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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Wie soll das gut gehen?

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Thorsten Frei muss über sich selbst lachen bei so viel Zweckoptimismus. Es ist Dienstagmorgen in Berlin, der künftige Kanzleramtschef sitzt mit Journalisten zusammen. Sie wollen wissen, wie es so läuft mit dem Kaltstart der schwarz-roten Regierung. Und wie sehr es von ihm als Kanzleramtschef abhängt, ob nun gut und geschmeidig regiert wird. Das ist eine der Hauptaufgaben in Thorsten Freis neuem Job.
"Es könnte auch sein", sagt Frei und schmunzelt schon jetzt, "dass ich ganz wenig zu tun bekomme, weil die Regierung und die einzelnen Ministerinnen und Minister so gut zusammenarbeiten, dass ich vor lauter Langeweile jeden Vormittag ein Frühstück mit Ihnen machen kann." Und spätestens da lacht nicht nur Thorsten Frei.
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Denn so einfach wird es natürlich nicht. Das liegt an der Weltlage, so ehrlich sollte auch die Opposition sein, selbst wenn die Union das bei ihrer Kritik an der Ampelregierung gerne mal vergessen hat. Jede Regierung hätte es gerade schwer mit Putin und Trump und Xi. Und es liegt daran, dass eine Koalition aus zwei Partnern, die inhaltlich oft so weit voneinander entfernt sind wie Union und SPD, immer zankanfällig ist.
Aber es liegt eben auch daran, dass die meisten Ministerinnen und Minister von Schwarz-Rot noch nie in einem Ministerium gearbeitet haben. Einer ist nicht mal Politiker, eine war es lange nicht mehr. Kann das gut gehen?
Es fängt ja schon beim künftigen Bundeskanzler an. Friedrich Merz war lange Abgeordneter im Bundestag und auch Fraktionschef. In einem Ministerium oder im Kanzleramt war er bislang nur zu Besuch. Ähnlich ist es bei Außenminister Johann Wadephul (Fraktionsvize) und bei Gesundheitsministerin Nina Warken (Parlamentarische Geschäftsführerin).
Kanzleramtschef Thorsten Frei selbst ist zumindest verwaltungserfahren. Er war viele Jahre lang Oberbürgermeister von Donaueschingen. Verkehrsminister Patrick Schnieder war Bürgermeister der Verbandsgemeinde Arzfeld. Landwirtschaftsminister Alois Rainer von der CSU immerhin Bürgermeister der 2.000-Einwohner-Gemeinde Haibach in Niederbayern.
Nur wenige aus Merz' Mannschaft hatten bisher Büros in Ministerien. Die künftige Forschungsministerin Dorothee Bär von der CSU gehört dazu, sie war Parlamentarische Staatssekretärin für Verkehr und später Digital-Staatsministerin. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche war Parlamentarische Staatssekretärin erst im Umwelt- und dann im Verkehrsministerium, bevor sie vor zehn Jahren in die Wirtschaft wechselte.
Minister waren bisher nur Karin Prien und Alexander Dobrindt. Die künftige Bildungsministerin Prien auf Landesebene in Schleswig-Holstein, ebenfalls für Bildung. Und an den baldigen Innenminister Dobrindt als Verkehrsminister unter Angela Merkel dürften sich die meisten noch erinnern, Stichwort: Pkw-Maut.
Einer fällt komplett raus. Der künftige Digitalminister Karsten Wildberger kennt zwar Konzerne und hat viele Unternehmen geführt. Politiker war er nie. Jetzt muss er ein Ministerium neu aufbauen, für das es bislang nicht mal ein Gebäude gibt. Seine Leute müssen anderswo unterschlüpfen, möglicherweise im Innenministerium. Echter Start-up-Charme.
Bei der SPD könnte es ähnlich aussehen. Obwohl die ja gerade noch regiert hat. Hubertus Heil, der seit 2018 Arbeitsminister ist, wird sein Amt nicht behalten. Das hat er am Wochenende angekündigt. Auch, weil mit Verteidigungsminister Boris Pistorius und Vizekanzler und Finanzminister Lars Klingbeil gleich zwei andere Niedersachsen für die SPD im Kabinett sitzen werden. Regionalproporz ist für Parteien wichtig.
Boris Pistorius hat Ministerjahre für zwei gesammelt: zehn als Landesinnenminister in Niedersachsen, und nun dreieinhalb als Verteidigungsminister. Oberbürgermeister von Osnabrück war er auch noch. Lars Klingbeil hatte schon viele Büros, im Bundestag und auch hübsche im Willy-Brandt-Haus. Eines im Ministerium hatte er bisher nicht. Bärbel Bas hatte als Bundestagspräsidentin immerhin ein wichtiges Büro im Reichstag, nun wird sie wohl ins Arbeitsministerium umziehen.
Offen ist, wie viel Regierungserfahrung bei der SPD sonst einzieht: in die Ministerien für Justiz (gehandelt werden Sonja Eichwede, Nancy Faeser, Stefanie Hubig), für Umwelt (Verena Hubertz, Svenja Schulze), für Entwicklung (Svenja Schulze, Saskia Esken) und für Bauen (Klara Geywitz, Carsten Schneider). Keineswegs sicher also, dass die Ampelministerinnen Faeser, Schulze und Geywitz im Kabinett bleiben.
