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Experte Tanjev Schultz: "Die 'Bild'-Zeitung wird nicht mehr so ernst genommen"


Kriselndes Boulevardmedium
"Die 'Bild'-Zeitung wird nicht mehr so ernst genommen"

InterviewVon Marc von Lüpke

12.04.2021Lesedauer: 6 Min.
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Verlagsgebäude von Axel Springer: Die Zeitung hat nach Ansicht des Experten Tanjev Schultz an Einfluss verloren.Vergrößern des Bildes
Verlagsgebäude von Axel Springer: Die Zeitung hat nach Ansicht des Experten Tanjev Schultz an Einfluss verloren. (Quelle: Jürgen Heinrich/imago-images-bilder)

Immer wieder wird die "Bild" für ihre Methoden kritisiert. Aber wie mächtig ist sie noch? Der Journalistikprofessor Tanjev Schultz erklärt, warum das Internet Segen und Fluch zugleich für die Zeitung ist. Und warum ihre Kampagnen nicht mehr verfangen.

t-online: Professor Schultz, seit vielen Jahrzehnten will die "Bild"-Zeitung den Deutschen bei der Meinungsbildung behilflich sein. Allerdings gelingt ihr das in der Gegenwart kaum noch. Warum?

Tanjev Schultz: Die "Bild"-Zeitung wird nicht mehr so ernst genommen, wie sie es wohl gerne hätte. Was die Redaktion vermutlich schmerzt und kränkt. Gründe dafür gibt es mehrere.

Die gedruckte Auflage ist in den vergangenen Jahren stark gesunken.

Richtig. Aber digital ist die "Bild"-Zeitung nach wie vor sehr stark. Und trotz der Einbußen bei verkauften Zeitungen ist sie immer noch unbestritten die auflagenstärkste Tageszeitung in Deutschland. Doch tatsächlich haben viele Menschen gewisse Abwehrkräfte gegen die "Bild"-Zeitung und ihre Art des Boulevard-Journalismus entwickelt. Man kann es als Resilienz bezeichnen. Oft sind die Leser schlauer, als man das bei der "Bild"-Zeitung vielleicht denkt.

Wie betreibt die "Bild" denn ihre Form des Journalismus?

Die "Bild"-Zeitung ist der Inbegriff der Boulevard-Methode. Sie liefert einen permanenten Strom an "Sensationen", manche Menschen werden zu Helden stilisiert, andere selbstverständlich zu Schurken. Vor allem aber werden sämtliche Themenbereiche durchweg emotionalisiert und dramatisiert. Man "stolpert" buchstäblich bei der Lektüre von einer angeblichen Heldengeschichte in der Politik zu einem Drama rund um ein Haustier und landet dann irgendwann auch noch beim Sportteil. Alles durchaus geschickt aufbereitet, sodass die Menschen selbst im Vorbeigehen am Kiosk noch die Botschaft erfassen können.

Oder im Internet auf bild.de klicken.

Wobei das Internet Segen und Fluch zugleich ist. Denn einerseits sind die Inhalte im Netz sehr schnell konsumierbar, andererseits gibt es auch viel Konkurrenz. Die "Bild"-Zeitung will aber, dass sie permanentes Gesprächsthema der Menschen ist. Etwa in der Kantine, wenn die Leute Pause von der Arbeit machen.

Tanjev Schultz, Jahrgang 1974, ist Professor am Journalistischen Seminar und am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu seinen Schwerpunkten zählt die Ethik des Journalismus. Schultz arbeitete lange Jahre selbst als Journalist, unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung".

Das klappt aber nicht immer.

Nein, beziehungsweise im umgekehrten Sinn. Denn Forschung und Umfragen belegen, dass viele Menschen Teile der "Bild"-Zeitung eher als Unterhaltung empfinden. Und nicht gerade als verlässliche Quelle für Nachrichten, mit denen man substanziell informiert wird. Also kann auch durchaus bei der eigentlichen Zielgruppe kritisch über Inhalte der "Bild"-Zeitung diskutiert werden. Das mag jetzt flapsig klingen, aber mit der "Bild" ist es wie mit Fast Food: Jeder weiß, dass Fast Food nicht die gesündeste Art der Ernährung ist. Trotzdem greifen wir immer wieder zu.

Bisweilen bleibt das Fast Food aber ungegessen. Bei der "Bild"-Zeitung empfinden offenbar viele Leser eine Mischung aus Abstumpfung, Widerstand und Faszination für Übertreibungen. Welchen Einfluss hat die "Bild"-Zeitung wirklich auf die deutsche Gesellschaft?

