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Krebs in der Corona-Pandemie: Die Mütter "kämpften wie Löwinnen"


Krebs in der Corona-Pandemie
"Sie kämpfen sich durch diese Zeit wie Löwinnen"

Von Ursula Ott (chrismon)

06.05.2022Lesedauer: 6 Min.
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Judith Schümmer mit Tochter Sofia: Sie erzählt, man kam sich manchmal doof vor zu weinen, weil es andere Kinder viel schlimmer getroffen hatte.Vergrößern des Bildes
Judith Schümmer mit Tochter Sofia: Sie erzählt, man kam sich manchmal doof vor zu weinen, weil es andere Kinder viel schlimmer getroffen hatte. (Quelle: Sandra Stein/leer)

Schlimm genug, wenn das Kind Krebs hat. Doch in Corona-Zeiten ist das erst recht ein Albtraum. Zwei Mütter erzählen von ihrer Zeit im Krankenhaus – an der Seite ihres kranken Kindes, allein.

Diese Reportage erschien zuerst auf chrismon.de.

Schafe! Als Sofia, zwei Jahre alt, auf den saftig-grünen Pollerwiesen am Rheinufer zum ersten Mal eine Schafherde sieht, flippt sie fast aus vor Freude. Und als ihre Mutter Judith Schümmer davon erzählt, läuft ihr eine Träne übers Gesicht. Die Mutter ist zum ersten Mal seit Corona im Café, das Kind hat zum ersten Mal Tiere gesehen. Es gibt jetzt viele erste Male für Mutter und Tochter, denn sie waren fast ein Jahr im Krankenhaus auf der Krebsstation. Eingesperrt, man kann es nicht anders sagen.

Kinder und Krebs, das ist immer ein weltumstürzendes Drama. Kinder und Chemotherapie und zeitgleich Corona – "das ist ein Albtraum für die Familien", sagt Meinolf Siepermann, Leiter der Kinderonkologie im Kölner Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße, einem der größten in Deutschland. Der Arzt sorgt sich nicht nur um die Psyche der kleinen Kinder – "die erleben in ihrem kindlichen Verständnis den Alltag auf Station als neue Lebensrealität, sie denken, anderen Kindern ergeht es wie ihnen".

Er sorgt sich auch um Eltern, Geschwister, Großeltern, Verwandte und Freunde. Brüder und Schwestern, die zu Vor-Corona-Zeiten mit dem erkrankten Kind im Krankenbett gekuschelt oder im Spielzimmer Lego gebaut hatten: Jetzt durften sie aufgrund von Besuchsverboten monatelang nicht rein.

"Das ist das Schlimmste"

Eltern mussten sich neu aufteilen – im Krankenhaus und in der Außenwelt. Das belaste oftmals die Paarbeziehung, sagt Siepermann, aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven – "beim Kind" oder "außen vor". Väter kümmern sich häufig um Geschwister, Arbeit und Haushalt. Die Mütter bleiben Tag und Nacht beim Kind – ohne Pause. Die Mütter, sagt der leitende Onkologe, sind echte Heldinnen. "Sie kämpfen sich durch diese Zeit wie Löwinnen und würden nie sagen: Ich kann nicht mehr."

Zwei Löwinnen haben wir getroffen, Judith Schümmer und Jana Bütow. Sie kennen sich gut, auch wenn sie sich selten im Flur begegnen durften und schon gar nicht berühren. "Das ist das Schlimmste", sagt Judith, "wenn die andere gerade eine niederschmetternde Diagnose bekommt und du darfst sie nicht in den Arm nehmen."

Diese Geschichte erscheint in Kooperation mit dem Magazin "chrismon". Die Zeitschrift der evangelischen Kirche liegt jeden Monat mit 1,6 Millionen Exemplaren in großen Tages- und Wochenzeitungen bei – unter anderem "Süddeutsche Zeitung", "Die Zeit", "Die Welt", "Welt kompakt", "Welt am Sonntag" (Norddeutschland), "FAZ" (Frankfurt, Rhein-Main), "Leipziger Volkszeitung" und "Dresdner Neueste Nachrichten". Die erweiterte Ausgabe "chrismon plus" ist im Abonnement sowie im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel erhältlich. Mehr auf: www.chrismon.de

Frauenfreundschaft im Krankenhaus, das heißt: Im Bett liegen, mit dem Kind auf dem Bauch, ins Handy tippen: "Welche Schwester hat heute Dienst? Ah, Marta, cool." Heißt aber auch, sehnsüchtig sein nach dem Schicksal der Zimmernachbarin. Weil die auch mal duschen kann. Weil deren Kind auch mal schläft. Und einen "nicht so schlimmen Krebs" hat, völlig klar, wie seltsam das klingt, sagt Judith. "Man kam sich manchmal doof vor zu weinen, weil andere Kinder ja einen noch schlimmeren Krebs hatten."

