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Ex-Familienministerin Anne Spiegel: Da ist noch was


Tagesanbruch
Ex-Ministerin Anne Spiegel: Da ist noch was

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 12.04.2022Lesedauer: 7 Min.
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Als Familienministerin setzte sich die nun zurückgetretene Anne Spiegel unter anderem für die Gleichstellung von Frauen und Männern ein.Vergrößern des Bildes
Als Familienministerin setzte sich die nun zurückgetretene Anne Spiegel unter anderem für die Gleichstellung von Frauen und Männern ein. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wenn der Hauptstadtjournalismus ein Opfer gefunden hat, geht es meistens nicht gut aus. So auch im Fall von Anne Spiegel, der zurückgetretenen Bundesfamilienministerin. Die Geschichte ihres Abstiegs erzählt viel über fachliches und charakterliches Unvermögen, aber auch über die Mechanismen des Medienbetriebs.

Der Reihe nach. Wochenlang versuchte Frau Spiegel, die Fehler in ihrem früheren Amt als Familienministerin und kommissarische Umweltministerin während der Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz auszusitzen. Das ganze Land schaute auf die Ukraine und nahm kaum Notiz von der strauchelnden Ministerin; erst durch Medienrecherchen änderte sich das in den vergangenen Tagen.

Gestürzt ist Frau Spiegel am Ende aber nicht über ihre Entscheidungen als Ministerin, sondern über ihren unbeholfenen Presseauftritt am Sonntagabend. Da sah man eine Amtsträgerin, die mit ihren Emotionen rang und das Gespür für souveräne Kommunikation verloren zu haben schien. Die Reaktionen überschlugen sich: Kritik, Spott und – für eine Politikerin die Höchststrafe – Mitleid. Die Leitartikler waren sich einig: Rücktritt, aber schnell!, donnerte es aus den Kommentaren, die pikanterweise fast alle von Männern verfasst worden waren. Auf Twitter kübelten die notorischen Wichtigheimer ihre Häme aus.

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Das wirkte. Wenn jemand so entblößt im Rampenlicht steht, so viele Fehler macht und dann auch noch von den eigenen Leuten im Stich gelassen wird, kann das nicht gut ausgehen. Deshalb konnte man in Berlin gestern die Stunden bis zum erwartbaren Rücktritt der Ministerin zählen, der dann am frühen Nachmittag immerhin noch so rechtzeitig erfolgte, dass sie ihr Ansehen nicht vollständig einbüßte. Können Politik und Medien nun also zur Tagesordnung übergehen, nächstes Thema, nächster Aufreger? Nicht so schnell, denn diese Personalie lehrt uns etwas.

Keine Frage: Anne Spiegel hat viele Fehler gemacht. Wochenlang im Urlaub zu weilen, während zu Hause mehr als 130 Tote geborgen wurden und Tausende Menschen verzweifelt zwischen den Trümmern ihrer Häuser standen, war mehr als eine politische Instinktlosigkeit. Auch ihre Reaktion auf kritische Fragen von Journalisten war fatal: Nur scheibchenweise räumte sie ihre Fehler ein, antwortete auf jede neue Enthüllung mit weiteren Ausflüchten.

Das passte zu ihrem Verhalten vor der Flut, das den Eindruck erweckte, das Image sei ihr wichtiger als die Facharbeit. Als sich das Wasser bereits bedrohlich staute, segnete sie eine beschwichtigende Pressemitteilung ihres Teams ab, in der sie mit dem Satz zitiert wurde: "Wir nehmen die Lage ernst, auch wenn kein Extremhochwasser droht." Ihre Mitarbeiter wies die Ministerin dabei an: "Konnte nur kurz draufschauen, bitte noch gendern (…), ansonsten Freigabe." War ihr also Gendersprache wichtiger als die genaue Kenntnis der bedrohlichen Lage?

