Impfpflicht in den USA Der wachsende Hass auf den Staat
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Einführung von Impfpflichten hat in den USA nicht zu einer Befriedung der Gesellschaft geführt. Im Gegenteil, die Anti-Impf-Bewegung wird immer radikaler.
Ob John F. Kennedy (JFK) sich angesichts der Covid-19-Pandemie für eine Impfpflicht eingesetzt hätte, lässt sich heute nicht mehr klären. Zumindest aber ist aus einem Dokument von 1961 abzulesen, wie sehr auch schon dieser US-Präsident darum kämpfte, seine Bevölkerung zum Impfen zu bewegen – damals gegen die Kinderlähmung.
"Ich stimme mit dem US-Gesundheitsinspekteur darin überein, dass jede Person, die noch nicht geimpft ist, dies unmittelbar mit dem jetzt vorhandenen Impfstoff macht", so Kennedy in der Erklärung zur Polio-Bekämpfung.
Der Ex-Präsident musste sich Anfang der 60er-Jahre mit neu entwickelten Impfstoffen beschäftigen. 1962 schuf er dann den "Vaccination Assistance Act", um die US-Bundesstaaten bei der Beschaffung finanziell zu unterstützen. In mehr als zwanzig Staaten wurden kurz darauf zahlreiche Impfpflichten für Kinder eingeführt.
JFKs Neffe, Robert F. Kennedy Jr., war damals gerade acht Jahre alt. Heute, mit 68 Jahren, ist ausgerechnet dieser Mann zur Ikone der Impfgegner und Verschwörungsideologen in den USA, in Europa und Deutschland geworden. An "Bobby" Kennedy und seinen Anhängern lässt sich gut beobachten, dass auch nach der Einführung von Impfpflichten, wie sie derzeit in Deutschland diskutiert werden, die Probleme erst richtig groß werden können. Sprache und Taten der radikalen Impfgegner werden immer brutaler.
Holocaust-Relativierungen als Prinzip
Die Sonne scheint auf Bobby Kennedy, als er an einem klirrend kalten Sonntag im Januar auf den Stufen des Lincoln Memorials in Washington steht. Zu seinen Füßen Tausende US-Amerikaner, die immer wieder rufen: "Stoppt die Impfpflicht!, "Stoppt die Impfpflicht!" Kennedy und seine Anti-Impf-Organisation "Children's Health Defense" haben dazu aufgerufen, aus dem ganzen Land zu einer großen Demo gegen die Impfpflichten in die US-Hauptstadt zu kommen.
In den Vereinigten Staaten hat der Oberste Gerichtshof zwar kürzlich einen Teil der Impfvorgaben kassiert. Aber nach wie vor gelten sie in vielen Gesellschaftsbereichen und auch zahlreiche Unternehmen verlangen Impfungen von ihren Mitarbeitern, darunter Google, United Airlines und Walt Disney.
"Selbst in Nazideutschland war es noch möglich, über die Alpen in die Schweiz zu reisen", ruft Kennedy vor dem Lincoln Memorial, um dann einen noch schlimmeren historischen Vergleich zu ziehen. "Selbst auf einem Dachboden konnte man sich da noch verstecken, so wie es Anne Frank getan hat."
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So etwas wäre heute wegen der technologischen Möglichkeiten, welche die Regierung zur Verfolgung der Impfgegner einsetze, gar nicht mehr möglich, so Kennedy. Nicht zum ersten Mal relativiert er auf diese Weise den Holocaust. Viele andere Redner an diesem Tag ebenso. Seine spätere Entschuldigung ist deshalb auch wenig glaubwürdig.
Bei seinen Mitstreitern löst er mit seinem Satz Jubel aus. Unter ihnen zahlreiche Trump-Anhänger, aber auch Menschen, die sich als links bezeichnen. Ein Mann trägt ein Schild, auf dem zu lesen ist: "Organic Farmers Say No to Eugenic Pharma". Schützende Massenimpfungen mit Massenvernichtung gleichzusetzen, gilt hier nicht nur als normal, sondern als notwendig.
Die weitreichenden Impfpflichten in den USA hatte die Biden-Regierung schon vor Monaten erlassen. Zuerst ging es um Angestellte von Bundesbehörden, dann um die Mitarbeiter im Gesundheitssystem. Schließlich sollten auch Unternehmen verpflichtet werden, fast 100 Millionen Menschen hätte das betroffen. Diese Vorgabe hat das Weiße Haus jetzt zurücknehmen müssen, wegen des Urteils des Obersten Gerichtshofs. Für Biden ist das eine empfindliche Niederlage im Kampf gegen die Pandemie und ihre Folgen. Für Kennedy und seine Anhänger hingegen ist es Genugtuung und Bestätigung, dass ihr Protest sich lohnt.
