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Scholz gibt Ton an: "Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch"


Tagesanbruch
Irrfahrt im Lügenmeer

  • David Schafbuch
MeinungVon David Schafbuch

Aktualisiert am 19.10.2022Lesedauer: 5 Min.
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Boris Johnson und Liz Truss: Steht die neue Premierministerin nach nur sechs Wochen im Amt schon vor dem Aus?Vergrößern des Bildes
Boris Johnson und Liz Truss: Steht die neue Premierministerin nach nur sechs Wochen im Amt schon vor dem Aus? (Quelle: Imago/Parsons Media/ Archivfoto)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Olaf Scholz hat höchstpersönlich auf den Tisch gehauen: Alle drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke bleiben bis zum kommenden April weiter am Netz, hat er Vizekanzler Robert Habeck, Finanzminister Christian Lindner und Umweltministerin Steffi Lemke mitgeteilt. Die Entscheidung begründete der Kanzler mit der sogenannten Richtlinienkompetenz: In Zweifelsfällen hat er das letzte Wort.

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Scholz macht deutlich, dass er allein den Ton angibt. "Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch", hat er mal gesagt. Ein solches Machtgehabe wirkt etwas aus der Zeit gefallen. Aber stellen wir uns doch kurz das Gegenteil vor: Was wäre, wenn etwa Habeck stattdessen verkündet hätte, man werde den Streckbetrieb einfach komplett abblasen? Oder Lindner hätte verkündet, dass nicht nur die drei Atomkraftwerke bis 2024 weiterlaufen, sondern dass möglicherweise auch schon abgeschaltete AKW wieder ans Netz gehen – während Olaf Scholz schweigt und zusieht. Absurd, oder?

Nun, so absurd ist es dann doch nicht, dafür reicht ein Blick nach Großbritannien. Dort wollte Liz Truss seit Monaten Steuerentlastungen durchsetzen. Noch im September versprach die Premierministerin der Bevölkerung die größte Steuersenkung seit 50 Jahren.

Doch dazu kommt es nun doch nicht. Nach massiven Widerständen blies Truss ihre Pläne kurzerhand wieder ab. Das teilte sie aber nicht persönlich mit, sondern schickte ihren neuen Schatzkanzler Jeremy Hunt vor. Dessen Vorgänger hatte Truss noch am Freitag gefeuert, weil er genau das ausführen wollte, was die Premierministerin so lange versprochen hatte. Spätestens jetzt war jedem in Großbritannien klar: Wer bei Truss Führung bestellt, bekommt stattdessen Murks.

Es ist ein weiterer merkwürdiger Tiefpunkt in der britischen Politik, seit sich das Volk 2016 für den Brexit entschied. Was soll Großbritannien mit einer Premierministerin, die ihren zentralen Programmpunkt nicht halten kann, fragen sich mittlerweile nicht nur politische Beobachter. Mit der Hundertachtziggradwende sei Truss nun eine "Zombie-Premierministerin" schreibt der "Daily Telegraph": Zwar noch im Amt, aber nicht mehr an der Macht.

Nüchtern betrachtet war die Kehrtwende richtig. Schon mit ihrer Ankündigung der Steuersenkung – wohlgemerkt ohne vernünftige Gegenfinanzierung – hatte Truss die Finanzmärkte sehenden Auges ins Chaos gestürzt: Wochenlang hatten Experten davor gewarnt. Doch die Premierministerin stellte sich taub. "Wachstum, Wachstum, Wachstum", lautete ihr Credo angesichts der schweren Rezession, vor der Großbritannien steht.

Der Ursprung dafür wiederum liegt auch im Brexit. Sicher, egal ob mit oder ohne EU: Auch in Großbritannien hat der Ukraine-Krieg einen gewaltigen Anteil daran, dass dort die Preise für Lebensmittel, Gas und Strom in die Höhe schnellen. Aber die Kampagne des EU-Ausstiegs legte den Grundstein dafür, dass die konservativen Torys bewusst den Blick für die Realität verloren haben – und das Volk mit immer neuen Unwahrheiten täuschen.

Es begann mit einem gewissen Boris Johnson, der 2016 in einem roten Bus durch seine Heimat fuhr und hinausposaunte, dass die Briten der EU jede Woche 350 Millionen Pfund zahlten. Experten wiesen schon damals darauf hin, dass es sich um eine glatte Lüge handelte. Es wurde trotzdem zum Modus Operandi der regierenden Konservativen: Denn die Unwahrheiten brachten Johnson an die Macht – und viele Brexit-freundliche Medien sahen gerne darüber hinweg. Johnson änderte später seine Aussagen, indem er weiter log: Tatsächlich seien die Abgaben an die EU sogar noch höher – in Wahrheit waren sie dagegen deutlich niedriger.

