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Steinmeiers Satz sitzt


Tagesanbruch
Steinmeiers Satz sitzt

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 13.05.2025 - 06:21 UhrLesedauer: 7 Min.
Bundespräsident Steinmeier gestern Abend im Schloss Bellevue.Vergrößern des Bildes
Bundespräsident Steinmeier gestern Abend im Schloss Bellevue. (Quelle: Lisi Niesner/Reuters Pool/dpa)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

dieser Tage wird viel gereist. Der neue Kanzler und die neuen Minister jetten zu Antrittsbesuchen ins Ausland, knüpfen Kontakte und fädeln erste politische Initiativen ein. Mit seinem Trip nach Kiew hat Friedrich Merz einen Achtungserfolg erzielt, gemeinsam mit den Kollegen Macron, Starmer und Tusk hat er dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj den Rücken gestärkt und den Druck auf Putin erhöht. Die erhoffte Waffenruhe bleibt zwar noch aus, dafür haben die Europäer nun eine schlüssige Begründung, um verschärfte Sanktionen gegen Russland vorzubereiten.

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Auch der Alleinunterhalter in Washington hat sich auf den Weg gemacht: In seinem Superjumbo donnert er in die Golfstaaten, wo ihn Säbeltänze, Schmeicheleien und ein Superduperjumbojet als Bestechung … pardon, Gastgeschenk erwarten. Er unterscheidet bekanntlich nicht zwischen Politik und Geschäft, der Donald.

Sie sehen: Politikerreisen können unterschiedlichen Zwecken dienen. Dass sie greifbare Ergebnisse hervorbringen, ist eher selten. Oft sind es nur Trippelschritte auf dem Weg zu einem Ziel. Trotzdem lässt sich ihre Bedeutung kaum überschätzen. Den persönlichen Austausch zwischen Staatschefs und Regierenden kann kein Telefonat und keine SMS ersetzen. Erst recht, wenn es um Leben und Tod geht.

So wie heute Morgen, wenn Frank-Walter Steinmeier in Berlin in den Flieger der Luftwaffe klettert. Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Patrick Cramer, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, und Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, klettern hinterher. Und hinten im Flugzeug hocken wir Journalisten. Auf nach Israel!

Offizieller Anlass der Bundespräsidentenreise ist die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland vor 60 Jahren. Israels Staatspräsident Jitzchak Herzog wurde gestern mit einem Dinner im Schloss Bellevue geehrt, es gab Hering, Spargelsuppe und eindringliche Worte des Gastgebers: Steinmeier beließ es nicht dabei, die deutsch-israelische Freundschaft nach den Naziverbrechen als "Wunder" zu rühmen und gemeinsam mit Kanzler Merz, mehreren Bundesministern sowie der versammelten Tafelrunde eine Gedenkminute für die verstorbene Berliner Jüdin Margot Friedländer einzulegen. Er erinnerte nicht nur an den bestialischen Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023, die Morde an mehr als 1.200 Israelis und das Schicksal der verschleppten Geiseln. Steinmeier prangerte auch den grassierenden Judenhass hierzulande an: "Solange Antisemitismus und Israel-Hass auf deutschen Straßen und Plätzen, in Hörsälen und an Stammtischen, Raum finden, solange werden wir dem Geschenk der Versöhnung nicht gerecht." Ein Satz, der sitzt.

Es ist nicht einfach, gelang dem Bundespräsidenten aber, den Bogen zum Gazastreifen zu schlagen. Die Lage dort als dramatisch zu beschreiben, wäre eine Untertreibung. Sie ist furchtbar. Israels Regierung hat die Besetzung des Landstrichs zu ihrem Hauptziel erklärt und ordnet diesem sogar die Geiselbefreiung unter. Getrieben von rechtsextremen Ministern kämpft Premier Benjamin Netanjahu nicht mehr nur gegen die Hamas, sondern führt einen Landraubkrieg gegen die Zivilbevölkerung: Die israelische Armee zerbombt die letzten noch stehenden Häuser, erschießt Männer, Frauen und Kinder und hungert den Rest der Bevölkerung aus, indem sie Hilfslieferungen blockiert.

