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Israel: So schnell kann eine Demokratie in die Diktatur umschlagen


Es steht auf Messers Schneide

Von Florian Harms

Aktualisiert am 30.03.2023Lesedauer: 6 Min.
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Sowohl Israelis als auch Palästinenser demonstrieren gegen die Regierung NetanjahuVergrößern des Bildes
Sowohl Israelis als auch Palästinenser demonstrieren gegen die Regierung Netanjahu. (Quelle: IMAGO/Ashraf Amra/apaimages)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

irgendwann hat man alles schon mal gesehen. Sogar bei existenziellen nationalen Krisen ist das so. Nehmen wir zum Beispiel ein Land, das in zwei unversöhnliche Lager gespalten ist: die einen links oder bürgerlich, auf jeden Fall liberal. Die anderen rechts, konservativ oder patriotisch, angeführt von extremistischen Schreihälsen und einem Populisten, der keinerlei Berührungsängste gegenüber militanten Hetzern hat. Mit seinen markigen Sprüchen hat er es bis an die Spitze der Regierung gebracht. Skandale prägen seine Amtszeit, zugleich klebt die Justiz an seinen Fersen: Windige Deals und krumme Geschäfte beschäftigen die Staatsanwälte. Die schockierenden Manöver seiner Regierungsmannschaft vertiefen die Spaltung der Gesellschaft. Nicht nur die Opposition, sondern eine Mehrheit der Bürger sieht die Demokratie in Gefahr. Es geht ums Ganze. Die Nerven liegen blank.

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Wenn vor Ihrem geistigen Auge gerade die Buchstaben T-R-U-M-P vorüberziehen, haben Sie allerdings falsch geraten. In einer Geschichtsstunde sind wir nicht gelandet, allenfalls in einer Geografiestunde – einer, aus der man ein paar wichtige Erkenntnisse mitnehmen kann: Die Staatskrise der Stunde findet in Israel statt, wo vor drei Tagen – nach den größten Massendemonstrationen in der Geschichte des Landes, einem Generalstreik, der Dienstverweigerung Hunderter Militärreservisten und einem Proteststurm aus der Wirtschaft – Skandalpremier Benjamin Netanjahu versucht hat, die Pausentaste zu drücken. Eine "Justizreform", wie seine Koalition es nennt, beziehungsweise der "Weg in die Diktatur", wie die wütenden Protestierer das Vorhaben einstufen, liegt nun für einige Wochen auf Eis. Es ist der Versuch eines Waffenstillstands, nachdem Netanjahus Position unhaltbar geworden ist.

Gemessen am Aufruhr der vergangenen Wochen herrscht jetzt kurzzeitig relative Ruhe. Warum schauen wir heute trotzdem nach Israel? Weil Israel die Zukunft ist, vielleicht jedenfalls. Es ist der Prototyp einer Gesellschaft, der der Konsens abhandengekommen ist – darüber, was der Staat eigentlich sein soll und was die Grundwerte des Zusammenlebens sind. Für solide politische Mehrheiten reicht es deshalb schon lange nicht mehr. Stabilität? Pustekuchen.

Das Geschacher um die Bildung einer Regierung, die mehr als eine zweistellige Zahl von Tagen überlebt, hat Kräfte an den Kabinettstisch gebracht, bei denen einem angst und bange werden kann. Zum Beispiel Itamar Ben-Gvir, den Chef einer rechtsextremen Partei und Bewunderer eines Massenmörders, der in Hebron ein Massaker unter Palästinensern angerichtet hat. Ben-Gvir wurde in der Vergangenheit wegen Anstachelung zum Rassenhass und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Jetzt ist er Minister für nationale Sicherheit. Das muss man erst mal sacken lassen.

