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Corona in Deutschland: So lässt sich die Verbreitung sofort stoppen


Experte zum Coronavirus
So lässt sich die Verbreitung in Deutschland sofort stoppen

  • Annika Leister
InterviewAnnika Leister

Aktualisiert am 08.01.2021Lesedauer: 5 Min.
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Physikprofessor Dirk Brockmann berechnet die Virusausbreitung mit computergestützten Modellen.Vergrößern des Bildes
Physikprofessor Dirk Brockmann berechnet die Virusausbreitung mit computergestützten Modellen. (Quelle: teutopress/imago-images-bilder)

Ein Radius von nur noch 15 Kilometern für Menschen in Corona-Hotspots: Wissenschaftler Dirk Brockmann sieht den Vorstoß kritisch. Eine andere Maßnahme ist aus seiner Sicht viel wichtiger.

Die Bundesregierung empfiehlt den Ländern für Corona-Hotspots mit einer Inzidenz von mehr als 200 Fällen pro 100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen die Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Nur im Umkreis von 15 Kilometern um ihren Wohnort sollen sich Bürger dann noch bewegen können. Zweifel und Kritik an der Maßnahme sind groß. Doch wie bewerten das Experten?

Dirk Brockmann ist Physik-Professor an der Humboldt-Universität Berlin, für das Robert Koch-Institut und die Wissenschaftsakademie Leopoldina. Er arbeitet zu komplexen Systemen, Netzwerken und computergestützter Epidemiologie. Als Leiter des "Covid-19 Mobility Projects" des Robert Koch-Instituts hat er in den letzten Monaten untersucht, wie sich die Deutschen in der Corona-Krise bewegen.

Herr Brockmann, macht die 15-Kilometer-Begrenzung für Corona-Hotspots Sinn?

Jede Bewegung, die unterlassen wird, macht Sinn – weil sich Menschen vor allem bewegen, um Kontakte zu haben. Aber wenn man alle Bewegungen in Deutschland misst, dann finden nur 20 bis 30 Prozent davon über eine größere Distanz als 15 Kilometer statt. Das zeigen unsere Daten. 70 bis 80 Prozent aller Reisen trifft diese Regel also gar nicht. Die Maßnahme wird Wirkung haben, davon ist auszugehen. Aber wie groß diese Wirkung genau ist, wird später kaum genau nachzuweisen sein.

Nur 20 Prozent Reisen über 15 Kilometer, die Beschränkung aber trifft in einem Hotspot 100 Prozent der Bürger. Politiker und Juristen kritisieren das als unverhältnismäßig. Es gebe bessere, passgenauere Maßnahmen – zum Beispiel das Schließen von Skigebieten.

Ich lehne das Wort „unverhältnismäßig“ in diesem Zusammenhang ab. Da steckt „Verhältnis“ drin. Das suggeriert, dass man Zahlen zum Zusammenhang zwischen Kontakten und Reisen kennt, als könnte man einen Vorher-Nachher-Vergleich anstellen. Es gibt diese Daten nicht. Bisher wurde der Zusammenhang zwischen Reisen und der Anzahl der Kontakte nur wenig beziehungsweise unzureichend erforscht.

Aber es gibt Logik. Wer ins Auto steigt und mit der Familie alleine in den Wald fährt, ist keine Infektionsgefahr.

Natürlich steckt da im Einzelfall Wahrheit drin. Aber anekdotische Beispiele haben in der Pandemiebekämpfung keine Validität. Generell gilt: Jede Reise, die nicht unternommen wird, schadet nicht. Die Maßnahmen wirken immer in der Gesamtbevölkerung. Und sie haben immer auch einen psychologischen Effekt. Sie setzen das Signal: Die Lage ist ernst. Je stärker die Regel, desto intensiver nehmen die Leute das wahr. Manchmal genügt das, damit sie sich stark einschränken.

Die Gesundheitsämter hinken mit dem Melden der Infektionsfälle hinterher. Kann man auf dieser Basis so weitreichende politische Entscheidungen fällen?

Tendenziell gehen die Zahlen runter, aber darauf ist noch ein paar Tage kein Verlass. Die Infektionszahlen sind zurzeit nicht aussagekräftig. Es wird weniger getestet, die Gesundheitsämter melden noch Fälle von den Feiertagen nach. Aber eines gilt: Die Infektionszahlen können gerade nur unterschätzt werden, nicht überschätzt. Wenn, dann wird zu wenig gemeldet. Die Situation ist entweder so, wie sie sich jetzt darstellt - oder schlimmer. Und schon die Zahlen, wie sie sich jetzt darstellen, rechtfertigen weitreichende Maßnahmen.

Ein Virologe merkte heute an: Wenn man den Raum begrenze, laufe man Gefahr, dass sich die Menschen innerhalb des erlaubten Raums ballen – zum Beispiel im einzigen Park in der Umgebung.

Das klingt erstmal plausibel. Aber eine Evidenz gibt es dafür nicht. Es gibt aber auch keine Evidenz dafür, dass es nicht so ist. Dasselbe Problem hatten wir am Anfang bei den Masken. Da hieß es, es gebe keine Evidenz dafür, dass Masken tatsächlich helfen, Infektionen zu verhindern. Was man nicht dazugesagt hat: Dass es auch keine Evidenz dafür gibt, dass sie nicht helfen. Das war nicht so clever, wie wir an der Akzeptanz und den anhaltenden Diskussionen sehen.

