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Augenzeugin über Attentat am Independence Day: "Jetzt ist es endlich vorbei"


Attentat am Unabhängigkeitstag
"Er hätte das nie in die Hände bekommen dürfen"

  • Bastian Brauns
InterviewVon Bastian Brauns, Washington

Aktualisiert am 05.07.2022Lesedauer: 4 Min.
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"Das sieht so aus, als würde ein Attentäter um sich schießen."Vergrößern des Bildes
"Das sieht so aus, als würde ein Attentäter um sich schießen." (Quelle: imago-images-bilder)

Seit 30 Jahren feiert Nicole Graham den Independence Day bei der Parade zum 4. Juli nahe Chicago in Highland Park. Dieses Jahr musste sie um ihr Leben fürchten.

Nicole Graham ist 31 Jahre alt und arbeitet als Lehrerin für die Mittelstufe. In Highland Park, unweit von Chicago, ist sie aufgewachsen. Schon als kleines Mädchen nahm sie dort an der jährlichen Parade zum Independence Day teil.

Dieser 4. Juli aber wurde für sie und ihre Familie zum Albtraum: Ein 21-jähriger Attentäter schoss mit einem Sturmgewehr vom Dach in die Zuschauermenge, tötete sieben Menschen und verletzte Dutzende. Mit t-online hat sie über ihre Erlebnisse gesprochen und darüber, was sie sich jetzt erhofft.

t-online: Miss Graham, seit gestern wissen Sie, was es bedeutet, ein Attentat mitzuerleben. Wie geht es Ihnen heute?

Nicole Graham: Ich fühle mich noch immer sehr durcheinander, ziemlich gestresst. Den ganzen Tag hatte ich Angst und mir war einfach nur übel. Was mich jetzt erleichtert, ist, dass sie den Typen endlich gefasst haben und er in Gewahrsam ist.

Das hat viele Stunden gedauert.

Ja, morgens gegen 10 Uhr begann er damit, Leute zu erschießen. Erst am Abend haben sie ihn festgenommen. Den ganzen Tag über wussten wir nicht, wo er sich aufhält. Die ganze Stadt wurde abgeriegelt. Jetzt ist es endlich vorbei. Die Trauer der Familien aber bleibt, er hat viele Menschen erschossen und verletzt.

Auch Sie haben sich die Parade zum Independence Day angesehen. Woran können Sie sich erinnern?

Ich war mit meinen Eltern bei der Parade, ganz am Ende der Route. Dort, wo ich selbst auch als Kind immer gestanden habe. Die Einsatzwagen von Feuerwehr und Polizei, die immer den Anfang des Umzugs bilden, waren gerade an uns vorbeigefahren. Plötzlich rannten Menschen von überallher. Es herrschte völliges Chaos. Die Musikkapellen der High-School-Bands hörten auf zu spielen. Die Jugendlichen rannten nur noch weg. Wir versuchten, irgendwie herauszufinden, was passiert ist. Mein Vater war früher Polizist und sagte dann: "Das sieht so aus, als würde ein Attentäter um sich schießen."

Was geschah dann?

Es war total surreal. Die Einsatzfahrzeuge, die eigentlich Teil der Parade sind, wechselten schlagartig in einen Notfallmodus. Die Beamten knallten die Türen zu. Ein Rettungswagen drehte um. Zwei Polizeiautos flogen geradezu die Straße entlang mitten in die Parade hinein. Zwei Frauen riefen: "Weg hier, sofort weg hier. Lauft heim und geht in Deckung!" Wir schnappten unsere Sachen und rannten in einen nahegelegen Park, gleich bei der Feuerwache. Dann sahen wir immer mehr gepanzerte Polizeiwagen und schwer bewaffnete Beamte mit Maschinengewehren im Anschlag. Wow, das war alles vollkommen wahnsinnig.

Was dachten Sie in dem Moment?

Einfach nur: Das kann nicht sein. Ein Shooting hier? Seit 30 Jahren bin ich bei dieser Parade. Das ist eigentlich eine wohlhabende Gegend, ein beschaulicher Vorort von Chicago. Ich erinnere mich zwar noch an Scharfschützen nach dem 11. September, die damals den Umzug schützen sollten. Mit so einem Vorfall aber hat jetzt offenbar niemand gerechnet. Es fühlt sich seltsam an, eben weil es schon mal mehr Schutz gegeben hat. Zuerst dachte ich: Vielleicht ist es Gang-Kriminalität? Aber uns war allen schnell klar, das ist ein Attentäter mit einem Sturmgewehr und es kann viele Tote geben.

Ist Ihnen der Täter bekannt? Sein Vater soll vor einiger Zeit als Bürgermeisterkandidat angetreten sein.

Nein, ich kenne ihn überhaupt nicht. Dem Vater gehört so ein Sandwichladen am Rande der Stadt. Ich kenne die Familie aber nicht. Über den Täter habe ich jetzt viel aus den sozialen Netzwerken mitbekommen. Er scheint alles andere als stabil gewesen zu sein. Videos, die er bereits vor ein paar Monaten hochgeladen hat, zeigen, dass er etwas in die Richtung vorgehabt haben muss. Man sieht Waffen, Polizisten und ihn. Absolut erschreckend.

US-Präsident Joe Biden hat gestern mitgeteilt, dass sehr viel mehr getan werden müsse, um die Waffengewalt in den Griff zu bekommen. Was denken Sie über die Waffenrechte?

Ich habe dazu eine differenzierte Meinung. Ich finde, solche Waffen gehören wirklich nicht in die Hände von solchen Kindern, ganz besonders keine Sturmgewehre. Dieser 21-Jährige hätte so etwas niemals in die Hände bekommen dürfen. Dennoch bin ich dafür, dass Menschen sich selbst verteidigen können müssen.

Aber wie soll das verhindert werden?

Die Leute kommen viel zu einfach an Waffen, auch Kinder und Menschen, die psychisch labil sind. Wie dieser Typ, der für jeden ersichtlich einfach nicht okay war. In Illinois benötigt man bereits eine bestimmte Lizenz, um Waffen kaufen zu können. Trotzdem ist das kein sicheres System. Es gibt Waffen auf dem Schwarzmarkt. Oder man geht einfach über die Grenze in einen anderen Bundesstaat, wo man keine Lizenz braucht. Überall sind die Regeln unterschiedlich, total chaotisch.

Wie gehen Sie jetzt mit ihrer Erfahrung um?

Es ist schon seltsam. Sie haben den Täter gefasst, gleich neben der Schule, in der ich als Lehrerin arbeite. Ich wünsche mir jetzt, insbesondere von den Medien, dass sie den Täter nicht ins Zentrum ihrer Berichterstattung stellen. Wozu seinen Namen nennen, wozu sein Gesicht zeigen? Es sollte jetzt um die Schicksale der Familien gehen und um die wahren Helden dieses Tages: die Einsatzkräfte der Polizei und die vielen Ersthelfer vor Ort. Die haben wirklich einen verdammt guten Job gemacht.

Miss Graham, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Gespräch mit Nicole Graham über Facebook
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