Nun ist es so, dass Regierungserfahrung mitunter idealisiert wird. Insbesondere wenn es einem in der Opposition gut passt, um eine angehende Regierung zu kritisieren. Der Wechsel macht die Demokratie aus, wir haben bewusst keine Expertenregierungen.
Die Experten sitzen trotzdem in den Ministerien und im Kanzleramt. In den wichtigen Fachabteilungen. Dort ist so viel Sachverstand versammelt, dass er vieles ausgleichen kann. Wenn der Minister seine Leute denn lässt, sie anhört, den Widerspruch sucht und nicht nur die wohlige Bestätigung. So jedenfalls erzählen es jene, die es erlebt haben.
Doch auch das Gegenteil wird oft idealisiert: der "frische Wind", der andere Blick von ganz weit draußen, von jenseits der Politik, meist aus der Wirtschaft. Nicht, weil das per se schlecht wäre. Sondern, weil regelmäßig die Möglichkeiten über- und die Hürden unterschätzt werden. Die Politik ist ein kompliziertes System mit eigenen Gesetzen, die sich nicht auf einmal ändern, nur weil jemand sie nicht kennt.
"Einfach mal machen!" Das Motto von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann klingt simpel und erfrischend. Und natürlich kann man den Staat ein bisschen mehr wie ein gutes Unternehmen führen. Sollte man sogar. Viele der Fachleute in den Ministerien sind die Ersten, die die Überverwaltung in der deutschen Verwaltungskultur kritisieren.
Nur geht das nicht mit der Kettensäge. Zumindest nicht, wenn es weiter funktionieren soll. Das zeigen die USA gerade. In einem Staat ist das verlässliche Funktionieren aber entscheidend, weil auf die eine oder andere Weise alles und jeder von ihm abhängt. Daran sollte jeder denken, der "einfach mal macht".
Als Thorsten Frei am Dienstagvormittag mit den Journalisten zusammensitzt, spricht er über noch mehr als seine augenzwinkernde Hoffnung auf Langeweile. Er sagt, als Kanzleramtschef werde er daran gemessen, "ob die Arbeit gut erledigt wird oder nicht". Da hat er recht. Und nicht nur ihn sollte man daran messen.
Termine des Tages
Gedenkwoche 80 Jahre Kriegsende: In Berlin wird Bürgermeister Kai Wegner (CDU) einen Kranz niederlegen. Am 2. Mai vor 80 Jahren kapitulierten die deutschen Truppen in Berlin. In Mecklenburg-Vorpommern erinnert Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) derweil an die Befreiung des KZ Wöbbelin.
"Mutig – stark – beherzt": Unter diesem Motto geht der Evangelische Kirchentag in Hannover weiter. Zum Beispiel mit einem Interview des noch vier Tage amtierenden Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD).
Wie steht's um die Pressefreiheit in der Welt? Die Organisation Reporter ohne Grenzen veröffentlicht ihre Rangliste der Pressefreiheit 2025.
Historisches Bild
Zuerst sandte die Nasa Männer als Astronauten ins All. Doch Frauen brachten sie dorthin. Mehr lesen Sie hier.
Ohrenschmaus
Olaf Scholz liest gerne, das ist bekannt. Zum Ende seiner Kanzlerschaft wird jetzt auch ein bisschen mehr über seinen Musikgeschmack bekannt. Und der ist offenbar gar nicht übel. Für seinen Zapfenstreich am Montagabend wünscht sich Scholz: Die Beatles mit "In My Life", einen Auszug aus dem "2. Brandenburgischen Konzert" von Johann Sebastian Bach – und Aretha Franklin mit "Respect". Eine Anspielung auf Scholz' Wahlkampfmotto 2021 – und ein ausgezeichneter Song.
Lesetipps
Innerhalb von rund 100 Tagen hat Donald Trump US-Demokratie und Weltwirtschaft erschüttert. Joseph Stiglitz, weltbekannter Ökonom und Nobelpreisträger, ist äußerst besorgt. Im Gespräch mit meinen Kollegen Marc von Lüpke und Florian Schmidt erklärt Stiglitz, wie der Populismus effektiv bekämpft werden kann.
Sahra Wagenknecht gegen Katja Wolf: Bei der Vorstandswahl des BSW in Thüringen eskalierte der Machtkampf zwischen Parteichefin und Landeschefin. Katja Wolfs Mitstreiter Steffen Schütz kritisiert im Gespräch mit meinem Kollegen Carsten Janz nun die Parteispitze in Berlin.
Die EU möchte ältere Autos jedes Jahr zum TÜV bitten. Und trampelt damit abermals auf dem Gemeinsinn der Gemeinschaft herum, kritisiert mein Kollege Christoph Schwennicke.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen schönen, hoffentlich freien Brückentag.
Ihr Johannes Bebermeier
Chefreporter
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Mit Material von dpa.
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