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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Polit-Beben in der Ukraine Selenskyj öffnet die Büchse der Pandora
In ukrainischen Großstädten gab es am Dienstag die ersten Proteste gegen die Regierung seit dem russischen Überfall. Präsident Selenskyj sieht sich wegen der Unterzeichnung eines umstrittenen Gesetzes scharfer Kritik ausgesetzt.
Wolodymyr Selenskyj hat ein innenpolitisches Beben ausgelöst, dessen Folgen für ihn und seine Regierung noch kaum absehbar sind. Der ukrainische Präsident unterzeichnete am Dienstagabend ein Gesetz, das die Unabhängigkeit der zwei wichtigsten Antikorruptionsbehörden des Landes stark beschneidet. Obwohl unter dem Kriegsrecht verboten, protestierten Medien zufolge Tausende Menschen in Kiew, Lwiw, Odessa und Dnipro gegen das Gesetz – die ersten Proteste dieser Art seit dem russischen Überfall im Februar 2022.
Das Gesetz unterstellt das Nationale Antikorruptionsbüro (Nabu) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (Sapo) dem Generalstaatsanwalt. Letzterer wird vom ukrainischen Präsidenten ernannt. Kritiker halten es daher für ausgeschlossen, dass die Antikorruptionsbehörden künftig ohne Zustimmung des Präsidenten Ermittlungen gegen hochrangige Beamte durchführen können. Selenskyj war 2019 vor allem mit dem Versprechen, die Korruption zu bekämpfen, ins Amt gewählt worden.
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Der Präsident hingegen bezichtigt die Behörden, unter russischem Einfluss zu stehen. Noch am Dienstagabend versprach er: "Die Infrastruktur zur Korruptionsbekämpfung wird funktionieren, aber nur ohne russischen Einfluss – dieser muss beseitigt werden." Es solle "mehr Gerechtigkeit" herrschen. Selenskyj suggerierte zudem, dass Nabu und Sapo nicht effizient arbeiteten: "Es ist wichtig, dass der Generalstaatsanwalt entschlossen ist, dafür zu sorgen, dass in der Ukraine die Unvermeidbarkeit der Bestrafung für diejenigen, die gegen das Gesetz verstoßen, tatsächlich gewährleistet ist."

Die Proteste gegen ihn dürften für die ukrainische Führung zur Unzeit kommen, da an diesem Mittwoch in Istanbul erneut Verhandlungen mit Russland stattfinden. Moskau stellt die ukrainische Regierung stets als korrupt und westliche Marionetten dar. Für die russische Propaganda sind die Vorgänge in Kiew also ein gefundenes Fressen. Überdies aber droht Selenskyj nicht nur, den heimischen Rückhalt zu verlieren, sondern auch den politischen Weg seines Landes gen Westen langfristig zu blockieren.
Razzien und Festnahmen bei Antikorruptionsbehörde Nabu
Aber was war passiert? In den vergangenen Wochen hatten sich die Ereignisse in der Ukraine überschlagen. Ende Juni wurde bekannt, dass der damalige Vize-Premierminister der Ukraine, Oleksij Tschernyschow, vom Nabu als einer von sechs Verdächtigen eines laut der Behörde "großangelegten" Korruptionskomplotts aufgeführt wird. Tschernyschow und seine Mitarbeiter sollen während seiner Amtszeit als Minister für Gemeinden und Territorien von 2020 bis 2022 Grundstücke unterbewertet haben, um dem Bauträger einen Vorteil zu verschaffen. Der Staat soll so rund 20,5 Millionen Euro verloren haben. Tschernyschow gilt als enger Vertrauter Selenskyjs.
Vor knapp zwei Wochen wurde zudem Vitalij Schabunin, Chef der Nichtregierungsorganisation Anti-Corruption Action Center, wegen mutmaßlicher Wehrdienstverweigerung und Betrug angeklagt. Schabunin meldete sich jedoch bereits direkt nach dem russischen Überfall zur Armee. Darüber hinaus kämpfte er lautstark gegen Korruption. Seiner Ansicht nach ist die Anklage eine Racheaktion der Politik wegen seines Aktivismus.
