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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Macron besucht Merz in Berlin Es fliegen die Fetzen

Ein Großteil der EU fordert von Israel ein sofortiges Ende des Gaza-Krieges. Deutschland unterstützt die Initiative nicht und ist in dieser Frage in Europa zunehmend isoliert. Kanzler Merz bleibt jedoch im Fahrwasser von Donald Trump.
Eigentlich hätten einige Fußballfans Friedrich Merz heute auf einer Tribüne eines Fußballstadions in der Schweiz erwartet. Schließlich trifft Deutschland am späten Abend im Halbfinale der Frauen-Europameisterschaft auf Spanien. Aber der Kanzler bleibt in Berlin, empfängt dort den französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Noch am Montag hatte Regierungssprecher Stefan Kornelius erklärt: Merz sei ein "fanatischer Anhänger dieser Frauen-EM".
Ob am Mittwochabend im Kanzleramt irgendwo im Hintergrund ein Fernseher laufen wird, ist unklar. Immerhin war es ausgerechnet die deutsche Mannschaft, die Frankreich am Wochenende denkbar knapp im Elfmeterschießen aus dem Turnier warf. Zwar hat sich der Bundeskanzler bei seinem Amtsantritt im Mai die Stärkung der deutsch-französischen Beziehungen auf die Agenda gesetzt, aber beim Fußball hört die Freundschaft bekanntlich auf.
Aber bestehen die Differenzen nur beim Sport? In der Tat gibt es noch immer einige ungelöste Konflikte zwischen Deutschland und Frankreich.
Dabei sticht vor allem der unterschiedliche Umgang mit dem Krieg zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen heraus, bei dem bereits Zehntausende Zivilisten durch israelische Bomben starben. Während Macron sich immer deutlicher gegen die israelische Kriegsführung positioniert, sieht Merz Deutschland fest an der Seite Israels – eine Position, die die Bundesregierung in Europa zunehmend isoliert.
Deutschland beteiligt sich nicht an Erklärung
Das wurde in dieser Woche besonders deutlich: Insgesamt 28 westliche Staaten hatten eine Initiative zur sofortigen Beendigung des Krieges im Gazastreifen unterzeichnet. "Wir, die unten aufgeführten Unterzeichner, haben eine einfache und dringende Botschaft: Der Krieg im Gazastreifen muss jetzt enden", heißt es in einem am Montag veröffentlichten Brief. Unter den Unterzeichnern sind neben Frankreich drei Viertel aller EU-Staaten – und wichtige Verbündete wie Japan, Großbritannien, Australien oder Kanada.

Wer sind die 28 Unterzeichner der Gaza-Erklärung?
Australien, Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Japan, Kanada, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, Schweiz, Slowenien, Spanien, Zypern, sowie die EU-Kommissarin für Gleichberechtigung und Krisenvorsorge, Hadja Lahbib.
Unter den europäischen Führungsmächten steht Deutschland also ziemlich allein da. Neben der Bundesregierung unterzeichneten in Europa lediglich einige Balkanstaaten sowie Tschechien, Slowakei und Ungarn die Erklärung nicht.
Die Rollenverteilung zwischen Merz und Macron in dieser für viele EU-Staaten sicherheitspolitisch und humanitär wichtigen Frage scheint klar: Während Frankreichs Präsident eine Führungsrolle in Europa einnimmt, steht der Bundeskanzler mehr und mehr am Pranger. Deutschland ist innerhalb der EU eine zu wichtige politische Kraft, um sich in der Haltung zu Gaza einen Alleingang leisten zu können. Entscheidungen der Bundesregierung haben in anderen politischen Fragen meist politische Signalwirkung, für viele Länder in Europa.
Dabei duckt sich Deutschland nicht aus der Gesamtverantwortung. Die damalige Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) setzte sich massiv für humanitäre Unterstützung für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen ein, und ihr Nachfolger Johann Wadephul (CDU) setzt diese Arbeit bislang nahtlos fort.
Aber das ist ein Kampf gegen Windmühlen. Der Einsatz der deutschen Regierung hat bislang kaum einen praktischen Effekt auf das Geschehen im Gazastreifen. Die Hamas benutzt die eigene Bevölkerung als Schutzschild, und die israelische Führung führt den Krieg nicht nur nahezu kompromisslos weiter, sie ließ auch in diesem Jahr drei Monate keine Hilfsgüter nach Gaza – trotz Mahnungen und Warnungen aus dem Westen. Im Angesicht Zehntausender palästinensischer Opfer und der Zerstörung eines Großteils der Gebäude im Gazastreifen möchten viele EU-Staaten nicht weiter zusehen.
