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Bundespräsident Steinmeier besucht Malyj Trostenez in Weißrussland: Verantwortung verteidigen


Steinmeier besucht Vernichtungslager
"Mehr als 600 Dörfer wurden ausgelöscht"

Aus Malyj Trostenez und Minsk, Jonas Schaible

Aktualisiert am 29.06.2018Lesedauer: 4 Min.
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Frank-Walter Steinmeier, Alexander Lukaschenko, Alexander van der Bellen: Gemeinsames Gedenken.Vergrößern des Bildes
Frank-Walter Steinmeier, Alexander Lukaschenko, Alexander van der Bellen: Gemeinsames Gedenken. (Quelle: Nikolai Petrov/BelTA Pool/ap)

Bundespräsident Steinmeier besucht eine NS-Mordstätte in Weißrussland – die größte auf dem Boden der Ex-Sowjetunion. In seiner Rede macht er klar: Fremdenhass und Nationalismus sind nicht vergangen.

Die größte deutsche Vernichtungsstätte in der ehemaligen Sowjetunion liegt eine halbe Autostunde von der weißrussischen Hauptstadt Minsk entfernt. Auf dem Weg hierher passiert man wenige Menschen, wenige Autos, wenige Dörfer. Jahrzehntelang war hier nicht viel, nur Wald. Der Schreckensort Malyj Trostenez war ein Nicht-Ort. Man kennt Auschwitz, auch Treblinka oder Babi Jar. Wer kennt Malyj Trostenez?

Die Nationalsozialisten ließen Menschen im Lager arbeiteten, bis sie starben. Nicht weit entfernt erschossen und vergasten sie Zehntausende im Wald, verscharrten ihre Leichen, gruben sie später wieder aus, um sie zu verbrennen und um die Knochen zu zermahlen. Sie wollten alles vergessen machen. Nichts sollte bleiben.

Seit einigen Jahren ist hier wieder etwas. Der Nicht-Ort wird zum Ort.

Jetzt wurde der zweite Teil der Gedenkstätte fertig gestellt, im Wald Blagowtschina, wo Nazi-Henker Juden, Partisanen und Zivilisten hinrichteten.

"Ich schäme mich"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist extra für die Eröffnung angereist. Es ist der erste Staatsbesuch eines deutschen Staatsoberhaupts in Weißrussland. Steinmeier macht keinen Hehl daraus, dass er damit auch ein Signal nach Deutschland senden will. Wenn eine Partei den Nationalsozialismus verharmlost, dann müssen die anderen erst recht auf dessen Brutalität hinweisen. "Ich schäme mich ebenso für verharmlosende Begriffe, die jüngst für die Zeit des Nationalsozialismus von deutschen Politikern verwendet wurden", sagte er in einem Interview vor der Reise. Man kann das so verstehen: Die AfD hat den ohnehin wichtigen Besuch noch wichtiger gemacht.

Am Morgen allerdings bremst den Bundespräsidenten eine Panne. Das Flugzeug hat Probleme, darf nicht starten. Die Delegation muss in eine Ersatzmaschine umsteigen. So beginnt das Gedenken 20 Minuten später als geplant. Gemeinsam schreiten Steinmeier, der österreichische Präsident Alexander van der Bellen und der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko auf eine Bühne zu, vorbei an Statisten, gekleidet wie Gefangene. Auf Leinwänden flackern Videoflammen. Es läuft Beethoven, später die Filmmusik aus "Schindlers Liste".

Ganze Dörfer wurden ausgelöscht

Zuerst spricht Lukaschenko, dann tritt Steinmeier auf die Bühne. "Maljy Trostenez erreichten die Mordkommandos im Frühjahr 1942", sagt er. Die deutsche Wehrmacht führte damals einen Vernichtungskrieg, vor allem in der heutigen Ukraine und Weißrussland. Systematisch brachte sie die jüdische Bevölkerung um und alle, die im Weg waren. "Mehr als 600 Dörfer wurden samt ihrer Bewohner ausgelöscht", erinnerte Steinmeier. In Malyj Trostenez erschossen die Nazis die meisten ihrer Opfer. Stilisierte Gruben erinnern jetzt daran, wie die Menschen verscharrt wurden.

