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Völkermord an den Jesiden: "Von den Grünen kommt nur heiße Luft"


Massaker von Islamisten
"Das Schlimmste, was passieren kann"

  • Matti Hartmann
InterviewEin Interview von Matti Hartmann

03.08.2025 - 05:30 UhrLesedauer: 7 Min.
Ein IS-Terrorist: Der islamistischen Organisation, die vor allem im Irak und in Syrien wütete, schlossen sich auch viele Extremisten aus Deutschland an.Vergrößern des Bildes
Ein IS-Terrorist: Der islamistischen Organisation, die vor allem im Irak und in Syrien wütete, schlossen sich auch viele Extremisten aus Deutschland an. (Quelle: AGB Photo/imago-images-bilder)
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Es war ein Völkermord mit Ansage: Vor elf Jahren beging der IS brutale Massaker an Jesiden im Irak. Heute schiebt Deutschland wieder Familien in die Region ab.

Der Hass der Islamisten war grenzenlos: Im August 2014 kündigten Dschihadisten des selbst ernannten "Islamischen Staats" ein "Opferfest" an – dann schlachteten sie Menschen ab. Sie überfielen das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden um das Shingal-Gebirge im Nordirak und jagten in Pick-up-Trucks von Dorf zu Dorf, um Männer zu ermorden und Frauen und Kinder zu verschleppen, zu vergewaltigen und zu versklaven.

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Mit dabei waren Dutzende aus Deutschland eingereiste Angreifer. Die Massaker sind inzwischen offiziell vom Bundestag als Völkermord anerkannt. Elf Jahre danach ist die Lage vor Ort gemäß Menschenrechtsaktivisten noch immer gefährlich. Trotzdem werden jesidische Familien aus Deutschland wieder dorthin abgeschoben: Zuletzt traf es eine sechsköpfige Familie – wenige Stunden, bevor ein Gericht einen Eilantrag zugunsten der Familie erließ.

Gohdar Alkaidy, Co-Vorsitzender der deutschen "Stelle für Jesidische Angelegenheiten", hat den Anerkennungsprozess des Völkermordes im Bundestag ins Rollen gebracht. Im Interview mit t-online erklärt er, wie die Situation für die Jesidinnen und Jesiden in ihrem traditionellen Siedlungsgebiet in der Grenzregion zwischen dem Irak, Syrien und der Türkei aktuell ist, wie es den in Deutschland lebenden Jesiden geht und was die deutsche Politik jetzt unternehmen sollte, um sich nicht unglaubwürdig zu machen.

t-online: Herr Alkaidy, ist es aktuell vertretbar, jesidische Familien in den Irak abzuschieben?

Gohdar Alkaidy: Nein. Von den gerade aus Brandenburg abgeschobenen Jesiden berichten direkte Kontaktpersonen wie die SPD-Landtagsabgeordnete Annemarie Wolff, das Haus der Familie sei zerstört. Sie lebe nun beim Onkel, dessen Haus aber auch nicht wieder komplett instand gesetzt ist. Es gebe kein fließendes Wasser, keine vernünftige Schule und nur unregelmäßig Strom. Weil es zu gefährlich sei, nach draußen zu gehen, bleibe die Familie in den eigenen vier Wänden.

Warum ist es für Jesidinnen und Jesiden gefährlich, in ihrer eigenen Heimat vor die Tür zu gehen?

Der Hass der Islamisten auf die Jesiden hat eine lange Geschichte. Der IS gilt zwar seit 2017 als militärisch besiegt, aber seine Ideologie hat diese Niederlage leider überlebt. Die Jesidinnen und Jesiden vor Ort haben weiter begründete Angst. 2014 haben ihre muslimischen Nachbarn tatkräftig beim Völkermord mitgeholfen. Heute leben die willfährigen Helfer der Massaker noch immer unbehelligt im Nordirak und stellen eine alltägliche Bedrohung dar.

