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Niemand weiß, wie viele Windräder umkippen


Nach erneutem Rotoren-Schock
Niemand weiß, wie viele Windräder umkippen


Aktualisiert am 18.03.2019Lesedauer: 4 Min.
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Beschädigtes Windrad im niedersächsischen Wriedel: Laut Informationen von t-online.de kam es seit 2015 bundesweit zu zahlreichen Vorfällen. (Quelle: Philipp Schulze/dpa)

In Deutschland kommt es regelmäßig zu schweren Unfällen mit Windrädern. Wie viele es sind, wissen nicht einmal zuständige Behörden.

Masten brechen, Rotoren stürzen zu Boden, brennende Trümmer fliegen teilweise Hunderte Meter weit: In Deutschland ist es allein seit 2015 nach Recherchen von t-online.de zu Dutzenden schwerwiegenden Vorfällen an Windrädern gekommen. Zuletzt verlor eine Anlage in Schleswig-Holstein ein ganzes Rotorblatt, das einen Spazierweg überflog, bevor es in einer Wiese landete. Doch die zuständigen Landesministerien haben kaum Kenntnis der Fälle.

Klaffende Lücke in der Dokumentation

Statistisch werden die Brände und Havarien nicht erfasst. Weder auf Landes- noch auf Bundesebene. Anfragen von t-online.de an die Bundesländer legen eine klaffende Lücke in der Dokumentation offen: Mehrere Bundesländer wiesen auf die fehlende statistische Erhebung der Vorfälle hin, andere antworteten basierend auf einzelnen Presseberichten. Nur wenige Länder verfügen durch parlamentarische Anfragen zumindest über unvollständige Aufstellungen. Trotzdem sieht die Bundesregierung die Länder in der Verantwortung und führt keine eigene Statistik.

Der Effekt davon ist: Zahlreiche Anlagen brennen ab, ohne dass Bund und Länder davon überhaupt Wind bekommen. So sind in den Ländern insgesamt nur 26 Brände, Einstürze und Rotorblattschäden seit 2015 bekannt – tatsächlich sind es laut Informationen von t-online.de mindestens mehr als doppelt so viele. Eine Auswertung der Antworten aus den Ministerien, weiterer Presseberichte sowie einer Liste von Anti-Windkraft-Aktivisten durch t-online.de ergab 62 schwerwiegende Vorfälle in Deutschland seit 2015.

Die genannte Aufstellung des schottischen "Caithness Windfarms Information Forum" führt mit Quellenangaben Tausende Vorfälle weltweit auf – gestützt auf offizielle Informationen und gut dokumentierte Presseberichte. Selbst ein Landesministerium griff in seiner Antwort auf die Aufstellung zurück. In der Auswertung berücksichtigte t-online.de nur schwerwiegende Vorfälle – und nahm beispielsweise Arbeitsunfälle, auslaufendes Öl und Unfälle beim Transport von Bauteilen aus. Trotzdem schätzt der TÜV-Verband, dass es zu noch mehr Unfällen kommt.

Die Forderungen des TÜV

"Wir gehen von rund 50 gravierenden Schäden an Windrädern pro Jahr aus", sagt Geschäftsführer Joachim Bühler auf Anfrage von t-online.de. Meistens gehe es dabei um beschädigte Blitzschutzkomponenten und Rotorblätter, um herabfallende Teile oder Schäden am Fundament. Er kritisiert die fehlende öffentliche Dokumentation – und fordert bundesweit einheitliche Vorgaben zu Prüfkriterien, einheitliche Prüfzyklen und einheitliche Anforderungen an die Sachverständigen. Jede Anlage müsse mindestens alle zwei Jahre kontrolliert werden – bislang seien Anlagen, die vor 2004 errichtet wurden, von Kontrollen sogar ausgenommen.

