Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Nun stehen sie blamiert da

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
eine Koalition ist kein Spaziergang, das war schon immer so. Aber dass eine Regierungsmannschaft schon nach gut zwei Monaten ihre erste krachende Niederlage einstecken muss, weil sich die Koalitionäre nicht verstehen, ist außergewöhnlich. Von der Ampeltruppe war man Chaos gewohnt, umso größere Hoffnungen setzten viele Bürger in das Kabinett von Friedrich Merz.
Doch auch diese Regierung ist drauf und dran, sich in Konflikte zu verstricken. Obwohl sich CDU, CSU und SPD einen gigantischen Schuldenberg genehmigt haben, obwohl SPD-Chef Lars Klingbeil seine Rivalen Esken, Heil und Faeser aussortiert hat und obwohl die Regierung darauf bauen kann, dass viele Bürger sich eine Führung wünschen, die pragmatisch-geräuschlos arbeitet, gerät das schwarz-rote Team schon zu Beginn der Legislaturperiode ins Schlingern.
Die Wahl von drei Verfassungsrichtern – eigentlich eine Formalie – ist vorerst gescheitert. Die SPD stellte eine umstrittene Kandidatin auf, die Fraktionsvorsitzenden Matthias Miersch (SPD) und Jens Spahn (CDU/CSU) versäumten es, die Wogen vorab zu glätten und ließen sich von rechten Medien treiben, der Kanzler unterschätzte die Brisanz. Schlussendlich mussten sie die Wahl aller drei Kandidaten im Bundestag absagen. Nun stehen alle blamiert da und die Opposition kommt aus dem Feixen gar nicht mehr heraus.
Auch in der Wirtschaftspolitik knirscht es gewaltig – also genau auf dem Gebiet, das Merz mit höchster Priorität versehen hat. Der schwarz-rote Stromsteuerstreit war überflüssig und schädlich. Die Zollverhandlungen der EU mit Donald Trumps Emissären verlaufen schleppend, ab dem 1. August droht deutschen Unternehmen ein Abgabehammer bei Exporten in die USA. Auch hier tritt der Kanzler zögerlich auf, hat EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zwar öffentlich eine pragmatische Lösung abverlangt, tut aber wenig, um diese anzubahnen. Das kann man so machen, wenn man den Schwarzen Peter nach Brüssel schieben will, nimmt damit aber ein unkalkulierbares Risiko für Deutschland in Kauf.
Angemessen ist so eine Taktiererei für den Regierungschef der wichtigsten europäischen Wirtschaftsmacht nicht. Man stelle sich einmal vor, wie Helmut Kohl oder Helmut Schmidt in so einer Lage gehandelt hätten. Nach Brüssel eilen, den französischen Präsidenten dazuholen, in kleiner Runde mit dem Kommissionschef und dem Ratspräsidenten einen Kompromiss schmieden: So zeigt man Führung. Merz fehlt die Regierungserfahrung für solche Manöver, er war nie Bürgermeister, Ministerpräsident oder Minister.
Auch im Grenzstreit mit Polen machen der Kanzler, CSU-Innenminister Alexander Dobrindt und die gesamte Regierung keine gute Figur. Eine restriktive Asyl- und Migrationspolitik stößt in der Mehrheit der Bevölkerung zwar auf Zustimmung, doch der Sinn der aufwendigen Kontrollen und Gegenkontrollen an der deutsch-polnischen Grenze erschließt sich nicht. Rund 720 Personen pro Monat werden dort aus Deutschland zurückgewiesen – etwa so viele wie auch im vergangenen Jahr, als es noch keine verschärften Kontrollen gab. Doch der immense Polizeiaufwand verursacht hohe Kosten und behindert den Warenverkehr.
An der Frage, ob sie die Probleme bei der Migration in den Griff bekommt, wird Merz' Regierung gemessen. Umso wichtiger ist nicht nur die Wiederherstellung der Grenzsouveränität, sondern vor allem die Lage in den Kommunen. In vielen Gemeinden sind die Aufnahmekapazitäten erschöpft, Bürgermeister und Landräte berichten von überfüllten Asylbewerberheimen, fehlenden Versorgungsmöglichkeiten und Problemen in Schulen. Viele andere Gemeindevertreter bezeichnen die Lage hingegen als "herausfordernd, aber machbar".
Das wirft Fragen auf: Warum klappt die Integration mancherorts gut, andernorts nicht? Ist Deutschland wirklich schon am Limit seiner Kapazitäten bei der Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten? Und was bedeutet die Entwicklung angesichts des demografischen Wandels, der den Fachkräftemangel in Firmen, Behörden, Schulen und Kitas verschärft?
Diese Fragen gehen alle Bürger etwas an, deshalb habe ich für den Tagesanbruch-Podcast zwei Gäste eingeladen, die aus der Praxis berichten können: Marco Beckendorf ist Bürgermeister von Wiesenburg/Mark, einer Gemeinde im Südwesten Brandenburgs. Er gehört der Linkspartei an und fordert ein Vetorecht für Abschiebungen, weil er mehr statt weniger Migranten braucht. Dagegen hat Christian Herrgott, CDU-Landrat des Saale-Orla-Kreises in Thüringen, eine Arbeitspflicht für Geflüchtete eingeführt: Sie müssen gemeinnützige Arbeiten verrichten und bekommen dafür 80 Cent pro Stunde.
Zwei Männer aus der Praxis, zwei unterschiedliche Konzepte: In dem kontroversen Gespräch mit meinen Gästen habe ich Interessantes erfahren. Ganz anders als in den abstrakten Streitereien auf Bundesebene geht es hier um konkrete Lösungen für Alltagsprobleme, das macht es so wertvoll. Hören Sie bitte hinein:
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Anschließend wünsche ich Ihnen ein sonniges Wochenende. Der nächste Tagesanbruch kommt am Montag von Heike Vowinkel.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
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