Vor einem Jahr waren Sie zuletzt selbst im Irak, um an einer Veranstaltung zum Jahrestag des Massakers an den Jesiden teilzunehmen. Was haben Sie persönlich erlebt?

Ich war zur Zeremonie zum zehnjährigen Gedenken an den Völkermord in die Hauptstadt der Autonomen Region, Erbil, eingeladen, war aber keine 48 Stunden vor Ort. Es war viel der Trauer, der Erinnerung und der Ehre für die Ermordeten und für jene, die hinterblieben sind und auch zum Teil anwesend waren.

Es ist empörend, dass noch immer rund 200.000 Jesidinnen und Jesiden in Flüchtlingslagern leben. Viele sind traumatisiert, und die Rückkehr in ihre Heimatregion Shingal gestaltet sich äußerst schleppend. Kinder werden in diesen Camps zu jungen Erwachsenen, sie wachsen ohne Kultur, ohne Traditionen und ohne ihre jesidische Religion auf. Da wird die Identität eines ganzen Volkes vernichtet. Das ist ein fortlaufender Völkermord.

Sie kennen die Flüchtlingslager auch aus eigener Anschauung, weil Sie sie in der Vergangenheit besucht haben. Wie müssen wir uns diese Lager vorstellen?

Das sind mehr oder weniger große Sammellager, die meist umzäunt oder ummauert sind. Ursprünglich sollten die Lager eine Übergangslösung darstellen. Die meisten Unterkünfte sind dementsprechend Zelte oder Container. Allerdings besteht ein nicht unwesentlicher Teil inzwischen aus gemauerten, kleinen Räumen, aus Rohbauten mit Wasser und rationiertem Strom.

Die Menschen dort gehen entweder außerhalb der Flüchtlingslager arbeiten oder arbeiten innerhalb: Sie haben kleine Geschäfte wie Kioske, Schneidereien, Cafés. Jemand, der sich in der Geschichte nicht auskennt, mag diese Entwicklung als positiv erachten. Aber tatsächlich ist dies das Schlimmste, was den betroffenen Menschen passieren kann: Entwurzelt und auf sich alleine gestellt, müssen sie ums nackte Überleben kämpfen. Sie haben nicht nur keine Zukunft, sondern vergessen auch ihre Wurzeln. Flüchtlingsstädte, wie wir sie aus anderen Konflikten und Regionen kennen, bedeuteten nie etwas Gutes.

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Jesidische Frauen 2025 beim Neujahrsfest. (Quelle: IMAGO/Ismael Adnan/imago)

Daran glauben Jesiden

Die Jesiden sind Monotheisten ohne heilige Schrift, die Wurzeln der Religion reichen über 2.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung zurück. Sie glauben an Wiedergeburt und Seelenwanderung, lehnen die Vorstellung von einem Teufel ab, da Gott in seiner Allmacht keinen Widersacher haben könne. Sie glauben, dass jeder gute Mensch in den Himmel kommt – egal, ob er Jeside ist oder einer anderen Religion angehört. Deshalb existiert im Jesidentum auch keine Missionierung von Mitmenschen.

Woran liegt der schleppende Wiederaufbau?

Die Region ist politisch zersplittert, unsicher, und es fehlt an Infrastruktur. Bis heute wirken Dschihadisten in Teilen der irakischen Gesellschaft und seit Dezember 2024 insbesondere in Syrien, wo sie unter anderer Flagge weiter existieren. Das Gebiet im Nordirak ist zwischen verschiedenen Milizen, irakischen Truppen und kurdischen Kräften umkämpft.

Was ist nötig, um das zu ändern?

Es fehlt an politischem Willen und internationalem Druck auf die irakische Zentralregierung, sich stärker um die Region zu kümmern. Milliarden an europäischer Aufbauhilfe sind in den Irak für den Wiederaufbau der jesidischen Regionen geflossen. Leider aber ist ein Großteil dieses Geldes dann für den Wiederaufbau anderer Regionen aufgewendet worden. Der Rest ist versickert, spurlos verschwunden. Diese Korruption und dieses Missmanagement, das bereits bei den Geberländern wie Deutschland anfängt, lähmt eine Rückkehr zur Normalität. Die Jesiden sind weiterhin schutzlos.