Selbst als sich tags darauf das Ausmaß der Katastrophe offenbarte, schien Spiegel vor allem um ihr Ansehen bemüht zu sein. In einer SMS an ihren Pressesprecher schrieb sie: "Das Blame Game könnte sofort losgehen, wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben, wir alle Daten immer transparent gemacht haben, ich im Kabinett gewarnt habe, was ohne unsere Präventionsmaßnahmen und Vorsorgemaßnahmen alles noch schlimmer geworden wäre etc." Erst die Lage unterschätzen – dann so tun, als habe man alles richtig gemacht: Obgleich das in der Politik leider oft vorkommt, ist auch dieses Verhalten schwer verzeihlich.

Schlechtes Krisenmanagement, falsche Prioritäten, miserable Kommunikation: In der Politik sind das genug Gründe für einen Rücktritt – erst recht, wenn man den Rückhalt der eigenen Partei verliert. Trotzdem ist es falsch, Anne Spiegel in Bausch und Bogen zu verurteilen. Die Politik verliert mit ihr nicht nur eine Ministerin, die sich seit Jahren für die Rechte von Kindern und Familien einsetzt. Das Land verliert auch eine Frau, die zeigen wollte, dass beides geht: ein hohes Amt bekleiden und zugleich eine große Familie haben, mit allem, was dazugehört.

Was das wirklich bedeutet, kann wohl nur nachempfinden, wer sich selbst einmal in einer vergleichbaren Situation befunden hat. Es ist eine Ochsentour. Morgens um 5 Uhr aufstehen, die ersten E-Mails im Bad, Kinder anziehen, Marmelade vom Küchenfußboden wischen, während schon der erste Kollege anruft, dann Termine im Stakkato, zwischendrin Omas Besuch organisieren und ein Kind am Telefon trösten, weil es natürlich nie klappt, dass der Ehepartner das alles übernimmt, schnell die Presselage checken, böse Kommentare lesen, noch mehr Termine, Auftritte, vielleicht auch Interviews, ein weiteres Mal mit dem Kind telefonieren, weil es immer noch Kummer hat, abends ein Geschäftsessen, nachts um zwei die letzten E-Mails, schlechtes Gewissen, weil immer zu wenig Zeit für die Familie bleibt, und dann zu wenig Schlaf, bevor der Marathon am nächsten Tag von vorn beginnt: Spitzenpolitiker, aber auch viele Manager, Beamte und Arbeitnehmer, die mehrere Kinder oder pflegebedürftige Angehörige haben, kennen dieses Hamsterrad nur allzu gut.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Natürlich stehen die Berufswahl und die Familienplanung jedem frei. Und selbstverständlich sind an Bundesminister nicht nur hohe Maßstäbe bei der Fachkompetenz, sondern auch bei der persönlichen Integrität anzulegen. Aber wenn wir wollen, dass auch jene Menschen in der Republik Verantwortung übernehmen, die sich nicht stromlinienförmig dem harten Geschäft in Politik und Wirtschaft anpassen können, müssen wir toleranter sein. Vor allem wir Journalisten. Toleranter auch für Fehler und Unzulänglichkeiten. Das bedeutet auch, bei aller berechtigter Kritik Verständnis für eine Amtsträgerin aufzubringen, die zugleich Mutter von vier Kindern ist, einen kranken Ehemann zu Hause hat und nach eigener Aussage die Corona-Pandemie nur mit Schäden überstanden hat.

Gestern ist eine bemerkenswerte Umfrage veröffentlicht worden. Demnach stellt fast ein Drittel der Deutschen unser politisches System infrage. Sie haben den Eindruck, in einer "Scheindemokratie" zu leben, "in der die Bürger nichts zu sagen haben". Wenn das wirklich stimmt, ist es doch umso wichtiger, dass nicht nur aalglatte Polit-Apparatschiks die Bevölkerung vertreten, sondern auch Menschen, die genauso fehlbar sind wie Sie und ich. Und die für einen Rücktritt nicht Häme, sondern Anerkennung ernten und vielleicht sogar ein bisschen Bedauern.