Dann durchsuchte der Inlandsgeheimdienst SBU am Montag im Rahmen einer Razzia beim Nabu 80 Räumlichkeiten. Zudem nahm der SBU Ruslan Mahamedrasulow, einen der Leiter der interregionalen Ermittlungsabteilungen des Nabu, sowie einen weiteren Mitarbeiter der Behörde wegen mutmaßlicher Kontakte nach Russland fest.
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Das Nabu wies die Vorwürfe zurück, beklagte Gewaltanwendung gegen seine Mitarbeiter bei den Razzien und dass diese ohne richterlichen Beschluss ausgeführt worden seien. Und auch die G7-Staaten drückten per gemeinsamer Erklärung ihrer Botschafter bereits am Montag ihre Bedenken angesichts der Razzien bei den Antikorruptionsbehörden aus. "Wir alle teilen das gemeinsame Engagement für Transparenz, unabhängige Institutionen und gute Regierungsführung und schätzen unsere Partnerschaften in der Ukraine, um gemeinsam gegen Korruption vorzugehen", hieß es in dem kurzen Statement auf der Plattform X.
Gesetz im Schnellverfahren durchgesetzt
Am Dienstag dann peitschten die Abgeordneten der Wechowna Rada, dem ukrainischen Parlament, den umstrittenen Gesetzentwurf durch, Nabu und Sapo wurden dem Generalstaatsanwalt unterstellt. In letzter Minute wurden dabei die umstrittenen Passagen zu Nabu und Sapo in den Text eines eigentlich alten Gesetzes aufgenommen, das bereits in erster Lesung angenommen worden war. In der zweiten Lesung stimmten dann 263 Parlamentarier den Änderungen zu, vorrangig Mitglieder der Regierungspartei Diener des Volkes. Dazu gab es 13 Nein-Stimmen und 13 Enthaltungen. Im Anschluss wurde das Gesetz Selenskyj im Eilverfahren zur Unterzeichnung vorgelegt.
Im Anschluss gaben Nabu-Chef Semen Krywonos und der Chefankläger für Korruptionsbekämpfung, Oleksandr Klymenko, eine gemeinsame Pressekonferenz. "Tatsächlich wurde die Infrastruktur zur Korruptionsbekämpfung durch die Stimmen von 263 Parlamentsabgeordneten abgeschafft", erklärte Krywonos. "Die beiden unabhängigen Institutionen Nabu und Sapo werden damit praktisch vollständig abhängig gemacht."
EU besorgt – Beitritt der Ukraine gefährdet?
Die Maßnahme könnte der Ukraine auch außenpolitisch schaden. Die mit der Erweiterung des Staatenbündnisses beauftragte EU-Kommissarin Marta Kos bezeichnete den Vorgang als "schweren Rückschritt". Unabhängige Organisationen wie die beiden Antikorruptionsbehörden seien für den ukrainischen Weg in die EU von "entscheidender Bedeutung", schrieb sie am Dienstag auf X. "Die Rechtsstaatlichkeit bleibt im Mittelpunkt der EU-Beitrittsverhandlungen." Die Ukraine ist seit Juni 2022 offiziell Kandidat für den EU-Beitritt.
Die Bekämpfung der weitverbreiteten Korruption ist eine wichtige Voraussetzung für den von der Ukraine angestrebten Beitritt zur EU und die Sicherung milliardenschwerer westlicher Hilfsgelder. Im vergangenen Jahr belegte die Ukraine im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International den 105. Platz von 180 Staaten, verlor dabei im Vergleich zu 2023 jedoch einen Punkt. In Europa wird damit nur in Russland und Belarus ein höheres Korruptionsniveau wahrgenommen. Serbien liegt mit der Ukraine gleichauf.
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Angesichts der Kritik aus dem Westen und der ersten Proteste in großen Städten schien Selenskyj am Mittwoch bemüht, die Wogen zu glätten. Er kündigte nach einem Treffen mit Vertretern von Antikorruptions- und Sicherheitsbehörden die Ausarbeitung eines Plans zur Korruptionsbekämpfung binnen zwei Wochen an. "Wir alle hören, was die Gesellschaft sagt. Wir sehen, was die Menschen von den staatlichen Institutionen erwarten – nämlich eine garantierte Gerechtigkeit und das effektive Funktionieren jeder Einrichtung."