Diese Frage ist umstritten. Tatsächlich gab und gibt es kritische Stimmen, die angesichts der Berichterstattung in Form eines permanenten Ausnahmezustands Gefahren für die mentale Gesundheit unserer Gesellschaft fürchten. Und auch für die demokratischen Grundlagen. Weil die "Bild"-Zeitung immer wieder gesellschaftspolitische und emotionale Grenzen verwischt und überschreitet. Frei nach dem Motto: Keine Überschrift ohne Ausrufezeichen. Übrigens ist die "Bild" keineswegs das einzige Medium, bei dem ich die Gefahr der Boulevardisierung ernsthafter Themen sehe.

Wo noch?

Wenn wir uns im Internet bewegen, finden sich zum Beispiel bei Instagram oft Methoden wieder, die auch die "Bild"-Zeitung anwendet – und das sogar bei Angeboten sogenannter Qualitätsmedien. Ob das im Sinne eines gedeihlichen Zusammenlebens der Menschen ist? Das wage ich zu bezweifeln. Dauererregung kann destruktiv sein.

Vor allem braucht es immer stärkere Emotionen, um den Erregungszustand aufrechtzuerhalten. Der Virologe Christian Drosten hat dies erfahren, als die "Bild"-Zeitung ihm besondere Aufmerksamkeit widmete.

Die "Bild"-Zeitung hatte sich auf eine Studie Drostens zu Kindern innerhalb ihrer Corona-Berichterstattung gewissermaßen eingeschossen. Der Boulevard neigt zu einer Einteilung der Welt in Schwarz und Weiß, was auch den Populismus auszeichnet. Wir haben Ähnliches bereits bei anderen Themen gesehen, so etwa bei der sogenannten Flüchtlingskrise 2015, davor bei der Griechenland- und Eurokrise. So etwas nimmt sehr schnell Züge und Struktur einer politischen Kampagne an. Was auch daran liegt, dass im Boulevardjournalismus die klassische Trennung zwischen Nachricht und Meinung von vornherein aufgehoben ist.

Diese Trennung gilt als Grenze zwischen seriösen und boulevardesken Medien.

Wobei sich auch Nachrichtenmagazine wie der "Spiegel" nicht unbedingt daran halten. Das liegt daran, dass es dort eigene Darstellungsformen gibt: den Magazinbericht, manchmal auch "News-Story" genannt. Er lebt von einer thesenartigen Aufbereitung aktueller Themen. Auch dort mischen sich Information, Einordnung und Bewertung. Für gute Magazinberichte wird aber solide und fair recherchiert, und das Publikum bekommt genügend Fakten präsentiert, die die These untermauern. Im Boulevard bleibt es dagegen weitgehend bei der plakativen These und einer übertriebenen Emotion.

Worin besteht die Gefahr, wenn ein Medium wie die "Bild"-Zeitung eine Kampagne gegen etwas oder jemanden betreibt?

Das ist in der Tat höchst problematisch. Denn in einem solchen Fall verlässt ein Medium die Rolle des beobachtenden Berichterstatters und schwingt sich dazu auf, selbst Politik zu machen. Das konnte man bei der "Bild"-Zeitung in der Vergangenheit durchaus beobachten.

Also ist beziehungsweise war es der Anspruch der "Bild"-Zeitung, mit Kampagnen aktiv Politik zu gestalten?

In gewisser Weise. Die "Bild", aber auch andere Medien, neigen dazu, den Leuten erklären zu wollen, was für eine Stimmung angeblich gerade unter ihnen herrscht. Nehmen wir das Beispiel Lockdown: Da wird behauptet, die Leute würden ihn nicht mehr mittragen. Aber stimmt das wirklich? Stützen die Umfragen diese Behauptung? Eher nicht.

Aber es stand in der Zeitung.

Genau. "Bild" und andere Boulevardblätter rechtfertigen sich mit dem Argument, dass sie im Prinzip nur das aufgreifen würden, was ohnehin an Stimmungen in der Bevölkerung vorherrsche. Durch diese Art der Berichterstattung kommt es dann tatsächlich zu Rückkopplungen und Einflussnahmen. Aber zum Glück sind viele Menschen in einem gewissen Maße resilient dagegen geworden. Anders gesagt: Die "Bild"-Zeitung kann nicht mehr jede Sau durchs Dorf treiben.

Hat die "Bild"-Zeitung denn noch die Kraft, Kampagnen zu fahren?