"Alle, die Anne Spiegel für ihre ehrlichen Worte jetzt verhöhnen, sollten sich fragen, in welcher Gesellschaft sie leben wollen", schreibt unsere Chefreporterin Miriam Hollstein. "In einer, in der Spitzenpolitiker den wahnsinnigen Druck ihrer Ämter wegkoksen oder wegsaufen, um nach außen die Fassade des starken Mannes oder der starken Frau aufrechtzuerhalten? Oder in einer, in der sie auch einmal ganz offen sagen dürfen, wo ihre Grenzen sind, und auf Verständnis hoffen dürfen? Wer hier Letzteres verneint, der sollte nicht jammern, wenn auch ihm kein Verständnis entgegengebracht wird, wenn er (oder sie) selbst einmal in eine solche Lage gerät."

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Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber so eine Gesellschaft wäre mir zu kalt.


Rechte Gefahr

In Frankreich geht der Wahlkampf jetzt erst richtig los. Vor der Stichwahl am übernächsten Wochenende touren Präsident Emmanuel Macron und seine rechtsextreme Herausforderin Marine Le Pen von morgens bis abends durchs Land, um Stimmen zu sammeln. Wie knapp das Rennen ist, zeigen zwei Karten unserer Grafikerin Heike Aßmann: Zählt man die Stimmen in den 101 Départments zusammen, sieht es nach einer Dominanz Macrons aus. Betrachtet man jedoch die Kommunen, ergibt sich ein anderes Bild. Und am Ende zählt jede einzelne Stimme …


Putin geht in die Luft

Heute ist der Internationale Tag der bemannten Raumfahrt. Er würdigt die erste Erdumrundung durch den Kosmonauten Juri Gagarin am 12. April 1961: eine historische Leistung der russischen Raumfahrtpioniere, ermöglicht durch Heldenmut, Erfindergeist und unbedingten Willen der damaligen Führung. Der Mann, der leider gegenwärtig im Kreml die Befehle erteilt, nimmt den heutigen Ehrentag zum Anlass, auf dem Weltraumbahnhof Wostotschny 6.000 Kilometer östlich von Moskau die Bauarbeiten für das neue Kosmodrom zu inspizieren und sich dabei von Claqueuren beklatschen zu lassen. Seinen Komplizen, den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, hat er im Schlepptau. Der Termin wäre eigentlich keiner Erwähnung wert, wäre die Kaltblütigkeit nicht so schockierend, mit der Herr Putin Propagandatermine absolviert, während seine Soldaten in der Ukraine morden oder sterben. Flöge der Kremlherrscher doch selbst mit einer Rakete ins All und käme nicht mehr zurück!


Die nächste Krise

Weil Frankreich seine Soldaten in Westafrika reduziert, war auch Deutschland drauf und dran, die Bundeswehr aus Mali abzuziehen. Das ist keine gute Idee, wie hier im Tagesanbruch schon mal beschrieben wurde. Mittlerweile sieht man das auch in Berlin so, weshalb sich Bundesministerinnen in Malis Hauptstadt Bamako und im Niger die Türklinken in die Hand geben. Eben war Verteidigungsministerin Christine Lambrecht da, heute will sich Außenministerin Annalena Baerbock ein Bild der Lage machen. Im Mai entscheidet der Bundestag, ob die rund 1.400 Bundeswehrsoldaten vor Ort bleiben sollen. Falls nicht, würden die russischen Söldner von der Killertruppe "Wagner" wohl endgültig das Kommando übernehmen.


Was lesen?


Deutschland gilt als Bremser bei Sanktionen gegen Putin und Waffenlieferungen für Kiew. Unser Kolumnist Gerhard Spörl findet trotzdem, dass wir mit dieser Regierung gut bedient sind.

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In meiner Kindheit gab es eine Süßigkeit, deren Namen man heute nicht mehr verwendet, weil er rassistisch ist. Umso größer ist die Aufregung an einer Hamburger Grundschule. Unser Lokalreporter Gregory Dauber erklärt Ihnen den Fall.


Der menschliche Wille kann Berge versetzen. Der Mann auf unserem Historischen Bild hat es bewiesen.


Was amüsiert mich?

Ich wünsche Ihnen einen standfesten Tag. Morgen schreibt David Schafbuch für Sie, von mir lesen Sie am Donnerstag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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