Wadephul: Deutschland "nicht neutral"
Deutschland vertritt bekanntlich eine andere Position. Die Bundesregierung argumentiert einerseits, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei: Deutschland habe nach den Nazi-Verbrechen an Juden eine besondere Verantwortung für den Staat Israel. Das werde unter den westlichen Verbündeten durchaus gesehen und akzeptiert, erfuhr t-online von europäischen Diplomaten. Doch es wachse gleichzeitig auch das Unverständnis darüber, weil die Tötung so vieler unschuldiger Menschen eben auch nicht im israelischen Sicherheitsinteresse sei.
Dieser politische Zwiespalt findet sich aktuell auch innerhalb der schwarz-roten Koalition wieder.
Die Union steht zum gegenwärtigen Kurs. Niemand könne von Deutschland verlangen, Israel im Stich zu lassen, das vom Iran, von den Huthis, der Hisbollah und der Hamas bedroht werde, sagt etwa Außenminister Wadephul in einem "Zeit"-Interview. Deutschland könne in dem Konflikt kein "neutraler Mittler" sein, "weil wir parteiisch sind. Wir stehen an der Seite Israels."
Ähnlich äußerte sich der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Jürgen Hardt bereits am Dienstag in der "FAZ": "Der Bundesaußenminister hat die Erklärung nicht unterschrieben, da sie die gefühlte Isolation der israelischen Regierung nur verstärkt." Wie Regierungssprecher Kornelius am Mittwoch erklärte, habe die Bundesregierung eine gemeinsame Linie in der Frage.
Das sieht die SPD-Fraktion im Bundestag aber offensichtlich anders. Ihr außenpolitischer Sprecher Adis Ahmetović sagt t-online: "Es wäre angebracht, Fehler einzugestehen und diese zu korrigieren, indem man die Erklärung nachträglich unterzeichnet." In Zukunft sei es wichtig, dass die deutsche Position in der Frage im Gesamtkabinett auch mit dem Koalitionspartner "intensiv im Vorfeld beraten" werde. "Eine andauernde außenpolitische Isolation Deutschlands in Bezug auf europäische Friedensinitiativen im Nahen Osten wäre ein ernstzunehmendes Problem – nicht nur für unsere Glaubwürdigkeit", meint Ahmetović. "Aus europäischen Diplomatenkreisen höre ich große Irritationen über das deutsche Verhalten, das uns weiter in dieser Frage isoliert." Es fliegen bereits die Fetzen. Mehr dazu lesen Sie hier.
Viele Streitthemen, kaum Zeit
Deutschland scheint in einer politischen Sackgasse zu stehen – das ist aber nicht erst seit der Merz-Regierung so. Auch die Ampel unter Olaf Scholz tat sich schwer, die eigenen Mahnungen gegenüber der israelischen Führung mit politischem Handeln zu unterfüttern. Vielmehr tut Merz auch das, was die Union in anderen Fragen als Scholz' Fehler bezeichnet hatte: Er bleibt im politischen Fahrwasser der USA, denn auch Präsident Donald Trump verzichtet bisher auf politische Maßnahmen gegen die israelische Regierung.
Der Krieg in Gaza ist aber nicht das einzige Thema, mit dem sich Macron und Merz am Mittwoch beschäftigen müssen. Immerhin drohen allen EU-Staaten Anfang August Zölle auf US-Importe von 30 Prozent, mit großen negativen Folgen, vor allem für die deutsche Wirtschaft. Außerdem streiten Deutschland und Frankreich über die Entwicklung eines gemeinsamen Kampfjets, dem "Future Combat Air System" (FCAS) – ein Projekt, welches durch die Uneinigkeiten kurz vor dem Aus steht.
Und es geht weiterhin um die Unterstützung der Ukraine, die finanziell auf neue Beine gestellt werden muss, weil die Amerikaner unter Trump nicht mehr zahlen möchten. Hier wünscht sich die Bundesregierung auch von Frankreich mehr aktive Unterstützung, aber die französische Regierung steckt selbst in großen finanziellen Schwierigkeiten.
Die Themenliste für Merz und Macron ist dementsprechend lang, wie bei vielen Treffen dieser Art im Angesicht der aktuellen Krisen. All diese Themen sind zeitkritisch, dulden keinen Aufschub. Aber vielleicht wagt vor allem der Bundeskanzler doch gelegentlich einen Blick auf das Ergebnis des EM-Spiels am heutigen Abend. Denn falls Deutschland gewinnt – so hat er es zugesagt – wird er zum Finale in die Schweiz reisen. Trotz des gegenwärtigen Krisensturms.
- tagesschau.de: SPD-Fraktion fordert mehr Druck auf Israel
- zeit.de: Koalition bei Gaza uneins: CSU stellt sich gegen SPD
- israelnetz.com: 28 Staaten fordern Ende von Israels Kampfhandlungen
- spiegel.de: CDU-Außenpolitiker für Sanktionen gegen israelische Regierung
- Nachrichtenagenturen dpa und rtr