Wird es denn die Evidenz jemals geben, also in diesem Fall: konkrete Zahlen zum Zusammenhang zwischen Reisen und Kontakten?

Man kann erheben, wo Kontakte stattfinden, über Apps geht das recht gut. Daher weiß man, dass zum Beispiel Orte wie Restaurants und Fitnesscenter eine große Rolle bei der Kontaktreduzierung spielen. Es gibt auch verschiedene Studien aus den USA, die das zeigen. In Deutschland macht der Datenschutz solche Erhebungen schwieriger, aber nicht unmöglich.

Taugt die Corona-App dazu?

Eine Erweiterung der Corona-App könnte erfassen, wo Risikobegegnungen stattfinden. Vielversprechender sind aber andere Ansätze wie beispielsweise die Luca-App, bei der Nutzer sich partizipativ in Orte "einloggen", ein Kontakttagebuch führen und – wenn gewünscht – Daten sofort an die Gesundheitsämter weitergegeben werden.

Wie hat sich die Mobilität in der Krise verändert?

Das typische Bewegungs-Profil ist 2020 total aufgeweicht. Früher war die Mobilität an Freitagen und Sonntagen sehr hoch. Wir gehen davon aus: Weil viele Menschen von ihrem Arbeitsort nach Hause gependelt sind, zu ihren Familien. Jetzt ist sie insgesamt niedriger, an Freitagen und Sonntagen ist sie besonders stark gesunken. Das dürfte daran liegen, dass viele Leute schon dort arbeiten, wo sie das Wochenende verbringen wollen. Der Anteil an langen Reisen war allerdings im ersten Lockdown sehr viel reduzierter als jetzt im zweiten. Die Leute waren viel disziplinierter, sie haben sich stärker beschränkt.

Verboten werden sollen in Hotspots nur Privatreisen, Berufspendeln bleibt weiter erlaubt. Auch in vielen Büros wird noch gearbeitet. Ist das nicht absurd in Zeiten der 1-Personen-Regel – und Wirtschaft auf Kosten des Infektionsschutzes?

Es gibt leider keine konkreten Daten dazu, wie hoch der Anteil von privatem und beruflichem Reisen in der Krise ist. Natürlich würde es noch mehr bringen, alles einzustellen. Aber dann würden vielleicht auch bestimmte Prozesse nicht mehr funktionieren, die eine Gesellschaft am Laufen halten. Ich halte es aber für wichtig alle Berufsaktivitäten, die auch im Homeoffice gemacht werden können, dort auch zu machen.

Sie sagen, die Menschen waren im ersten Lockdown im Frühjahr sehr viel disziplinierter. Woran liegt das – wo doch die Infektionszahlen im Dezember wesentlich höher waren?

Es liegt an der wachsenden Corona-Müdigkeit. Es gibt Umfragen und Studien dazu, die sich sehr gut mit unseren Erhebungen decken. Seit dem Herbst sind die Menschen erschöpft von der Krise, der Beschränkungen müde geworden. Seitdem reisen sie auch wieder mehr und weiter.

Diese Müdigkeit wird mit der Zeit weiterwachsen. Und hohe Zahlen und Appelle scheinen nicht mehr zu wirken. Wie will man die Leute noch zum Mitmachen bewegen?

Das ist die Gretchenfrage. Wir brauchen einen System-Switch, glaube ich. Die Dauer des Lockdowns würde ich nicht mehr von einem Datum abhängig machen – sondern von der Inzidenz. Man sagt nicht mehr, wie bisher: Der Lockdown dauert vier Wochen und dann gucken wir mal, ob wir’s geschafft haben. Sondern man sagt: Erst wenn die Inzidenz wieder unter 50 oder besser noch unter 25 ist, wird der Lockdown beendet. Dann würden Menschen morgens auf die Infektionszahlen schauen, nicht auf den Kalender, und Krisenbewältigung vielleicht stärker als gemeinsame Kraftanstrengung verstehen.

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Neben der Bewegungsbeschränkung hat die Bundesregierung auch die Ein-Personen-Regel eingeführt.

Das ist die sinnvollste Regel überhaupt! Andere Länder, zum Beispiel Belgien, haben das auch gemacht und gute Erfahrungen gemacht. Es sprengt die Kontaktnetzwerke, zerstückelt sie. Das ist das wichtigste.

Viele Menschen handhaben es so, dass sie nur eine Person pro Tag treffen – aber jeden Tag eine andere.

Auch das hilft schon. Man kann das gut berechnen: Treffe ich mich einmal am Tag mit 10 Leuten, kann ich 10 anstecken. Treffe ich mich nur mit einer, kann ich an diesem Tag nur eine anstecken. Wir müssen aber noch weiter gehen. Eigentlich müssten wir uns so verhalten, als seien wir alle infiziert. Zwei Wochen lang, ein totaler Stopp von Kontakten, deutschlandweit – dann hat das Virus keine Chance.

Verwendete Quellen
  • eigenes Interview
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