Während Steinmeier spricht, leuchten hinter der Bühne gelbe Schilder an Bäumen. Darauf stehen Namen: Jakob Kuh. Helene Kuh. Eduard Hahn, Emma Hahn. Ilse Hahn. Darunter jeweils drei Daten: Das Geburtsdatum. Das Deportationsdatum. Der Tag, an dem sie ermordet wurden.

Die Opferzahlen sind umstritten

Es sind deutsche Namen, keine weißrussischen. Denn die Nazis führten Buch über ihre Deportationen aus Berlin, Hamburg oder Wien, aber nicht über die Verschleppungen in den eroberten Gebieten.

Niemand vermag deshalb sicher zu sagen, wie viele Menschen genau hier starben. Gut 206.000 seien es gewesen, stellte eine Sowjet-Kommission direkt nach dem Krieg fest. Mindestens 60.000 Toten seien es wohl gewesen, sagen Forscher heute. In Weißrussland hält man indes an den alten Ergebnissen fest.

Eine Chance für die Diplomatie

Die Reise ist deshalb auch eine Chance für die Diplomatie: Für Steinmeier der Anlass, die Kontakte mit Weißrussland zu vertiefen, die schlecht sind, weil Lukaschenko Oppositionelle einsperren lässt, seit 24 Jahren diktatorisch regiert und die Todesstrafe erlaubt. Steinmeier nutzt die Gelegenheit für demütige Worte: "Ohne die Bereitschaft Weißrusslands zur Versöhnung wäre diese Zusammenarbeit undenkbar." Und dann: "Umso tiefer ist meine Demut, umso dankbarer bin ich." Weißrussland müsse als Land ins deutsche Bewusstsein rücken.

Lukaschenko nähert sich dem Westen an, er betreibt eine schillernde Außenpolitik, sucht in Russland, China und Europa gleichermaßen nach Unterstützung und Vorteilen. Es sei nötig, sagt er in seiner Rede nach einer Schweigeminute, "einen neuen breit angelegten internationalen Dialog zu starten". Beim gemeinsamen Treffen sollte auch belarussische Innenpolitik und die Zusammenarbeit zwischen Weißrussland und der EU Thema sein.

Über lange Zeit wurde Lukaschenko als "letzter Diktator Europas" beschrieben, was immer so klingen sollte, als sei es damit bald vorbei, die Demokratisierung erfolgreich abgeschlossen, seine Zeit bald vorbei. Ans Ende der Geschichte glaubt heute allerdings kaum jemand mehr. Also muss man miteinander zurechtkommen, also kann man auch miteinander sprechen, sich annähern, durch Diplomatie.

Eine Botschaft an die Deutschen

Das zentrale Thema des Besuchs ist dennoch das mahnende Gedenken. Dass am Ende weiße Tauben aus dem Kiefernwald aufsteigen, dass die Streicher vom Band und der Chor von der Tribüne sich um mehr zusätzliche Melodramatik bemühen, als in Deutschland üblich wäre: egal.

Doch während Alexander van der Bellen, in dessen Land eine extrem rechte Partei mitregiert und in dem der Innenminister früher Kontakte in die Neo-Nazi-Szene hatte, ein wachsendes Bewusstsein für die Verbrechen des Nationalsozialismus in seinem Land sieht, mahnen die anderen beiden in erstaunlicher Einigkeit vor einem Erstarken der Menschenfeindlichkeit.

"Die Weltgemeinschaft wird erneut mit Dämonen und Intoleranz konfrontiert, die den Hass entfachen und die Gewalt auslösen", sagte Lukaschenko in seiner Rede. Steinmeier formuliert es so: "Heute besteht die Verantwortung darin, das Wissen um das, was hier geschah, lebendig zu halten. Ich versichere Ihnen, wir werden diese Verantwortung auch gegen jene verteidigen, die sagen, sie werde abgegolten durch verstrichene Zeit."

Da spricht er nicht mehr nur zum Publikum im Wald Blagowtschina, zu den Staatsgästen und Überlebenden und Wissenschaftlern; seine Worte richten sich an die deutsche Bevölkerung. Er spricht an einem Ort, der einen Namen hat: Malyj Trostenez.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen vor Ort
  • Ausstellungskatalog "Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung"
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