Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Wirtschaftskrise Zwei Frauen, ein Machtkampf

Deutschland steckt in der Rezession. Die Rente ist in Gefahr. Das Bürgergeld droht aus dem Ruder zu laufen. Hat die Regierung Merz einen Plan für große Reformen?
Für Friedrich Merz und Lars Klingbeil ist die Ampelkoalition eine eindrückliche Mahnung, wie es in einer Regierung nicht laufen sollte. Die Ampel ist gescheitert, an den beiden Alphamännern Robert Habeck und Christian Lindner. Habeck wollte die Wirtschaft mit massiven Investitionen des Staates ankurbeln. Lindner wollte Steuern senken und Subventionen kürzen. Der eine wollte Schulden machen, der andere wollte sparen. Da prallten nicht nur zwei Männer aufeinander, sondern auch zwei Weltbilder.
Merz und Klingbeil hingegen betonen die Gemeinsamkeiten, nicht Gegensätze. Und wenn Merz mal so sagt, aber Klingbeil anders, dann sollen wir das auf keinen Fall als Streit verstehen, das ist nicht einmal eine richtige Meinungsverschiedenheit. Sagen beide. Die wollen tatsächlich regieren, nicht ampeln. Ein guter Vorsatz. Allerdings: Auch in der neuen Koalition prallen zwei Weltbilder aufeinander. Diesmal sind es zwei Alphafrauen, die sie repräsentieren.
Die eine ist Katherina Reiche, die neue Wirtschaftsministerin. Sie knüpft (sehen wir von einem Intermezzo namens Peter Altmaier ab) an den letzten Wirtschaftsminister an, den die CDU stellte. Der hieß Ludwig Erhard und wird "Vater des Wirtschaftswunders" genannt, er gilt als Erfinder der sozialen Marktwirtschaft. Erhards Zeit liegt mehr als sechzig Jahre zurück, die Christdemokraten erzählen seine Geschichte als Heldenepos: Er propagierte den Wohlstand für alle, Merz zitierte dieses alte Motto in seiner ersten Regierungserklärung gleich mehrfach. Katherina Reiche soll Erhards Enkelin werden.

Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche.
Die andere Frau ist Bärbel Bas, die neue Arbeitsministerin. Die Sozialdemokraten erzählen ihre Geschichte jetzt schon als Heldinnengeschichte: ein Kind des Ruhrgebiets, aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, Hauptschule, Ausbildung, Betriebsrätin. Eine Biografie des Aufstiegs, bis in die Spitze der Politik – dass es so etwas in der SPD noch gibt! Bas soll die Interessen der Arbeitnehmer vertreten, der Rentner, der kleinen Leute. Gegen die Wirtschaft, gegen die Unternehmer. Gegen Reiche. Gegen Katherina Reiche.
Gleich die ersten Auftritte der beiden lassen tief blicken. Bas ist für die Rentenreform zuständig, sie hat klargestellt, was ihr wichtig ist: dass mehr Geld ins System kommt. Auch Beamte und Selbstständige sollen in die Kasse einzahlen. Reiche ist für die Wirtschaft zuständig, auch sie hat klargestellt, was ihr wichtig ist: Wachstum sei die beste Sozialpolitik, deshalb müssten Energie- und Arbeitskosten sinken. Die Rentenbeiträge gehören dazu.
Was muss der Staat leisten, was kann der Staat leisten? Wie viel soziale Absicherung kann er versprechen? Das sind Grundfragen unserer Gesellschaft. Sie erfordern Antworten, wenn es um Rente, Bürgergeld und Steuern geht. Reiche soll das wirtschaftspolitische Profil der Union schärfen. Bas soll das sozialpolitische Profil der SPD garantieren. Im Koalitionsvertrag hat man sich auf Kompromissformeln verständigt. Mehr Formeln als Kompromisse.
Der Krise ins Auge schauen
Früher war nicht alles besser, aber manches einfacher. Ludwig Erhard, der Held der Union, ließ –nach damaligen Verhältnissen – der Marktwirtschaft in der jungen Bundesrepublik freien Lauf, er schaffte Preiskontrollen und andere Regulierungen ab, vertraute auf das freie Spiel der Kräfte. Der Erfolg gab ihm recht: Die Konsumenten konsumierten, die Unternehmen investierten, mit der Wirtschaft ging es nur bergauf – anderthalb Jahrzehnte lang. Erhard stieg zum Bundeskanzler auf.
Als die Bundesrepublik Ende der Sechzigerjahre einen konjunkturellen Abschwung zu spüren bekam, trat ein Mann namens Karl Schiller auf die Bühne. Er war Wirtschaftsprofessor wie Erhard, aber Sozialdemokrat. Wenn das Wachstum schwächelt, so seine Überzeugung, muss der Staat gegensteuern. Er legte ein Konjunkturprogramm auf, 8 Milliarden D-Mark, auf Pump finanziert. Die Strategie ging auf und Schiller, ein Mann der geschliffenen Rede, sagte: "Wir haben der Krise ins Auge geschaut, und die Krise senkte ihren Blick."