Politisierung der Impfpflicht-Debatten
Längst nicht nur Figuren wie Bobby Kennedy, die seit Jahren für ihre Verschwörungsideologien bekannt sind, wurden von den eingeführten Impfpflichten in den USA dazu angestachelt, politisch davon zu profitieren. Im ganzen Land machen insbesondere die Republikaner mobil gegen den Versuch der Demokraten, mit Pflichten die Impfquote endlich nach oben zu treiben. Selbst der geboosterte Donald Trump wird dabei von Floridas Gouverneur Ron DeSantis überholt. Seit Monaten wirbt er statt für das Impfen für eine bestimmte Behandlung mit sogenannten monoklonalen Antikörpern, von der das Weiße Haus dringend abrät, weil sie nicht wirksam sei.
Ins Visier vieler Republikaner und der Impfgegner ist besonders der Gesundheitsberater des US-Präsidenten, Anthony Fauci, geraten. Nachdem der Senator Rand Paul ihn bereits mehrfach beschuldigt hat, sich finanziell an der Pandemie zu bereichern, wird er bei der Demonstration in Washington auf Schildern mit angemaltem Hitler-Bart gezeigt, darunter prangt ein Hakenkreuz. Abgewandelt vom Faschismusbegriff liest man immer wieder vom "Faucismus". Ein gemieteter Bus fährt an der National Mall vorbei, auf dem neben anderen Gesichtern auch das von Fauci abgebildet ist. Dazu eine Art Fahndungsaufruf: "Wanted!"
Eine Rap-Gruppe tritt live auf und schmettert ihre drastischen und in der Szene bekannten Zeilen in die Menge: "Das ist ein Krieg gegen die Religion! Das ist ein Krieg gegen die Kinder!... Das ist ein Krieg gegen die Tradition!" In dem dazugehörigen Musikvideo der Gruppe sind wieder Holocaust-relativierende Symbole zu sehen. Ein Davidstern mit dem Spruch: "Nie wieder ist jetzt".
Auch Bobby Kennedy ruft den Demonstranten zu: "Sie kommen, um eure Kinder zu holen!"
Warnungen vor zunehmender Staatsfeindlichkeit
Dass dieser radikale Kern sich von Impfpflichten nicht beeindrucken lässt, scheint offensichtlich. Aber auch bei jenen, die nur zögern, scheinen die Symbolwirkung und drohenden empfindlichen Strafen ihr Ziel zu verfehlen. Noch immer gelten in den USA erst knapp 64 Prozent der Bevölkerung als vollständig geimpft. Geboostert sind noch deutlich weniger.
Allerdings rührt die geringe Zahl aus einer extremen Spaltung her. Während in vielen Unternehmen und Bundesstaaten die Impfquote bei deutlich über 80 Prozent liegt, stagniert sie in anderen bei um die 50 Prozent. Darum hoffen auch die USA inzwischen darauf, dass mit der aktuellen Omikron-Welle eine Grundimmunität der Bevölkerung aufgrund der Durchseuchung entsteht. Der Glaube daran, mit Zwang zum Ziel zu kommen, wird womöglich bald überholt sein.
Die Radikalen aber bleiben selbst dann eine Gefahr. "Ich glaube, die Anzahl der Menschen, die von den Fehlinformationen im Zusammenhang mit der Anti-Impf-Bewegung beeinflusst werden, wurde unterschätzt", sagte Anthony Fauci jüngst in einem Interview mit MSNBC. Diese Bewegung sei "sehr beunruhigend". Der oberste Gesundheitsberater des US-Präsidenten wird regelmäßig von Impfgegnern mit dem Tod bedroht.
Experten in den USA warnen davor, dass die wachsende Macht der Anti-Impf- und Maskenpflicht-Bewegung die Gefahr birgt, eine antistaatliche Stimmung immer weiter zu fördern. Es ist eine Bewegung, die international extrem gut vernetzt ist. In Deutschland warnen darum die Innenministerkonferenz und auch die Bundesinnenministerin Nancy Faeser vor zunehmend antistaatlichen Tendenzen in der Szene und deren politischem Arm, der AfD.
- Eigene Recherchen vor Ort
- The Economist: Do vaccine mandates actually work? (englisch)
- Pew Research Center: States have mandated vaccinations since long before COVID-19 (englisch)
- Time: How the Anti-Vax Movement Is Taking Over the Right (englisch)
- John F. Kennedy Presidential Library and Museum (englisch)