Zum Teil. Womöglich würde die "Bild" auch heute noch gerne über das Wohl und Wehe von Politikern mitentscheiden. Aber die Kraft, die sie früher einmal hatte, ist zum Beispiel aufgrund der sinkenden Auflage geschwunden.

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Und der starken Konkurrenz im Netz?

Das ist ein weiterer Faktor. Morgens sorgt eine Schlagzeile für Aufsehen, aber in der digitalisierten Welt wird sie mit Sicherheit bald durch eine andere ersetzt. Das macht es schwierig, Themen zu setzen. Selbst für ein Medium mit sehr hoher Reichweite. Dem wird begegnet, indem man die betreffende Geschichte weiterdreht, sie oft auch "anschärft". Dem wirkt entgegen, dass andere Medien mit ebenfalls hoher Reichweite durch die Möglichkeiten des Internets sehr schnell Widerspruch erheben oder eine andere Darstellung liefern können, falls etwas nicht stimmt oder übertrieben ist. Das ist eine durchaus positive Entwicklung.

Aber noch einmal: Wie einflussreich ist die "Bild"-Zeitung heute noch?

Man darf die "Bild"-Zeitung nicht unterschätzen. Sie ist immer noch enorm reichweitenstark und fungiert weiterhin als Leitmedium. Die Entscheider in der Politik und auch andere Redaktionen haben immer ein Auge auf sie. Die Themen der "Bild" werden schon aus diesem Grund für wichtig erachtet, das ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Viele Prominente und Spitzenpolitiker lassen sich auch weiterhin auf die "Bild"-Zeitung ein – und versuchen so, sie in gewisser Weise im Griff zu haben.

Andererseits hält die "Bild" diese Leute genauso im Griff.

Selbstverständlich.

Der frühere Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg etwa stand hoch in der Gunst der "Bild", bis er 2011 wegen einer Plagiatsaffäre zurücktreten musste.

Guttenberg ist ein gutes Beispiel für die schwindende Kampagnenfähigkeit der "Bild"-Zeitung. Sie hat auch bei der Plagiatsaffäre noch ordentlich zu Guttenbergs Gunsten getrommelt. Es hat nur nichts genützt, weil sich eine Gegenmacht im Internet formiert hatte.

Zuletzt machte die "Bild"-Zeitung selbst Schlagzeilen, gegen Chefredakteur Julian Reichelt wurden interne Compliance-Ermittlungen wegen Verfehlungen im Umgang mit Mitarbeiterinnen durchgeführt. Nach deren Abschluss wurde ihm mit Alexandra Würzbach eine Frau bei der Leitung an die Seite gestellt. Wird diese Personalie die "Bild"-Zeitung verändern?

Ich kenne die Details der internen Ermittlungen nicht, aber dass die Vorwürfe offenbar eingehend untersucht wurden, ist zunächst einmal positiv. Dass sich mit der neuen Doppelspitze an der Art, wie die "Bild"-Zeitung Journalismus betreibt, etwas grundlegend ändern wird, bezweifle ich allerdings. Denn Alexandra Würzbach steht als Chefin der "Bild am Sonntag" nicht für einen völlig anderen Typ von Journalismus.

Ist es denn Journalismus, den die "Bild" betreibt? Im vergangenen Jahr wurden in Solingen fünf tote Kinder aufgefunden, gegen die Mutter wurde ein Prozess wegen Mordes eröffnet. Die "Bild"-Zeitung zitierte aus den telefonischen Nachrichten eines elfjährigen Überlebenden. Die Empörung war groß.

Wenn wir den Begriff Journalismus mit einem hohen normativen Anspruch versehen, dann lautet die Antwort: Nein, was die "Bild"-Zeitung betreibt, ist oft kein Journalismus. Die Berichterstattung über den Fall in Solingen war ja nur eine von vielen Grenzüberschreitungen, wenn ich an all die Verstöße gegen das Persönlichkeitsrecht denke, die allein in den vergangenen Monaten vom Presserat gerügt wurden. Natürlich gibt es auch bei "Bild" Bereiche, wo man nicht mit den Auswüchsen des Boulevards in Berührung kommt. Aber jeder bei "Bild" bewegt sich in dieser "Kultur" und diesem Umfeld.

"In meinem Alltag kommt die 'Bild-Zeitung' nicht vor" – mit diesen Worten hat Christian Drosten die "Bild" im letzten Jahr kritisiert. War das eine gute Reaktion?

Sie war jedenfalls souverän.

Professor Schultz, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Gespräch mit Tanjev Schultz
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