Warum die meisten Vorurteile ΓΌber Politiker nicht stimmen
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung ΓΌbernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Sie verdienen zu viel und arbeiten zu wenig. Und vom richtigen Leben haben sie eh keine Ahnung. So lauten die Klischees ΓΌber Politiker. Doch wer genauer hinsieht, merkt rasch: Die RealitΓ€t sieht in der Regel anders aus.
Bundestagsabgeordnete reisen und fliegen fΓΌr lau durchs Land, der Fahrdienst des Bundestages chauffiert sie zu den EmpfΓ€ngen, HΓ€ppchen hier, Weinchen dort. Sie verdienen viel, erfreuen sich ΓΌppiger Γbergangsregelungen und einer opulenten Altersversorgung, sie werden hofiert und haben keine Ahnung vom Leben der Menschen, die sie wΓ€hlen.
Soweit das Klischee ΓΌber die Privilegien und FΓ€higkeiten unserer Volksvertreter.
Und dann sind da noch die Bilder aus dem Plenum. Ein entleerter Reichstag, ein paar Dutzend Abgeordnete verlieren sich auf den PlΓ€tzen. Arbeiten die dort oder gehen Abgeordnete in Berlin vor allem spazieren? Ist das der Stress, der unsere Parlamentarier mΓΌrbe macht?
Die ordentliche Entlohnung
Wenig davon stimmt. ZunΓ€chst zur Entlohnung: Das Gehalt β DiΓ€ten genannt und derzeit 10.083 Euro monatlich hoch β orientiert sich an den EinkΓΌnften eines Richters an einem Obersten Bundesgericht.
Aktuell hinken die DiΓ€ten allerdings um etwa 950 Euro hinter dem Richtergehalt her, da die Abgeordneten mehrfach auf eine ErhΓΆhung ihrer BezΓΌge verzichtet haben. AuΓerdem: DiΓ€ten mΓΌssen ganz normal versteuert werden, auch der Soli wird fΓ€llig und gegebenenfalls Kirchensteuer und die Krankenversicherung mΓΌssen daraus bestritten werden.
Und dann fallen da noch die informellen Abgaben an die eigene Partei an, den Landesverband, den Unterbezirk, den Ortsverein, und das sind lΓ€ngst nicht alle Zahlungen. Hier eine Spende, dort ein SolidaritΓ€tsbeitrag β in der Regel summieren sich die Abgaben auf einen betrΓ€chtlichen vierstelligen Betrag pro Monat.
Dass Abgeordnete die Bahncard 100 erhalten und auch innerdeutsch kostenlos fliegen dΓΌrfen, stimmt. Aber diese Privilegien besitzt auch jede FΓΌhrungskraft eines mittelstΓ€ndischen Unternehmens.
Die Herausforderungen im Wahlkreis
Ja, im Wahlkreis geht es fΓΌr die Abgeordneten in der Regel weniger eng getaktet zu als in Berlin. Und ja, sie sind in der Regel die hofierten EhrengΓ€ste, sitzen in der ersten Reihe, erfahren eine besondere BegrΓΌΓung. Aber der Wahlkreis ist auch der Ort, an dem die Abgeordneten dem βwahren Lebenβ begegnen, also jenen Menschen, die sie wΓ€hlen und sie mit ihren ganz alltΓ€glichen NΓΆten und Sorgen konfrontieren.
Das Klischeebild von der "Berliner Blase" klammert aus, dass die Abgeordneten neben ihrem Leben in der Hauptstadt ein zweites Leben fΓΌhren β das in ihrem Wahlkreis. Und da sind sie Nachbar und nahbar.
Aber die Herausforderungen sind auch zu Hause sehr spezielle. Vor allem die GrundaggressivitΓ€t allem Politischen gegenΓΌber hat zugenommen. "Die Leute brauchen ein Feindbild", klagt ein Abgeordneter. "FΓΌr die einen sind es die AuslΓ€nder, fΓΌr die anderen die Politiker oder ganz allgemein 'Die da oben'". Und nirgendwo sind sie vor Ansprache sicher, im Supermarkt, an der Ampel, an der Tankstelle.
"Du musst zuhΓΆren, du musst interagieren kΓΆnnen", sagt der Marburger SPD-Mann SΓΆren Bartol, "auch wenn es gerade nicht passt". So geben viele von ihnen, wenn es zu heftig wird, inzwischen hart Kontra. "Ich lasse mir das nicht mehr gefallen", sagt die SPD-Abgeordnete Ute Vogt, "ich sage ihnen dann: Und ich bin nicht ihr FuΓabtreter!"
Die brutale Γffentlichkeit
NatΓΌrlich, der Abgeordnete braucht die Γffentlichkeit. Ohne die Medien brΓ€chte er seine Botschaften nicht unter die Leute. Also sucht er den Kontakt. Aber Journalisten sind hΓ€ufig auch Transporteure des Unheils. Sie sind die Scharfrichter, die Fehler kritisieren, Meinungswechsel geiΓeln, Klientelpolitik verurteilen. Erst aus der Zeitung erfahren die Abgeordneten, was die eigenen Kollegen wirklich ΓΌber sie denken. Die permanente Γffentlichkeit ist Elixier, trΓ€gt aber auch zum dauerhaft hohen Stresslevel der Akteure bei. Und zu ihrer VerhΓ€rtung.