Demonstranten erinnern an Maidan-Revolution
Die Einrichtung von Nabu und Sapo war eine große Errungenschaft des Euromaidan 2014, der monatelangen Proteste gegen die Entscheidung des damaligen Präsidenten Janukowytsch, das geplante EU-Assoziierungsabkommen nicht zu unterzeichnen. Janukowytsch ließ die Proteste mit Waffengewalt brutal niederschlagen. Allein ab dem 18. Februar verloren 100 Menschen ihr Leben, darunter 16 Polizisten. Weitere 20 Zivilisten starben an ihren Verletzungen.
Janukowytsch erließ damals die sogenannten Diktaturgesetze, die Massenproteste und freie Meinungsäußerung verbieten sollten. Daran fühlten sich nun nicht nur manche Demonstranten in Kiew erinnert. Die ukrainische Zeitung "The Kyiv Independent" zitierte eine Teilnehmerin der Proteste am Dienstagabend: "Heute kehren wir im Wesentlichen zum 16. Januar 2014 zurück – einer Zeit, in der unser Land von einer Diktatur bedroht war." Jedoch sehen längst nicht alle Ukrainer das Gesetz derart drastisch.
"Sicherlich nicht der klügste Zug der Regierung Selenskyj"
Der Kiewer Journalist Denis Trubetskoy stört sich vor allem an der Art und Weise, wie das neue Gesetz durchgesetzt wurde: "Im Eiltempo, ohne größere Diskussion und dann wurde auch noch kurzfristig der Gesetzestext geändert", erklärte Trubetskoy t-online. "Das war sicherlich nicht der klügste Zug der Regierung Selenskyj." Über die Motive des ukrainischen Präsidenten kann auch Trubetskoy nur spekulieren. Er vermutet einen Zusammenhang mit dem Regierungswechsel in den USA im Januar.
Zur Person
Denis Trubetskoy (geb. 1993) ist freier Journalist in Kiew und berichtet für verschiedene deutschsprachige Medien über die Ukraine, Belarus und Russland. Geboren wurde er in Sewastopol auf der Krim, in Moskau studierte er Journalistik. Deutsch lernt Trubetskoy schon seit er 14 ist – als er begann, über die Fußball-Bundesliga zu berichten.
"Es ist ja kein Geheimnis, dass die Vorgängerregierung von Joe Biden großen Wert auf den Anti-Korruptionskampf in der Ukraine gelegt hat", erklärt der Journalist. "Aber die Zeiten in den USA haben sich geändert und es ist davon auszugehen, dass der Regierung Trump dieses Thema ziemlich egal ist." Zugleich hält Trubetskoy die Aufregung über die neue Gesetzeslage für übertrieben. "Es ist ja an sich kein Problem, wenn Staatsanwälte politisch weisungsgebunden sind, das ist in den meisten Ländern der Welt so, auch in Deutschland."
Trotzdem sei es ein radikaler Schritt von Selenskyj – der auch den Kampf gegen die Korruption im Land gefährden könnte, glaubt Trubetskoy. "Aber tatsächlich ist auch das Vertrauen in Nabu und Sapo in der Bevölkerung jenseits des politisch aktiven Teils der Gesellschaft ziemlich gering. In der jüngsten Umfrage dazu vom Institut Zentr Rasumkowa vom März sagten 62 Prozent der Befragten, dass sie beiden Behörden misstrauen."
Dennoch glaubt Trubetskoy nicht, dass die Regierung Selenskyj über die jüngsten Vorgänge stürzen wird. "Da muss man schon unterscheiden zwischen der Aufregung in den sozialen Medien und der Gesellschaft insgesamt", erklärt der Journalist. "Das Thema hat kein großes Protestpotenzial, nicht viele Menschen sind bereit, dafür auf die Straße zu gehen."
- Telefoninterview mit Denis Trubetskoy, 23. Juli 2025
- Eigene Recherche
- kyivindependent.com:"'We know how to stand up for our rights' — Ukrainians protest law threatening anti-corruption institutions" (englisch)
- pravda.com.ua: "Head of NABU detective department detained on suspicion of selling industrial hemp to Russia" (englisch)
- politico.eu: "Why are Ukrainians mad at Zelenskyy?" (englisch)
- cpi.ti-ukraine.org: "Anti-Corruption on Hold: Ukraine in the Corruption Perceptions Index – 2024" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur Reuters