Liz Truss agiert ganz ähnlich. Auch sie katapultierte sich mit falschen Steuerversprechen, die einer genaueren Betrachtung nie standhielten, in die Downing Street Nummer 10. Doch nach sechs Jahren im Lügenmeer scheinen nun selbst die Brexiteers ins Grübeln zu kommen: "Vielleicht wähle ich jetzt sogar Labour", soll ein verzweifelter Tory-Abgeordneter (!) dem "Telegraph" zuletzt verraten haben.

In anderen europäischen Ländern ist der EU-Austritt längst ein Scheinriese geworden – selbst unter den härtesten EU-Feinden. Marine Le Pen in Frankreich, Giorgia Meloni in Italien oder Jimmie Åkesson in Schweden: Je näher die Rechtsextremen der Macht kommen, desto kleiner scheint ihr Interesse zu sein, die EU tatsächlich zu verlassen.

Der Brexit hat jedem deutlich gemacht, was auf dem Spiel steht. Nur die britischen Politiker scheinen das als Allerletzte zu merken. Liz Truss und ihre Partei könnten ihrem Volk jetzt noch einen letzten Dienst erweisen, indem sie endlich den Weg für Neuwahlen freimachen – und nicht einen weiteren Politiker aus ihren Reihen in das Amt hieven oder gar Boris Johnson zurückholen. Nach allen Umfragen würden die Torys an den Urnen krachend verlieren. Nach sechs Jahren Irrfahrt hätten sie es mehr als verdient.


Stecker gezogen

Dass Arne Schönbohms Zeit als Chef des "Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik" (BSI) abläuft, war wohl schon länger klar. Nun hat das zuständige Bundesinnenministerium den Chef der Cybersicherheitsbehörde freigestellt. Der Druck war anscheinend zu groß geworden, nachdem Jan Böhmermanns "ZDF Magazin Royale" ihm mangelnde Distanz zu russischen Geheimdienstkreisen vorgeworfen hatte.

Ein Mann, der für die digitale Sicherheit in Deutschland sorgen soll und gleichzeitig enge Kontakte nach Russland unterhält, scheint untragbar zu sein. Doch mehrere Medien bemängelten, dass bei genauerer Betrachtung an den Vorwürfen gegenüber Schönbohm nicht mehr viel übrig bleibt. Der BSI-Chef hatte auch seine Verdienste, war aber gegenüber dem Innenministerium bisweilen unbequem, schreibt mein Kollege Falk Steiner. Genaueres soll nun ein Disziplinarverfahren klären. Schönbohm hatte selbst darum gebeten.


Was steht an?

Volle Ladung: Ohne mehr Ladestellen kommen nicht mehr Elektroautos auf die deutschen Straßen. Welche Strategie die Bundesregierung fährt, teilt heute Verkehrsminister Volker Wissing in seinem "Masterplan Ladeinfrastruktur" mit. Anschließend hat der FDP-Mann aber noch einen weiteren wichtigen Termin vor sich: Am Nachmittag stellt er sich den Fragen der Abgeordneten im Bundestag.

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Wo die Steuern hinfließen: Mehr als 830 Milliarden Euro Steuergelder hat der deutsche Staat im vergangenen Jahr eingenommen. Doch nicht immer wird das Geld sinnvoll eingesetzt – meint der Bund der Steuerzahler. Der Verein stellt heute sein "Schwarzbuch" vor, in dem 100 Fälle vermeintlicher Steuerverschwendungen aufgelistet sind.

Buchmesse beginnt: Mit rund 4.000 Ausstellern aus 95 Ländern öffnet die Frankfurter Buchmesse heute für das Fachpublikum. Das Ehrengastland heißt in diesem Jahr Spanien, aber auch die Ukraine wird eine große Rolle spielen: Am Donnerstag hält Wolodymyr Selenskyj eine Videoansprache, am Samstag ist seine Frau Olena Selenska zugeschaltet.


Was lesen?

Die russische Armee ist im Ukraine-Krieg weiter in der Defensive. Der Kreml benötigt Waffen und Munition, in seiner Not wendet sich Russlands Präsident Wladimir Putin an den Iran. Mein Kollege Patrick Diekmann erklärt, was hinter dem Zweckbündnis steckt.


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In Frankfurt hat am Dienstag der Korruptionsprozess gegen Oberbürgermeister Peter Feldmann begonnen. Für Feldmann geht es um nichts anderes als seine Zukunft. t-online Reporterin Roxana Frey berichtet aus dem Gerichtssaal.


Die VIP-Karten-Affäre in Hamburg schlägt hohe Wellen. Jetzt wurde klar: Zwar gab es keine Razzia bei Innensenator Andy Grote, wohl aber beim ehemaligen Geschäftsführer des FC St. Pauli, Andreas Rettig. Carsten Janz hat recherchiert.


Was amüsiert mich?

Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Mittwoch. Morgen lesen Sie an dieser Stelle von meinem Kollegen Daniel Mützel.

Herzliche Grüße

Ihr

David Schafbuch
Redakteur Politik und Panorama
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Mit Material von dpa.

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