertewandel. Und ich hoffe sehr, dass dieser Wertewandel hilft, die natürliche Spaltung zu reduzieren."

Offenbar gibt es einen Binnendruck, der nach Zweck und Ziel eines Unternehmens fragt. Offenbar gibt es auch einen Grund dafür, dass Vorstandsvorsitzende wie Kaeser anerkennend darüber reden, worüber sie vor wenigen Jahren noch peinlich berührt geschwiegen hätten. Das Grüne ist in die Konzerne eingewandert und stellt Ansprüche.

Es wird ja auch Zeit

Wer sich auf eine veränderte Mentalität rechtzeitig einstellt, verschafft sich Vorteile. Dass ausgerechnet die Wirtschaft einigermaßen schnell auf gesellschaftlichen Wandel reagiert, ist verwunderlich, da sie gemeinhin konservativ und zentralistisch ausgerichtet ist und somit eigentlich wenig flexibel. Von inklusivem Kapitalismus redet Joe Kaeser auch, von einem, der nicht die Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land vergrößert, sondern verkleinert.

Große Worte: "Purpose". Gute Absichten: integrativer Kapitalismus. Eine Wirtschaft, die sozial und politisch dem Land verpflichtet ist: überfällig. Die soziale Marktwirtschaft made in Germany kehrt womöglich wieder: gut so.

Wird ja auch Zeit. Der Kapitalismus war zuletzt ziemlich exklusiv auf Katastrophen angelegt. Erinnern Sie sich noch an das Fiasko der New Economy im Jahr 2000? Viele Kleinanleger verloren viel Geld, weil sie den Hütchenspielern auf den Leim gegangen waren. Nur sieben Jahre später dann die Krise weltweit auf den Finanzmärkten, die sich auf absurde Weise von der Realwirtschaft abgekoppelt hatten. Banken in Amerika hatten gutgläubigen Kunden ihre Häuser untergejubelt. Weder verdienten sie genug Geld für die Kredite noch besaßen sie Rücklagen, so dass am Ende Millionen Menschen alles verloren.

Selbstbesinnung ist überfällig

Obszön genug, dass die Banken va banque gespielt hatten, mussten sie dann auch noch vom Staat gerettet werden. Von Steuerzahlern. Von uns.

Oder die Währungsmanipulationen. Oder der Dieselskandal. Oder das organisierte Abschöpfen des Staates in den Cum-Ex-Geschäften. Oder die Bestechungsskandale einiger Großkonzerne. Und so weiter und so fort.

Folglich ist Selbstbesinnung überfällig. Der Kapitalismus, der entfesselt und enthemmt war, fragt sich nach seinem Zweck, neben der Anhäufung von Kapital und der Erwirtschaftung von Renditen. Der Überbau soll es richten, denn mehr als Überbau kann die Sinn-Diskussion gar nicht sein. Der erste Zweck bleibt ökonomischer Erfolg, was sonst. Nach dem Zweck kommt die Moral.

Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe!

Trotzdem ist diesmal die Wirtschaft schneller als die Politik. Die Regierung wacht erst allmählich aus dem Dämmerschlaf auf, aus der Selbstschau, aus der Selbstvergessenheit. Sie arbeitet vor sich hin, manchmal gar nicht schlecht, aber von einem seltsam fatalistischen Geist beseelt: Wird eh nichts mehr, ist ohnehin bald vorbei und wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe!

Die SPD ist der Lemming unter den Parteien: schnell hin zum Abgrund und dann nichts wie hinuntergestürzt. Die CDU verliert in Kürze ihre Kanzlerin, die eine gähnende Leere hinterlassen wird, falls Annegret Kramp-Karrenbauer sie nicht einigermaßen füllen kann. Die FDP schüttet Asche auf ihr Haupt und sagt, beim nächsten Versuch mit Jamaika laufen wir bestimmt nicht davon, Ehrenwort!

Der Abstand aller anderen zu den Grünen ist enorm. Denn sie haben früh begriffen, dass das Alte vorbei ist und etwas Neues beginnt. Sie haben von Macron gelernt: Seien wir patriotisch, aber reden wir nicht groß darüber. Reden wir statt dessen ohne Rechthaberei von gutem Regieren. Unterscheiden wir uns von den anderen und pumpen wir uns dabei nicht auf. Selbstbewusstsein mit Demut ist eine geniale Kombination. Dafür ernten die Grünen Respekt und Wähler.

Politik verfolgt das Richtige nicht nachhaltig

Was die Wirtschaft in vielen Zweigen vorantreibt, das sind die politischen Vorgaben: die Klimaziele, die große Reduktion der Treibhausgase um mindestens 85 Prozent bis zum Jahr 2050. Sämtliche Unternehmen sind davon betroffen, die energieintensiven mehr, die anderen weniger. Alle müssen heute schon für morgen Vorkehrungen treffen, damit sie übermorgen modern und zeitgerecht sind. Zentral ausgerichtete Konzerne können sich diese Zweckbestimmung leichter verordnen und ihr schneller Tribut zollen als die Politik.

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Das Seltsame an der Politik ist, dass sie in diesem Zeitalter gar nicht anders kann, als langfristige Projekte zu verfolgen: Ausstieg aus der Atomenergie, Ende der Wehrpflicht, Digitalisierung. Aber im kurzen Rhythmus der Wahlen geht der lange Atem immer wieder verloren. Darin liegt die innere Dialektik der Politik: Selbst das Richtige verfolgt sie nicht nachhaltig, siehe die Energiewende.

Ohnehin ist das gesamte Parteiensystem im Umbruch, was das Handeln zusätzlich einschränkt. Wer weiß schon, wer in einem Jahr oder in zweien regiert? Wer weiß schon, worauf sich eine Zweier- oder Dreierkoalition dann einigen kann?

Apathie ist die Folge. Gut möglich, dass noch mehr Zeit vergeudet wird, noch mehr Chancen verpasst werden. Der Netzausbau ist das Äquivalent zum neuen Berliner Flughafen – wie wär's mal mit beherztem Drangehen? Die neue soziale Frage, das Wohnen in den Städten – wer kümmert sich darum? Die Spaltung durch den Kapitalismus in Arm und Reich, in Stadt und Land: Was fällt uns dazu ein, außer enteignen und Steuererhöhung? Von Deutschlands Rolle in der Welt und vor allem in Europa zu schweigen.


Aus der deutschen Nachkriegsgeschichte habe ich gelernt, dass im richtigen Augenblick die richtigen Figuren auftauchen, die das Richtige im Sinn haben und verwirklichen. In der Wirtschaft sind einige von ihnen schon da. In der Politik sieht es weniger günstig aus. Kevin Kühnert kann es ja wohl nicht sein, auch wenn der "Spiegel" ihn zur Titelfigur erhebt. Aber wer wollte die Hoffnung aufgeben.

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