Ein Kilogramm Mehl kostet im Gazastreifen mittlerweile 20 Dollar – unerschwinglich für die meisten Menschen. Zwei Drittel der Krankenstationen sind zerstört, die Schulen seit anderthalb Jahren geschlossen. Den von der Hamas kontrollierten Behörden zufolge sind den Kämpfen mehr als 52.000 Palästinenser zum Opfern gefallen. Unabhängig überprüfen lässt sich die Zahl nicht, aber dass es Zehntausende sind, ist offensichtlich: Täglich werden Leichen bestattet.

Netanjahu facht den Gewaltorkan weiter an, sein Finanzminister Bezalel Smotrich hat vor wenigen Tagen auf einer Siedlerkonferenz einen perfiden Plan verkündet: Binnen sechs Monaten sollen die überlebenden 2,3 Millionen Palästinenser im Süden des Gazastreifens an der Grenze zu Ägypten zusammengepfercht werden. Der Rest des Landstrichs werde bis dahin "völlig zerstört" sein. Dann kann der Siedlungsbau für ultrareligiöse Juden beginnen. Ermutigt vom irrlichternden US-Präsidenten und kaum behindert von den schwachbrüstigen Europäern nutzt Israels Regierung die Hamas-Verbrechen als Vorwand, um noch größere Verbrechen zu begehen: Das ist die Lage, wenn der Bundespräsident in wenigen Stunden in Tel Aviv landet und dann nach Jerusalem weiterfährt. Dort wird er auch Netanjahu treffen.

Was sagt man einem Mann, der das Völkerrecht bricht und als mutmaßlicher Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt ist? Friedrich Merz hat noch nicht zu einer schlüssigen Position gefunden; er ringt noch damit, dass er sich im Wahlkampf zu weit aus dem Fenster gelehnt und Netanjahu demonstrativ nach Deutschland eingeladen hat. Schwer vorstellbar, dass er als Bundeskanzler den Haftbefehl des Haager Gerichts einfach ignoriert. Heikel, wenn man erst spricht und dann denkt.

Frank-Walter Steinmeier macht es meistens umgekehrt. Damit hat er sich den Vorwurf des Berliner Kommentariats eingehandelt, er rede keinen Klartext, habe keine Botschaft, könne keine großen Reden halten. Ziemlich wohlfeil, diese Kritik. Wer so etwas schreibt, den würde man gern sehen, wie er als offizieller Vertreter eines Volkes, das sechs Millionen Juden ermordet hat, einem israelischen Regierungschef gegenübertritt, dem seine Macht wichtiger ist als das Schicksal zigtausender Menschen. Kommentare zu schreiben ist einfach, Diplomatie ist kompliziert. Klare Botschaften in verbindliche Sätze zu kleiden und selbst mit Freunden Tacheles zu reden, ist eine Kunst.

Steinmeier beherrscht sie. Gestern Abend beim Bankett im Schloss Bellevue gab er dem israelischen Staatspräsidenten Herzog, den er einen Freund nennt, die folgenden Sätze mit auf den Weg: "Die Feinde Israels halten sich nicht an Regeln, aber wir müssen es tun. Als Demokratien und Rechtsstaaten dürfen wir nicht hinwegsehen über das sich auftürmende Leid unter der Zivilbevölkerung Gazas, über hungernde Kinder und verzweifelte Mütter." Für ein Staatsoberhaupt, das sich nicht in die Tagespolitik einmischen darf, sind das ziemlich klare Worte. Es ist davon auszugehen, dass Steinmeier heute Nachmittag in Jerusalem noch deutlicher wird. Angemessen wäre es.


Reisen macht reich

Die Delegation ist prominent besetzt: Wenn US-Präsident Donald Trump heute zur ersten offiziellen Auslandsreise seiner zweiten Amtszeit – abgesehen von der Teilnahme an der Trauerfeier für Papst Franziskus – nach Saudi-Arabien, Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate aufbricht, hat er gleich mehrere mächtige Wirtschaftsbosse im Schlepptau. Unter anderem sind Tesla-CEO Elon Musk, Meta-Chef Mark Zuckerberg, BlackRock-CEO Larry Fink, OpenAI-CEO Sam Altman, Citigroup-CEO Jane Fraser und Boeing-CEO Kelly Ortberg dabei. Dass es bei dem Trip nicht um Menschenrechtsverletzungen im Reich des Kronprinzen Mohammed bin Salman gehen soll, liegt auf der Hand. Das Ziel sind große Deals mit vielen Nullen; auch die Trump Organization, die derzeit von den Präsidentensöhnen Eric und Donald Jr. geführt wird, möchte in der Golfregion investieren. Das wirft heikle Fragen auf, schreibt mein Kollege Julian Alexander Fischer.

