Urteil kommt fünf Stunden zu spät Jesidische Familie abgeschoben – Eilantrag lief parallel

Das Massaker an den Jesiden durch den IS erkennt der Bundestag als Völkermord an. Nun wurde eine jesidische Familie aus Lychen abgeschoben. Als das Urteil zu ihrem Bleiberecht kam, war ihr Abschiebeflug in Leipzig schon gestartet.
Eine jesidische Familie mit vier minderjährigen Kindern aus Brandenburg ist in den Irak abgeschoben worden – auch wenn sie am selben Tag Erfolg mit einem Eilantrag gegen die Abschiebungsandrohung hatte. Ein Sprecher des Brandenburger Innenministeriums sagte, die Familie sei am Dienstag mit einem Flug von Leipzig aus abgeschoben worden. Für das Asylverfahren ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zuständig, für die Abschiebung das Land Thüringen. Das Verwaltungsgericht Potsdam hob fast zeitgleich am Dienstag eine Entscheidung auf, nach der die Familie ausreisepflichtig war. Zuvor berichtete der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB).
Das Bundesamt erklärte, in jedem Fall werde individuell geprüft, ob ein Schutz nach dem Asylgesetz erteilt werde. "Dabei dürfen Integrationsleistungen, so löblich sie auch sind, nicht berücksichtigt werden", teilte ein Sprecher der Deutschen Presse-Agentur mit. "Bei der Zuerkennung von Schutztiteln geht es ausschließlich um die Gefahr, die Antragstellenden bei einer möglichen Rückkehr in ihr Herkunftsland droht." Integrationsleistungen könnten aber eine Rolle bei der Entscheidung über Duldung eine Rolle spielen. Dazu könne das Bundesamt aber aufgrund fehlender Informationen keine Aussagen tätigen.
Langwieriges Gerichtsverfahren
Die sechsköpfige Familie, die laut RBB seit 2022 in Lychen in der Uckermark lebte, klagte 2023 gegen die Ablehnung ihres Antrags auf internationalen Schutz und die Androhung der Abschiebung vor dem Verwaltungsgericht. Da die Ansprüche auf Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz aus Sicht des Bamf offensichtlich nicht vorlagen, wurde der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Dies hatte eine Ausreisepflicht von einer Woche zur Folge. Subsidiärer Schutz greift, wenn weder Flüchtlingsschutz noch Asylberechtigung gewährt werden können und ernsthafter Schaden droht.

Völkermord an den Jesiden
Die Jesiden sind eine Minderheit, die im Norden des Irak an der Grenze zu Syrien lebt. Zwischen 2014 und 2016 wurden bis zu 10.000 Jesiden durch den Islamischen Staat ermordet, Tausende Frauen wurden entführt und vergewaltigt. Der Bundestag erkannte die Verbrechen des IS 2023 als Völkermord an. Die Menschenrechtsgruppe "Pro Asyl" bezeichnet die Lage im Norden des Irak als "lebensgefährlichen Brennpunkt".
Die Familie wollte per Eilantrag die aufschiebende Wirkung der Klage erreichen, das wies das Verwaltungsgericht im April 2023 ab. Damit war die Familie unabhängig vom Ausgang der Klage ausreisepflichtig. Im April 2025 verhandelte das Gericht über die Klage auf Zuerkennung des internationalen Schutzes. Das Urteil dazu wurde der Familie noch nicht zugestellt.
Urteil kommt nach Start des Abschiebeflugs
Am Dienstag stellte die Familie beim Verwaltungsgericht einen Eilantrag, um den Eilbeschluss von April 2023 zu ändern. Doch da war die Abschiebung per Flug schon eingeleitet. Die Maschine startete nach Angaben von Flightradar um 10.52 Uhr. Das Gericht hob die frühere Entscheidung nach Angaben eines Sprechers um 15.30 Uhr auf, weil es wegen neuerer Umstände Zweifel hatte, dass die Ablehnung des Flüchtlingsschutzes durch das Bamf als offensichtlich unbegründet rechtmäßig war.
Dabei ging das Gericht davon aus, dass das Bedürfnis nach Rechtsschutz noch besteht, weil es davon ausging, dass die Abschiebung nicht vollzogen war und die Familie die Transitzone des Flughafens Bagdad noch nicht verlassen hatte. Beim Bamf ging der Antrag um 12.17 Uhr ein. Das Brandenburger Innenministerium hatte beim Bundesamt vor der Abschiebung nachgefragt, ob es Gründe dagegen gebe, was laut Ministerium verneint wurde. Zu welchem Zeitpunkt das war, war zunächst unklar.
Die Grünen fordern die Rückholung der Familie. "Deutschland muss die jesidische Familie umgehend zurückholen, damit wir uns nicht am Genozid beteiligen", sagte der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Max Lucks, dem Magazin "Focus". Lucks verlangte zugleich den Rücktritt des Präsidenten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Hans-Eckhard Sommer. Das Bundesamt breche mit der Abschiebung mit Recht und Moral. Sommer sei damit nicht länger tragbar in seinem Amt als Bamf-Chef, sagte Lucks.
Auch die Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal zeigte sich empört: "Es ist ein Skandal, dass die Überlebenden eines Genozids, die Opfer von Islamismus, abgeschoben werden", sagte sie dem "Focus". Tekkal forderte ebenfalls, die Familie müsse "umgehend nach Deutschland zurückgeholt werden."
Bundestag spricht von IS-Völkermord an Jesiden
Der Bundestag hatte 2023 Verbrechen der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Jahr 2014 an den Jesidinnen und Jesiden als Völkermord anerkannt. Die Terrormiliz zielte auf die Vernichtung der vor allem in der nordirakischen Sindschar-Region lebenden Minderheit ab. Zehntausende Menschen wurden getötet, verschleppt, versklavt und misshandelt.
Die Sicherheitslage im Irak ist nach Jahrzehnten der Kriege und politischer Unruhen weiterhin angespannt. Mit dem Abschiebeflug von Leipzig nach Bagdad waren am Dienstag 43 Menschen in den Irak gebracht worden.
- Nachrichtenagentur dpa