Kritiker sagen: Der Verband verfolgt wirtschaftliche Interessen und würde die Kontrollen gern selbst durchführen. Doch auch Stimmen aus der Politik stützen mittlerweile die Forderungen. "Es ist schon bemerkenswert, dass wir in Deutschland alles Mögliche erfassen und archivieren, Havarien von Windkraftanlagen aber offenbar nicht", sagt FDP-Präsidiumsmitglied Frank Sitta auf Anfrage von t-online.de. "Auch die Sicherheitskontrollen sind nicht ausreichend, es sollte anerkannte Standards geben." Er hält eine bundesweite TÜV-Pflicht deswegen für "vermutlich günstig".

"TÜV versucht, neue Geschäftsfelder zu erschließen"

Der Bundesverband WindEnergie (BEW) sieht die Lage anders: Die Forderungen des TÜV seien von Interessen geleitet, die Zahl der Havarien angesichts von 30.000 Anlagen in Deutschland sehr gering, die Sicherheitsstandards etabliert und ausreichend. "Das Kalkül ist klar: Der TÜV versucht sehr aggressiv, neue Geschäftsfelder zu erschließen", sagt Geschäftsführer Wolfram Axthelm im Gespräch mit t-online.de. Seit 2015 sei es zu weniger als 50 Großschäden gekommen, also zu rund zehn Fällen pro Jahr. Genau wisse es der Verband allerdings auch nicht, man werte ebenfalls hauptsächlich öffentliche Quellen aus.

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"Es gibt kein zentrales Schadensregister – das ist auch für uns ein Problem, denn wir können nicht nachweisen, wie sicher unsere Anlagen laufen und zu wie wenig größeren Havarien es tatsächlich kommt", sagt Axthelm. Eine bundeseinheitliche Meldepflicht sei allerdings angesichts der Zuständigkeit kommunaler Behörden schwer durchsetzbar. Vielmehr sollten aus Sicht des Verbandes die Länder eine Registrierungspflicht für Schäden anstreben, die zum langfristigen Ausfall von Anlagen führen. Die Sicherheitskontrollen bezeichnet ein Hintergrundpapier des Verbandes als "anerkannt, gefestigt und bewährt".

"Blitzeinschlag hat mit Wartung nichts zu tun"

Bislang werden Windräder unter anderem im Auftrag der Hersteller oder Serviceanbieter halbjährlich oder jährlich gewartet. Unabhängige Sachverständige führen in der Theorie außerdem alle zwei bis vier Jahre wiederkehrende Überprüfungen durch. Der TÜV meint: in der Praxis nur alle vier Jahre. Der Bundesverband WindEnergie hält dagegen: Für die meisten Schäden seien ohnehin Blitzeinschläge verantwortlich. "Wenn ein Blitz einschlägt, hat das erst mal nichts mit der Wartung der Anlage zu tun", sagt Axthelm.

Wenn eine Windkraftanlage allerdings oben in Brand gerät – ob durch Blitzschlag oder technische Mängel –, wird es unten ringsherum lebensgefährlich. Für die Feuerwehr bleibt dann nur die Zuschauerrolle. Kontrolliert abbrennen lassen, abgefallene Teile löschen und die Umgebung 500 Meter weit absperren: Mehr können die Einsatzkräfte meist nicht ausrichten. Zuletzt zerriss auch ein Sturm in Rheinland-Pfalz vermutlich nach Blitzeinschlag das Rotorblatt eines Windrades – Teile davon wehten auf die nahe Autobahn 62 im Saarland, die daraufhin zeitweilig gesperrt werden musste. Die saarländische Landesregierung sieht trotzdem keinen besonderen Handlungsbedarf.


Auch die Bundesregierung teilt diese Auffassung, wie aus einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP im Bundestag hervorgeht. Sie sehe keine Notwendigkeit einer bundeseinheitlichen Meldepflicht für Schadensfälle. Auch lägen keine Informationen vor, dass die Prüfungen bislang nicht ausreichend seien. "Die Zuständigkeit für die Genehmigungsverfahren und die Überwachung des Betriebs der Anlagen liegt bei den Landesbehörden."

Verwendete Quellen
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