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Trump wäre aber nicht Trump, wenn er die Reise nicht auch noch mit einem aufmerksamkeitsheischenden Skandal garniert hätte. US-Medien zufolge plant die Familie des Emirs von Katar, dem Gast aus Washington eine Boeing 747-8 zu schenken, die dieser dann als neue Air Force One einsetzen könnte. Während die US-Demokraten Bestechung und ausländische Einflussnahme wittern, verteidigt der oberste Dealmaker der Nation seinen Coup als "transparente Transaktion". Bis Donnerstag will Trump unterwegs sein. Einen Abstecher nach Istanbul zum möglichen Treffen zwischen dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj und Kreml-Kriegsherrn Putin schließt er nicht aus. Immerhin.


Immer mehr Flüchtlinge

Es war ein trauriger Rekordwert, den die Beobachtungsstelle für Binnenvertriebene im vergangenen Jahr verkündete: Fast 76 Millionen Menschen waren Ende 2023 in ihrem eigenen Land auf der Flucht vor Kriegen oder Umweltkatastrophen – ein Anstieg um 50 Prozent innerhalb von fünf Jahren. Besonders schwer betroffen: die Bewohner des Gazastreifens, des Sudans und der Demokratischen Republik Kongo. Nahezu die Hälfte aller Binnenflüchtlinge weltweit fallen der Erhebung zufolge auf afrikanische Länder.

Heute stellt die UN-nahe Organisation in Genf die Zahlen für 2024 vor – und dass die Lage sich entspannt hätte, ist nicht zu erwarten. Schließlich nehmen Häufigkeit, Dauer und Intensität von Naturkatastrophen im Zusammenhang mit der Erderhitzung weiter zu. Trumps Zerschlagung der US-Entwicklungsbehörde USAID wirkt sich umso verheerender aus.


Ehrlos und ehrenvoll

Zweimal Kino, zweimal Frankreich, einmal unerfreulich: Heute Morgen verkündet das Pariser Strafgericht sein Urteil im Verfahren gegen den gefallenen Schauspielstar Gérard Depardieu, dem zwei Frauen sexuelle Belästigung bei Dreharbeiten vorwerfen. Am Abend richten sich die Blicke dann nach Cannes, wo die 78. Internationalen Filmfestspiele beginnen. Zur Eröffnung wird Robert De Niro an der Croisette erwartet, der die Goldene Ehrenpalme für sein Lebenswerk erhält. Als einzige deutsche Regisseurin hat es Mascha Schilinski mit ihrem Film "In die Sonne schauen" in den Wettbewerb geschafft.


Ohrenschmaus

Draußen scheint die Sonne, drinnen auch. Im Herzen nämlich. Dafür sorgt ein Jubilar, der heute seinen 75. Geburtstag feiert.


Lesetipps

Der Staat soll schlanker werden. Und digitaler. Moderner. Weniger bürokratisch. Dafür haben wir jetzt einen Digitalminister. Ist Karsten Wildberger der deutsche Elon Musk? Unser Kolumnist Uwe Vorkötter wägt ab.


Immer mehr junge Männer tragen Messer, die Zahl der Angriffe steigt. Doch nicht die Herkunft der Täter erklärt den Trend, sondern etwas anderes, berichtet meine Kollegin Ellen Ivits.


Krankheit, Kündigung oder keine Lust: Es gibt viele Gründe, warum Menschen Bürgergeld beziehen. Das System soll nun reformiert werden – Betroffene zeigen sich davon unbeeindruckt, wie mein Kollege Jakob Hartung zeigt.


Krise folgt auf Krise – wie stabil ist unsere Zivilisation? Der Archäologe Eric H. Cline hat den Untergang mächtiger Kulturen erforscht und gibt im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke eine beunruhigende Prognose.


Zum Schluss

In diesen Tagen werden viele politische Reden gehalten. Aber keine ist so treffend wie diese.

Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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