Eine irakische Frau mit ihrem Kind im Jesiten-Gebiet: Weltweit bekannt wurde die Region 2014, als Terroristen des sogenannten Islamischen Staates dort einen Völkermord gegen die jesidische Bevölkerung lostraten.
Eine Frau und ihr Kind im Jesiden-Gebiet im Norden des Irak (Archivbild). (Quelle: Xinhua/imago-images-bilder)

Völkermord an den Jesiden

Zwischen 2014 und 2016 wurden bis zu 10.000 Jesiden durch den "Islamischen Staat" ermordet, Tausende Frauen wurden entführt und vergewaltigt. Der Bundestag erkannte die Verbrechen des IS 2023 als Völkermord an. Die Menschenrechtsgruppe Pro Asyl bezeichnet die Lage im Norden des Irak als "lebensgefährlichen Brennpunkt".

Was meinen Sie mit Missmanagement, das in Deutschland anfängt?

Deutschland hat finanzielle Unterstützung für die Jesiden im Irak zugesagt und auch Gelder ausgezahlt. In den jesidischen Ortschaften in Shingal sind dann zwar hochrangige deutsche Delegationen inklusive der ehemaligen Außenministerin eingetroffen und haben fleißig Fotos und Versprechungen gemacht – die Gelder sind dort aber nie angekommen.

Warum nicht? Wo ist das Geld denn gelandet?

Mit großer Sicherheit in den Händen korrupter Menschen. Korruption ist im Irak ein riesiges Problem. Genau wie die systematische Benachteiligung der jesidischen Gemeinschaften. Das wusste auch die ehemalige Bundesregierung. Dass die dringend benötigte finanzielle Unterstützung für die jesidischen Gemeinschaften trotzdem in dieses korrupte System eingezahlt und nicht effektiv vor Veruntreuung gesichert wurde, verstärkt bei vielen Betroffenen den Eindruck, dass es hier von Anfang an mehr um PR als um nachhaltige Hilfe ging.

Deutschland hat viele Jesidinnen und Jesiden nach dem Völkermord aufgenommen. Wie geht es diesen Menschen heute?

Viele von ihnen leiden noch immer unter schweren psychischen Traumata. Zwar haben sie in Deutschland endlich Sicherheit, aber die Integration ist nicht leicht. Sprachbarrieren, kulturelle Unterschiede und das Fehlen jesidischer Anlaufstellen erschweren die Eingliederung. Dennoch ist Deutschland eines der wenigen Länder, die sich überhaupt ernsthaft um diese Menschen bemüht haben. Wichtig wäre nun ein dauerhaftes Bleiberecht und gezielte psychologische sowie kulturelle Unterstützung.

Dass die damalige Innenministerin Nancy Faeser gerade Jesidinnen und Jesiden abgeschoben hat, um ihre Bilanz zu verschönern, wurde von vielen als gnadenlos empfunden. Wieder wurde Politik auf dem Rücken der Schwächsten gemacht.

Ein Großteil der jesidischen Opfer sind Frauen, die vom IS versklavt wurden. Wie steht es um die Aufarbeitung dieser Verbrechen und die juristische Verfolgung der Täter?

In Deutschland gab es einige wichtige und historische Prozesse gegen IS-Kämpfer und -Mitglieder, auch wegen Völkermordes. Doch insgesamt geschieht viel zu wenig. Viele Täterinnen und Täter sind noch immer auf freiem Fuß, teilweise auch in Europa. Es fehlt ein internationaler Strafgerichtshof, der die Verbrechen der Terrororganisation behandelt. Die Beweissicherung ist schwierig, und viele Überlebende haben Angst, auszusagen oder werden nicht so gut geschützt wie in Deutschland.