Wenig bleibt unbeobachtet, kaum etwas unkommentiert, und die sozialen Medien tragen ihren Teil dazu bei. So wie bei Sascha Raabe aus Hanau, dem ein User im Netz vorwarf, er habe als AchtjΓ€hriger einen Ball gegen Raabes Auto geschossen. Raabe sei ausgestiegen und habe gerufen: "Du behinderter Spast, was fΓ€llt dir ein, den Ball gegen das Auto zu treten?"
Es stellte sich heraus, nichts an dem Vorwurf war wahr. Der User wollte einfach Klicks generieren. Mit einer komplett erfundenen Geschichte. Raabe: "Hauptsache, es gibt Klicks! Was gibt es Schlimmeres fΓΌr Politiker, als sich gegen solche VorwΓΌrfe wehren zu mΓΌssen? Zumal wenn sie frei erfunden sind."
"Es wird wenig gelobt, und man bekommt ganz viel Kritik ab", berichtet auch CDU/CSU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus. "Man muss die Menschen schon sehr lieb haben, um manches davon noch ertragen zu kΓΆnnen."
Der hohe Preis im Privatleben
Der Druck, die Konkurrenz, die Γffentlichkeit hinterlassen Spuren. Im Privatleben, in der Psyche, im Auftreten der Abgeordneten. Nur wenige kΓΆnnen sich davon befreien. Es ist ein besonderer Beruf. "Ich habe mich in der Γffentlichkeit immer anders bewegt, als ich eigentlich wollte", gesteht eine ehemalige Abgeordnete.
Und permanent ist da die Gefahr der Entfremdung. Von der Freundin, vom Ehemann, vom langjΓ€hrigen LebensgefΓ€hrten. "Du bist zwei Wochen am StΓΌck in Berlin, kommst nach Hause und hast eigentlich nur ein Thema ΓΌber das du reden willst", berichtet der fraktionslose Abgeordnete Marco BΓΌlow. NΓ€mlich ΓΌber Berlin. Gleichzeitig schwindet das Interesse an alten Freunden und die Energie, sich auf deren Lebenswelten einzulassen. Zeit sie zu treffen, ist ohnehin kaum noch vorhanden. "Du bist krΓ€ftemΓ€Γig auch gar nicht mehr dazu in der Lage", sagt BΓΌlow.
Und das leere Plenum?
Debattiert wird in Sitzungswochen im Reichstag ohnehin nur zwischen Mittwochmittag und Freitagnachmittag. Beteiligt sind daran in der Regel nur die Abgeordneten der zustΓ€ndigen FachausschΓΌsse.
Und die anderen? Die nicht im Reichstag sitzen? Sie sitzen nicht in der Sonne, sondern erledigen Akten im BΓΌro, beantworten Anfragen, empfangen Besuchergruppen, lesen sich ein, geben Interviews, stimmen die Fraktionslinie ab oder folgen einer Einladung. Und das oft bis spΓ€t in den Abend.
Die Arbeitszeit von Abgeordneten liegt selten unter 60 Stunden pro Woche und betrΓ€gt fΓΌr stellvertretende Fraktionsvorsitzende oder StaatssekretΓ€re gerne auch mal 80 Stunden. Auch die AfD hat irgendwann bemerkt, dass viel Arbeit liegen bleibt, wenn ihre Leute allzu viel Zeit im Plenum verbringen.
Die MΓ€r vom gepolsterten Ausstieg
Wer aus dem Bundestag ausscheidet, freiwillig oder herausgewΓ€hlt, bekommt Γbergangsgeld, fΓΌr jedes Jahr ParlamentszugehΓΆrigkeit eine MonatsdiΓ€t. FΓΌr acht Jahre Bundestag also acht Monate Γbergangsgeld.
Das reicht meist nicht lange. Als die Sozialdemokratin Lilo Friedrich 2005 nach zwei Legislaturperioden aus dem Bundestag flog, verdingte sie sich jahrelang als Putzfrau. SPD-FΓΌhrungsmann Carsten Schneider kennt viele, "die dann Schwierigkeiten hatten, einen Job zu finden".
Γberhaupt ist der Abschied vom Bundestag eine der grΓΆΓten Herausforderungen. "Einen Augenblick kam es mir so vor, als ob es mich nicht mehr geben wΓΌrde", erzΓ€hlte Nina Hauer, SPD, als sie einst den Bundestag verlassen musste.
Noch einmal Carsten Schneider: "Das Schwierige ist die Γffentlichkeit; du bist sie gewohnt, stehst immer im Mittelpunkt, bist wichtig und hast Aufmerksamkeit." Und dann plΓΆtzlich, von einem Tag auf den anderen, nicht mehr. Es entsteht eine Leere, mit der viele lange nicht zurechtkommen. Selbst die nicht, die sich aus eigenen StΓΌcken fΓΌr den Ausstieg entschieden haben.
Die in GastbeitrΓ€gen geΓ€uΓerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.