Rechtsextreme und ultraorthodoxe Parteien steuern die Hälfte der Parlamentssitze bei, mit deren Hilfe sich Premier Netanjahu an seinen Amtssessel klammert. Noch nie wurde Israel von einem so radikalen Kabinett regiert. Die Extremisten wittern ihre historische Chance. Es empfiehlt sich, ihr Vorgehen auch aus der Ferne mit Argusaugen zu beobachten. Denn in Israel sind die Attacken derer, die den Staat radikal umbauen wollen, weiter fortgeschritten als in anderen gefährdeten Demokratien. Rechtspopulisten weltweit kupfern erfolgreiche Rezepte voneinander ab. Das, womit sie in Israel ihre Agenda voranbringen, wird später auch anderswo auftauchen. Wie also verläuft die Schlacht?

Die Zerstörung einer unabhängigen Justiz gehört weltweit zu den Plänen der Rechten. Insofern sehen wir in Israel ein vertrautes Bild. Rückbau der unabhängigen Justiz, Besetzung der höchsten Richterämter nach dem Geschmack der Regierenden: Das kennen wir aus Polen und Ungarn und natürlich vom Ex-Präsidentenhallodri Trump. In Israel haben die Radikalen in Premier Netanjahu einen natürlichen Verbündeten gefunden: Er führt schon seit Jahren eine Privatfehde gegen Staatsanwälte und Gerichte, die ihn wegen Korruption anklagen wollen. Nur weil der Großteil der israelischen Gesellschaft auf die Barrikaden gegangen ist, muss der Plan, die Justiz anzuleinen, noch etwas auf seine Vollendung warten – aufgeschoben, aber nicht aufgehoben.

Aber das ist nicht alles. Dass der belagerte Premier angesichts des Protests eingeknickt ist, haben seine extremistischen Freunde ihm übelgenommen. Damit sie ihm nicht von der Fahne gehen, hat Netanjahu dem Minister Ben-Gvir deshalb ein besorgniserregendes Geschenk gemacht: die Erlaubnis zum Aufbau einer "Nationalgarde". Sie soll als persönliche Eingreiftruppe des Ministers für Ordnung sorgen – oder für das, was ein Mann mit seiner Vergangenheit unter Ordnung versteht. Selbst in der Polizei sorgt man sich jetzt, dass eine gefährliche Parallelstruktur entsteht: eine Miliz im Dienst eines Rechtsradikalen. Vertreter der Palästinenser und der israelischen Araber befürchten das Schlimmste, eine Menschenrechtsorganisation spricht von "Ben-Gvirs Revolutionswächtern". Im Drehbuch der Rechtspopulisten ist das ein neuer Akt. Eine Privatarmee unter ihrer Kontrolle, die in staatliche Strukturen integriert ist – das kannten wir bisher eher aus Diktaturen in Afrika.

Man mag sich nur ungern ausmalen, dass das Beispiel Schule macht. Präsident Trump bediente sich zwar ebenfalls rechtsextremer Milizen wie der Oath Keepers, machte sich diese aber aus der Distanz per Tweet und freundlichem Kopfnicken dienstbar. Sollte nach den Wahlen im November 2024 wieder ein rechter Republikaner ins Weiße Haus einziehen, dürfen wir gespannt sein, ob die Grenze zwischen dem Gewaltmonopol des Staates und den privaten Milizen weiterhin hält. In Jerusalem wird sie jetzt ausgetestet.

Aus Israel erreicht uns aber auch eine Botschaft, die unserer demokratischen Seele guttut. Denn wir können dort beobachten, was passiert, wenn die Mehrheit der Menschen zu dem Schluss kommt, dass die Grenze erreicht ist. Quer durch soziale Schichten, Berufe, Karrieren sind die Leute auf die Straße gegangen, viele zum ersten Mal. Der Gegenangriff der Zivilgesellschaft kam aus unerwarteter Richtung: Reservisten aus Eliteeinheiten der israelischen Armee haben den Protest angeführt, ehemalige Oberkommandierende mischten sich unter die Demonstranten, Ex-Chefs der Geheimdienste warnten öffentlich vor dem Abgleiten in eine rechte Diktatur. Gewerkschaften und Arbeitgeber sind auf den Barrikaden. Das Kräftemessen ist in vollem Gang. Die Unabhängigkeit der Justiz ist noch nicht weg vom Fenster, die Demokratie auch nicht. Vielleicht sind es stattdessen bald ihre Feinde. Hoffen wir’s!