"Ich war immer ein freier Mensch"

Judith Schümmers Tochter Sofia hat ein Neuroblastom, eine Krebserkrankung des Nervensystems. Jana Bütows Tochter Mila hat Leukämie. Beide wurden kurz vor Corona geboren, beide kamen 2020 als Kleinstkinder ins Krankenhaus für viele Monate. Sofia lernt laufen, indem die Mutter den Infusionsbaum vor sich herschiebt, das Kind immer am Schlauch. Wenn im Spielzimmer ein Bauklotz auf den Boden fällt, muss er desinfiziert werden. Macht keinen Spaß. Gespielt wird also mit Verbandszeug, mit Plastikspritzen und Mullbinden. Sofias erstes Wort heißt "Haare". Die sie selber nicht hat, die Fotogalerie auf dem Handy – bei anderen Müttern voller Lach- und Spaßfotos – besteht aus vielen Bildern eines ernsten kleinen Glatzkopfs.

Für beide Mütter begann ein Leben, das in krassem Gegensatz zu allem stand, was sie sich vorher hatten vorstellen können. "Ich war immer ein freier Mensch", sagt Judith Schümmer, 42, Reiseverkehrskauffrau. Die große Frau mit der wilden Lockenmähne ist allein durch Australien und Japan gereist, "und wenn es mir einfiel, dann fuhr ich spontan nach Hawaii".

Jetzt war sie auf wenigen Quadratmetern eingesperrt und freute sich schon, wenn Sofia endlich mal kurz ruhig blieb und sie selbst in die Klinikküche durfte, um sich einen Salat zu machen. Das Ronald-McDonald-Haus, wo Mütter zu normalen Zeiten einen Kaffee trinken konnten, war wegen Corona geschlossen. Der Vater des Kindes erkrankte zeitgleich, er ist nicht verfügbar. Sie ist im Krankenzimmer am Rande ihrer Kräfte, schläft kaum, steht immer unter Strom. "Ich war noch nie in meinem Leben so allein."

"Und dann war es plötzlich so: ich hundert, er null."

Die Psychologin rät, kleine Glücksmomente zu sammeln. Die Duftlampe, der Pfefferminztee. Die frisch gebackene Waffel, die die Klinikseelsorgerin vorbeigebracht hat. Man muss es wirklich suchen, das Glück. Bei ihrer Zimmernachbarin Jana Bütow ist der Vater gesund und engagiert. Aber von jetzt auf gleich so gut wie abgemeldet.

"Wir wollten uns die Kinderbetreuung eigentlich fifty-fifty teilen", sagt die Kulturmanagerin, 36, lange Haare, wacher Blick. "Und dann war es plötzlich so: ich hundert, er null." Denn die Klinik kann wegen Corona nur entweder Mutter oder Vater aufnehmen. Und wenn Mutter und Kind mal für ein paar Tage nach Hause dürfen, "dann hatte mein Partner kaum eine Chance".

Das Kind ist auf die Mutter fixiert; als die beiden zum ersten Mal nach Hause dürfen, schläft der Vater auf einer Matratze im Wohnzimmer. Jana Bütow trägt ein M an einer Kette um den Hals. "Alle Tränen", sagt sie, "die Mila geweint hat, habe ich getrocknet, nicht der Papa." Und es waren viele. "Mila hatte dieses besondere Weinen, sie war manchmal ganz außer sich." Mama beruhigt, tröstet, selber behält sie immer die Fassung. "Bei mir kam einfach keine Träne", sagt sie, "ich musste ja der ruhige Hafen sein für Mila."

Rotwein im Schraubdeckelglas und getupperte Sandförmchen

Nicht nur die Väter, auch die Großeltern mussten draußen bleiben. So fehlt nicht nur die Entlastung, die man sonst häufig durch Großeltern hat – Oma und Opa müssen zudem auch noch beruhigt werden. "Ich kam mir vor wie ein Sendemast", sagt Jana. Klar kann man das organisieren, WhatsApp-Gruppen einrichten, feste Telefonzeiten fixieren. Und der Opa hat für Facetime auch mal ein Video mit einem Kasperle aufgenommen, das war toll. "Aber ich war immer die Botschafterin."