Was wünschen Sie sich als Vertreter der Jesiden in Deutschland konkret von der Politik?

Neben einem dauerhaften Bleiberecht für Überlebende des Genozids, insbesondere für die 2015 aufgenommenen Frauen und Kinder: mehr finanzielle und strukturelle Förderung für Selbstorganisationen der jesidischen Community. Außerdem stärkere Anerkennung des Genozids, auch durch Bildungsinitiativen in Schulen. Und nicht zuletzt: politische Unterstützung für diejenigen Jesidinnen und Jesiden, die eine Rückkehr in ihre Heimat im Irak anstreben – es aber wegen anhaltender Unsicherheit, Instabilität und Korruption nicht können.

Es braucht eine klare politische Haltung, Druck auf die irakische Regierung, mehr Mittel für internationale Aufklärung und eine Führungsrolle bei der juristischen Aufarbeitung. Ein internationaler Gerichtshof für den IS wäre ein starkes Signal.

Apropos Bleiberecht: Die Grünen wollen im Herbst mit einem Gesetzesentwurf das Aufenthaltsrecht ändern, um speziell Jesiden eine sichere Bleibeperspektive zu bieten. Was halten Sie davon?

Ich heiße generell alles willkommen, was den Schwächsten hilft. Aber was aktuell diesbezüglich von den Grünen kommt, ist leider nur heiße Luft. Sie hätten das, was sie nun fordern, durchsetzen können, als sie vor gar nicht so langer Zeit noch in der Bundesregierung saßen.

Schon vor dem Völkermord sind viele Jesiden nach Deutschland ausgewandert, weil sie in ihrer alten Heimat aufgrund von systematischer Verfolgung keine Zukunft sahen. Wie wachsen junge Jesiden heute in Deutschland auf? Gibt es Spannungen zwischen Tradition und Moderne?

Ja, das ist ein sensibles Thema. Viele junge Jesiden leben in einem Spannungsfeld zwischen den traditionellen Werten ihrer Gemeinschaft und den liberaleren Normen der deutschen Gesellschaft. Manche erleben Druck aus der eigenen Community, etwa bei Fragen wie Partnerwahl oder religiöser Praxis. Andere wiederum empfinden den Freiraum in Deutschland als Chance zur Selbstentfaltung. Die Balance zu finden, ist nicht leicht, aber viele positive Integrationsbiografien junger Jesidinnen und Jesiden machen mich zuversichtlich.

Wie steht es um die Religionsfreiheit der Jesiden weltweit?

Die Jesiden gehören zu den am meisten verfolgten religiösen Minderheiten. In Ländern wie dem Irak, Syrien oder der Türkei sind sie immer wieder Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. In Deutschland und Europa ist die Religionsfreiheit grundsätzlich geschützt, doch es fehlt an Bildungsarbeit über die jesidische Religion. Viele Menschen wissen kaum etwas über unsere Geschichte, Glaubensinhalte oder über das Ausmaß des Genozids. Und deshalb kommen dann Stereotype ins Spiel und verstärken sich. Auch Jesiden selbst wissen oft viel zu wenig über sich und ihre Religion, da sie in ihren Herkunftsländern oft kaum Zugang zu gleichwertigen Bildungsangeboten und Unterstützung hatten und religiöse Würdenträger teilweise verfolgt wurden.

Ich sage: Vergessen ist die finale Phase des Genozids. Wer schweigt, macht sich mitschuldig. Die Jesiden brauchen internationale Solidarität, nicht nur zum Jahrestag im August, sondern jeden Tag. Es geht um Gerechtigkeit, Erinnerung – und darum, dass sich so etwas nie wieder wiederholt. Nicht gegen Jesiden, nicht gegen Juden und nicht gegen Drusen, die aktuell in Syrien unter den Augen der Weltöffentlichkeit unter brutalen Angriffen auf ihre Heimatregion leiden.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Gohdar Alkaidy
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