Riskante Reise

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Die Bilder vom jüngsten Besuch des chinesischen Diktators Xi Jinping in Moskau sind noch präsent: der Handschlag mit Kriegsverbrecher Putin, die Freundschaftsbekundungen, die Unterzeichnung von Abkommen über den Ausbau der strategischen Partnerschaft beider Länder. Ach ja, und natürlich der sogenannte chinesische Friedensplan für die Ukraine, von dem man seither nichts mehr gehört hat. Wer sich dazu noch Deutschlands wirtschaftliche Abhängigkeit von China vor Augen führt, dem kann eigentlich nur bange werden.

Und nun? Für die EU gelte es, "China auf unsere Seite zu ziehen", hat der französische Präsident Emmanuel Macron unverzagt als Losung ausgegeben – und deshalb Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dazu eingeladen, ihn auf seiner China-Reise Anfang April zu begleiten. Bevor die schwierige Mission beginnt, spricht die CDU-Politikerin heute auf einer Veranstaltung des Mercator Institute for China Studies in Brüssel über ihre Vorstellungen von den künftigen Beziehungen zwischen der EU und China. Ob sie sich traut, angemessen kritisch zu sein?


Geld statt Pragmatismus

Deutschland muss digitaler werden, auch in der Justiz. Die Zettelwirtschaft in Gerichten mit stapelweise Papierakten und Handzetteln soll endlich enden: Bis zum 31.12.2025 sei bundesweit die Einführung der elektronischen Akte sicherzustellen, hat der Bund den Ländern als Hausaufgabe aufgegeben. Um die Mammutaufgabe zu strukturieren, zu organisieren und zu delegieren, kommen die Justizminister der Länder heute im Haus von FDP-Ressortchef Marco Buschmann zusammen – schließlich muss in Deutschland alles feinsäuberlich vorbereitet werden.

Und natürlich geht es auch hier ums Geld: Während der Bund den Ländern für die kommenden vier Jahre 200 Millionen Euro in Aussicht gestellt hat, hätten die Länder gern 220 Millionen Euro für mehr Personal plus jährlich weitere 350 Millionen Euro für die eigentliche Digitalisierung. Wir lernen: Ohne Füllhorn geht in Deutschland nix mehr.


Endlich!

Auch wenn Sie es beim Einkaufen noch nicht so richtig merken: Nach Schätzungen von Ökonomen ist die Inflationsrate im März gesunken. Die befragten Volkswirte von 14 Banken rechnen im Schnitt mit einem Rückgang auf 7,3 Prozent – während sie im Januar und Februar noch bei 8,7 Prozent lag. Es wäre der niedrigste Wert seit August 2022. Heute Nachmittag gibt das Statistische Bundesamt die vorläufigen Daten bekannt.


Keine Einigung

Die Gewerkschaft Verdi hat in der Nacht die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst als gescheitert erklärt. Die Arbeitgeber – Bund und Kommunen – haben die Schlichtung einberufen. Das wendet zunächst weitere Streiks ab.


Lesetipps

Immer mehr westliche Kampfpanzer treffen in der Ukraine ein. Könnte das der Wendepunkt im Krieg sein? Der Militärexperte Christian Mölling hat es meinem Kollegen Patrick Diekmann erklärt.



Auch 144 Straßenbauprojekte hat die Regierung beschlossen. Mein Kollege Christopher Clausen zeigt Ihnen, welche Autobahnen nun ausgebaut werden.


Die Bundesregierung reformiert das Einwanderungsrecht, um mehr Fachkräfte nach Deutschland zu locken. Das ist wichtig – reicht aber bei Weitem nicht aus, meint unsere Chefreporterin Miriam Hollstein.


Der Ohrenschmaus …


Zum Schluss

Die Ampelleute haben sich zusammengerauft.

Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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