Wie segensreich, wenn Freunde doch mal eine nicht digitale Botschaft überbrachten. Ein Schraubdeckelglas mit Rotwein an der Klinikrezeption abgaben. Oder Sandförmchen in der Tupperdose. Wie gut, dass die Seelsorgerin immer kommen durfte, mit zwei Kaffees im Pappbecher, "die hatte immer alle Zeit der Welt".

Homöopathie und Globuli? Das war "früher"

Was alle Familien mit kleinen Kindern stresst, ist für die einsamen Mütter doppelt und dreifach anstrengend. Warum schreit das Kind? Hat es Fieber? Ist es nicht arg blass? Zu normalen Zeiten berät man sich mit dem Partner, fragt die Oma um Rat. Was meinst du? Ist das komisch oder reicht ein "Rotbäckchen" vom Ökoladen? In Sachen Homöopathie ist Familie Bütow ernüchtert. "Ich war früher auf Globuli", grinst Jana Bütow, "jetzt gebe ich meinem Kind eine rosa Flüssigkeit, auf der steht: Bitte nicht im Hausmüll entsorgen." Die Chemie hat beide Kinder geheilt. Nach vielen Chemozyklen endlich die Diagnose: krebsfrei.

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Es gab einen großen Abschied, eine Glocke läutete, die Ärzte und Schwestern winkten "La Ola", sie klatschten und überreichten Tapferkeitsorden. Beide Mütter arbeiten inzwischen wieder in ihren Berufen, sie müssen nur noch zur Kontrolle in die Klinik, bei Familie Bütow kann das endlich der Vater übernehmen.

Also alles normal? Sie seien immer noch in Habachtstellung, sagt Jana Bütow. "Als Mila neulich Fieber hatte, waren wir völlig außer uns. Dabei hat sie vermutlich nur Zähne gekriegt." Beide Mütter schwören auf das Klinikpersonal. Mega. Die Rettung. Einfach Wahnsinn. Und merken doch jetzt, wo Corona bald und der Krebs hoffentlich endgültig vorbei sind, wie erschöpft sie sind. "Mein Optimismus", sagt Jana Bütow, "steht auf tönernen Füßen."

Arzt: "Das tat oft im Herzen weh"

Im Krankenhaus wird sich hoffentlich die Corona-Lage bald entspannen. Und man wird sich die Geschichten von Einsamkeit und Isolation nur noch erzählen: von den Kindern, die sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen während der Therapie auch mit Corona ansteckten.

Eine Mutter war drei lange Monate auf der Corona-Infektionsstation eingeschlossen mit ihrem sechsjährigen Sohn. Die Chemotherapie sorgte dafür, dass der Test fast 90 Tage positiv blieb. Mutter und Kind sahen von einem auf den anderen Tag nur noch Pflegepersonal und Ärzte in Schutzkleidung mit Visier und Maske, wie "vermummte Marsmännchen", so Siepermann. Wochenlang in einem Zimmer. Eine harte Zeit, wie im Gefängnis.

Es musste eine "entlastende Ausnahme" her, sagt der Arzt – wenigstens mal frühmorgens und abends eine Stunde raus über den Balkon in den Garten. Was für eine eigentlich unmenschliche Isolation – und das in einer Situation, wo menschliche Nähe dringend nötig ist. "Wir mussten unsere anderen Patienten und uns als Klinikpersonal schützen vor Corona." Aber es tat, sagt der Arzt, "oft im Herzen weh".

Weiterführende Links auf chrismon.de:

"Wir lassen hier niemanden allein": Das Kinderhospiz Bärenherz in Wiesbaden begleitet Familien mit schwer kranken Kindern. Ein Aufenthalt soll auch die Eltern entlasten. Weiterlesen auf chrismon.de.

Ein einzigartiges Mädchen: Unter einer Million Menschen hat nur eine Handvoll das, was Bercem hat. Sie ist bestens aufgehoben: bei Mama, in der Förderschule – und im neuen Kinderzentrum in Bethel. Weiterlesen auf chrismon.de.

"Die ganz große Welle kommt erst noch": Fachleute schlagen Alarm: Die Corona-Pandemie macht immer mehr Kinder und Jugendliche psychisch krank. Weiterlesen auf chrismon.de.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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