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Ukraine-Krieg und Wladimir Putin: Wir müssen über Angela Merkel reden


Tagesanbruch
Wir müssen über Angela Merkel reden

MeinungVon Sebastian Späth

Aktualisiert am 19.03.2022Lesedauer: 4 Min.
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Andere Zeiten: Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Russlands Machthaber Wladimir Putin 2012 im Kreml.Vergrößern des Bildes
Andere Zeiten: Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Russlands Machthaber Wladimir Putin 2012 im Kreml. (Quelle: Reuters-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

manchmal reicht ein einziger Tag, um die Vergangenheit in einem anderen Licht zu sehen. Der 24. Februar dieses Jahres war so einer, der Tag des russischen Einmarschs in die Ukraine.

Nicht wenige im politischen Berlin fordern nun, dass die 16 Jahre Kanzlerschaft von Angela Merkel neu bewertet werden müssen, unter ihnen nicht nur Gegner, sondern auch ihr zuvor durchaus Wohlgesonnene.

Merkel habe nicht nur eine völlig falsche Strategie verfolgt, nachdem Wladimir Putin völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim annektiert hatte. Sie habe auch nichts dafür getan, um die Abhängigkeit Deutschlands von der russischen Energieversorgung zu reduzieren. Deshalb, so ihre Kritiker, trägt sie nun indirekt Schuld an den hohen Kosten und Folgen.

Es ist immer leicht, rückblickend ganz genau zu wissen, was man vorher hätte besser machen können. Fakt ist aber, dass Merkel selbst nach der Krim-Annexion 2014 forderte, die EU müsse die Energieversorgung durch Russland verringern. Ein Jahr später begann die Flüchtlingskrise und Merkel schien ihr Anliegen vergessen zu haben. 2019 ging sie dann dazu über, Warnungen vor einer zu großen Abhängigkeit von russischem Gas zurückzuweisen. Dass das Gegenteil richtig gewesen wäre, dürfte inzwischen auch dem Letzten klar sein.

Ungeachtet des Beitrages von Angela Merkel ist unstrittig: Ohne Lieferungen aus Russland kann die Versorgung Europas mit Energie für Wärme, Mobilität und Stromversorgung derzeit nicht gesichert werden.

Und durch unsere Gas- und Ölimporte spülen wir Tag für Tag zuverlässig Geld in Putins Kriegskassen. Geld, mit dem der Kremlchef seinen wahnsinnigen Plan finanziert, Russland zu dem zurückzuführen, was er für dessen alte Größe hält, ohne dabei vor Gräueltaten zurückzuschrecken.

Nicht vor der Denunziation einer ausländischen Regierung, die sich vor ihr Volk stellt, nicht vor der Verschleppung von Widersachern, wie dem Bürgermeister der südukrainischen Stadt Melitopol, der sich geweigert hatte, mit den russischen Soldaten zu kooperieren, nicht vor Bombardements mit zahlreichen zivilen Opfern, auch Kinder unter ihnen, nicht vor der gewaltsamen Niederschlagung zahlreicher Proteste im eigenen Land, nicht vor der Trennung ukrainischer Familien.

Putin will sich in die Geschichte einschreiben, zur historischen Figur werden, in einer Reihe mit Katharina II. und Peter I., die beide den Beinamen "Große" tragen. Indem er sich selbst zu erheben versucht, schmälert er zugleich die historische Bilanz von Angela Merkel.

Es war eine besondere Beziehung, die beide verband. Mit keinem anderen Staatschef sprach Merkel während ihrer Kanzlerschaft häufiger als mit Wladimir Putin. Er war schon im Amt als sie kam, und er ist es noch immer. Sie soll die einzige gewesen sein, die er respektierte. Treffen der beiden wirkten häufig wie das mentale Kräftemessen zweier kühl kalkulierender Machtmenschen, auch wenn heute viele daran zweifeln, dass Putin noch klar im Kopf ist.

Was bleibt von den Kanzlerinnenjahren 2005 bis 2021? Darüber spreche ich in unserem heutigen Podcast mit meinen Kollegen Miriam Hollstein und Sven Böll, hören Sie doch mal rein:

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Und noch etwas ist anders nach Merkels Weggang: Viel war im Vorfeld der vergangenen Bundestagswahl die Rede davon, Deutschland werde mit dem Abschied der Kanzlerin auch das Ende der Volksparteien erleben. Nie mehr würden Regierungen so stabil sein, wie sie es trotz aller Krisen in den 16 Jahren Merkel waren, so die düstere Prognose. Eine ähnliche Entwicklung also, wie wir sie schon länger im Ausland sehen. Genauso kam es: Zum ersten Mal braucht es drei Parteien für eine Regierungsmehrheit im Bund.

Angela Merkel taugt aber nicht als ewige Symbolfigur einer besseren Vergangenheit. Denn es ist nicht die Sehnsucht nach Stabilität, es sind die vielen Baustellen, die sie hinterlassen hat und die ihre Nachfolgeregierung jetzt beschäftigen. Das ist schon eindrücklich im Falle einer Kanzlerin, von der es stets hieß, dass sie die Dinge vom Ende her denke.

Außerdem erleben wir gerade, wie Koalitionspartner der Ampel lang gehegte Grundsätze über Bord werfen, einen nach dem anderen: Die SPD bekennt sich zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato und damit zu mehr Geld für die Bundeswehr. Bei den Grünen schließen einige die Verlängerung der Laufzeit von Kohlekraftwerken nicht mehr aus, eine noch bitterere Pille. Und dann ist da noch die FDP, die ihre ewige Predigt vom schlanken Staat und ausgeglichenen Haushalt vergessen zu haben scheint. Ausgerechnet Finanzminister Christian Lindner stellt die Staatsfinanzen auf den Kopf. Das alles zusammen erinnert doch sehr an die Art und Weise, wie Merkel mit großer Geschmeidigkeit Kernpositionen ihrer Partei räumte, wenn es der Zeitgeist erforderlich zu machen schien.

Was die alte Wahrheit belegt: Es sind in erster Linie Krisen, die Politik verändern.

Ihr

Sebastian Späth
Politischer Reporter im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @sebastianspaeth

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