Seit diesen alten Zeiten wechselt die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik mit dem Wechsel der Regierung. Der Sozialdemokrat Helmut Schmidt setzte auf Konjunkturprogramme nach Schillers Art, der Christdemokrat Helmut Kohl setzte auf den Rückzug des Staates nach Erhards Art. Angela Merkel führte die schwäbische Hausfrau in die Diskussion ein. Die Schwarze Null wurde zum Markenzeichen konservativer Wirtschaftspolitik. Auf der politischen Linken diagnostizierte man, das Land werde kaputtgespart.
Das sind Deutschlands zwei große Probleme
Und Merz? Und Klingbeil? Der eine hat Reiche, der andere Bas. Zwei Richtungen in einer Regierung, wie bei der Ampel. Aber wer gibt die Antworten auf die beiden großen Probleme, mit denen wir es aktuell zu tun haben?
Erstens: Deutschland ist zwar über Jahrzehnte zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen, aber seit drei Jahren steckt die Wirtschaft in der Rezession. Sie wächst nicht mehr. Es wird viel zu wenig investiert. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit leidet.
Zweitens: Die finanziellen Grenzen des Sozialstaats sind erreicht. 42 Prozent der Arbeitskosten entfallen auf die Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu den Sozialversicherungen, zusätzlich fließt ein Viertel des Bundeshaushalts in die Rentenkasse. Die gesetzlichen Krankenkassen brauchen akute Nothilfe. Die Lage ist prekär.
Wird Merz der neue Gerhard Schröder?
Die erste Frage ist im Grunde bereits beantwortet. Das 500-Milliarden-Schuldenpaket für die Infrastruktur und die Aufhebung der Schuldenbremse für die Verteidigung werden das Wachstum wieder in Gang bringen – es sei denn, die Regierung macht bei der Umsetzung der Programme grobe Fehler. Schwarz-Rot antwortet auf die Wachstumsschwäche wie damals Karl Schiller auf den Konjunktureinbruch. Es ist die richtige Antwort.
Sachlich richtig, politisch heikel, jedenfalls für Friedrich Merz. Weil er im Wahlkampf eine andere Politik vertreten hat, weil er seine Partei mit dem Kursschwenk überrumpelt hat. Die Personalie Katherina Reiche ist für ihn umso wichtiger: Reiche soll jetzt eine Wirtschaftspolitik formulieren, die nicht nur der Realität gerecht wird, sondern auch dem Weltbild der CDU. Eine Politik nach dem Rezept von Ludwig Erhard.
Schon einmal hat ein Kanzler das Richtige getan, aber seine Partei dabei verloren – Gerhard Schröder. Die Frage lautete damals wie heute: Wie kann verhindert werden, dass der Sozialstaat die Wirtschaft überfordert? Schröder antwortete im März 2003: "Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abverlangen müssen." Das war der Kernsatz der Agenda 2010. In Zahlen, Daten und Fakten wurde daraus ein Erfolg, Deutschland erlebte eine lange Wachstumsphase. Aber Schröders Agenda spaltete das Land und ruinierte die SPD.
Die Alphafrauen sollen nett zueinander sein
Wenn Bärbel Bas über Rente und Bürgergeld spricht, dann tut sie das vor diesem Hintergrund. Bas entstammt dem linken SPD-Flügel. In ihrer ersten Rede als Ministerin sagte sie im Bundestag: "Wir stehen vor anstrengenden Jahren." Wir, die Deutschen. Wir, Bärbel Bas und Katherina Reiche. Anstrengende Jahre, das klingt nach Ampelkoalition.
Aber Merz will ja nicht ampeln, Klingbeil auch nicht. Was folgt daraus? Markige Ankündigungen der Union werden bleiben, was sie sind: Ankündigungen. Durchgreifende Sozialreformen? Zurück zu Erhard? Mehr Markt, weniger Staat? Daraus wird nichts. Nicht viel jedenfalls.
Das ist eine Prognose, nicht nur eine Prophezeiung. Für die Prognose gibt es Anhaltspunkte. Am vergangenen Wochenende war der Kanzler bei der CDU in Baden-Württemberg zu Gast. Er sagte, die Ampelkoalition sei vor allem am Umgang miteinander gescheitert. Soll heißen: an den Alphamännern Habeck und Lindner. Die Alphafrauen Reiche und Bas werden die Botschaft verstanden haben: Seid nett zueinander.
Diese Reformen werden kein großer Wurf
Über den Sozialstaat und die grundlegenden Reformen, die bisher allerhöchste Priorität hatten, sagte Merz: "So wie es heute ist, kann es allenfalls noch für ein paar wenige Jahre bleiben." Übersetzt aus dem Politischen: Ganz so dringend ist die Sache auch nicht, das hält schon noch eine Weile. Im Übrigen könne die Union diese Reformen ohne oder gegen die SPD und die Gewerkschaften gar nicht durchsetzen, fügte er hinzu. Im Klartext: Das wird ohnehin kein großer Wurf.
Finden Sie das enttäuschend? Tja, man nennt es Realpolitik. Merz lernt Koalition, ziemlich schnell. Seine CDU träumt noch von Erhard.
- Eigene Überlegungen