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Zapfenstreich der Bundeskanzlerin: "Doch wir glauben dir, Frau Merkel"


Abschied der Kanzlerin
"Doch wir glauben dir, Frau Merkel"

MeinungVon Wladimir Kaminer

Aktualisiert am 03.12.2021Lesedauer: 3 Min.
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Kanzlerin mit Zapfenstreich verabschiedet: Bei der Zeremonie bekam Angela Merkel wässrige Augen. (Quelle: Reuters)

Mit gutem Gewissen darf die ewige Kanzlerin Angela Merkel "Tschüss" sagen, ihr Amt verlassen und Sanddornkonfitüre kochen gehen.

In Deutschland verabschieden sich die Staatsoberhäupter mit lustiger Musik aus dem Amt. Sie lassen sich mit einem Zapfenstreich feierlich von einem Militärorchester in die Rente begleiten. Das ist eine große Errungenschaft der demokratischen Gesellschaft, die ihrem Führungspersonal ein Leben nach dem Amt gönnt. In anderen Ländern ist ein solches Leben keine Selbstverständlichkeit.

In meiner Heimat, der Sowjetunion galt ein Staatsoberhaupt als gescheitert, wenn er zu Lebzeiten sein Amt verließ. Diese seltenen Fälle hinterließen einen bitteren Geschmack der Erfolglosigkeit, gar des Verrats des Amtsinhabers. Sollte ein Staatsoberhaupt lebendig sein Amt verlassen, so hieß es später, er habe es nicht geschafft, seine Macht zu stärken und zu behalten, hatte eben keine Führungsqualitäten.

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Einmal an die Macht gekommen, blieb der Herrscher in der Regel auf seinem Stuhl bis zum letzten Atemzug kleben und wurde danach zur traurigen Musik mit den Füßen nach vorne rausgetragen. Seine Amtszeit endete mit einer öffentlichen Begräbniszeremonie, nur dann galt sein Werk als vollendet. Aus meiner Kindheit und Jugend erinnere ich mich an diese feierlichen Begräbniszeremonien, im Fernsehen wurde zu solchen Anlässen immer Tschaikowski gespielt, das Märchen-Ballett "Schwanensee". Der Tanz der kleinen Schwäne wurde im Ersten ausgestrahlt, noch bevor die traurige Nachricht von dem Abschied des aktuellen Generalsekretärs in der Regierungszeitung erschien.

Mit "Schwanensee" kommt die politische Wende

Mit der Zeit entstand bei der Bevölkerung ein Reflex, jedes Mal, wenn wir die kleinen Schwäne im Fernsehen sahen, dachte jedermann im Land an den Tod des Herrschers und eine baldige politische Wende. Denn jeder neue Herrscher fühlte sich berufen, alles umzukrempeln, von Neuem anzufangen und endlos zu regieren. Er wurde von seinem Umfeld zu einer ewigen Herrschaft quasi verpflichtet. Daran hat sich auch heute nichts geändert. "Ohne Putin kein Russland", behauptete neulich der Vorsitzende des russischen Parlaments, niemand wunderte sich über seine Aussage.

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Deswegen schauen meine in Deutschland lebenden Landsleute mit großer Neugier die hiesigen feierlichen Abschiede. Erstaunlich, aber wahr, Frau Bundeskanzlerin konnte nach ihrer schier endlosen Regierungszeit über sich die Rosen regnen lassen und mit gutem Gewissen "Tschüss" sagen, "Ich habe mein Bestes getan und gehe jetzt in Frieden, die Sanddornkonfitüre kochen, wir sehen uns vielleicht später auf Hiddensee wieder." Und niemand fragt sich, kann es ein Deutschland ohne Merkel geben? Wird der neue Kanzler auch die gleiche Autorität in Europa und der Welt besitzen? Wird Annalena auch so einfühlsam mit den Autokraten und Diktatoren reden können, wie Frau Merkel es tat, die bekannterweise sich selbst ihr eigener Außenminister war. Ja, die Neuen werden es irgendwie schaffen, Deutschland geht an einem politischem Machtwechsel nicht unter, das weiß ich aus Erfahrung.

Das Lied erzählt von den uralten Zeiten

Frau Merkel ist nämlich nicht die erste Person, die sich in meiner Anwesenheit in Deutschland mit lustiger Musik aus dem hohen Amt verabschiedet. Ich kann mich gut an Helmut Kohl erinnern, den obersten deutschen Wiedervereiniger. Rustikal und lebensfroh war er nach ebenfalls 16 Jahren Kanzlerschaft mit dem großen Kurfürsten Reitermarsch von uns in die Pfalz geritten. Nach ihm kam Gerhard Schröder, der seine kurze und turbulente Kanzlerschaft mit "Summertime" beendete, einem Song über das süße Leben in der Sonne. Als wüsste er damals noch nicht, dass er schon sehr bald gar nicht im Süden, sondern im endlosen russischen Schneereich seinen nächsten Posten beziehen und auf Gazprom-Gerd hören wird.

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit rund 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört "Russendisko". Kürzlich erschien sein neuestes Buch "Die Wellenreiter. Geschichten aus dem neuen Deutschland".

Die Musikauswahl von Frau Merkel hat nichtsdestotrotz viele überrascht. Das Lied von Nina Hagen "Du hast den Farbfilm vergessen" erzählt von den uralten Zeiten, als man noch einen speziellen Apparat zum Fotos machen brauchte. Man musste dazu noch in einem Fotoladen einen Film kaufen und ihn in den Apparat laden. Je nachdem, welchen Film man gekauft hat, waren die Fotos in Farbe oder schwarz-weiß. "Du hast den Farbfilm vergessen, lieber Michael…" Was wollte uns Frau Merkel mit diesem Song über ihre Kanzlerschaft sagen?

Meinte sie vielleicht, die Deutschen und die Welt haben ihre Tätigkeit als Bundeskanzlerin nur grob geschätzt, quasi schwarz-weiß gesehen, viele Schattierungen, Abwandlungen und Varianten waren uns entwischt?

Nun sitz ich wieder bei dir und mir zu Haus
Und such die Fotos fürs Fotoalbum aus
Ich im Bikini und ich am FKK
Ich frech im Mini, Landschaft ist auch da, ja
Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael
Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön's hier war haha, haha

Doch wir glauben dir, Frau Merkel, wir nehmen deine Botschaft wahr. Es war sicher nicht immer schön, aber du hast es geschafft. Wir werden dich gut in Erinnerung behalten.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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