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Wagenknecht wird von ukrainischer Journalistin nach Butscha eingeladen


"Ich lade Frau Wagenknecht ein, nach Butscha zu kommen"

  • Bastian Brauns
Von Miriam Hollstein, Bastian Brauns

Aktualisiert am 03.03.2023Lesedauer: 5 Min.
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Umstrittene Äußerungen: Sahra Wagenknecht beim Aufstand für Frieden in BerlinVergrößern des Bildes
Umstrittene Äußerungen: Sahra Wagenknecht beim "Aufstand für Frieden" in Berlin. (Quelle: IMAGO)

Die ukrainische Journalistin Sevgil Musaieva arbeitet weiter – trotz Morddrohungen und vieler gefallener Kollegen. Ein Gespräch über das Grauen des Krieges und den Glauben an die Wahrheit.

Das amerikanische "Time"-Magazin zählte sie 2022 zu den 100 einflussreichsten Personen des Jahres: Die Journalistin Sevgil Musaieva arbeitet mitten im Krieg als Chefredakteurin der ukrainischen Zeitung "Ukrajinska Prawda". Mit ihren Kolleginnen und Kollegen, von denen bereits viele gestorben sind, arbeitet sie unter schwersten und gefährlichsten Bedingungen. Musaieva erhält Morddrohungen.

Für ihre Arbeit wurde sie mit dem International Press Freedom Award des Committee to Protect Journalists (CPJ) ausgezeichnet. t-online hat Sevgil Musaieva bei der Preisverleihung in New York getroffen und kürzlich in Berlin beim "Café Kyiv", einer Aktion der Konrad-Adenauer-Stiftung. Im Interview spricht Musaieva über den Krieg und ihre Arbeit unter widrigsten Umständen, aber auch über den verständlichen Wunsch vieler Menschen nach Frieden - und die besondere Rolle von Sahra Wagenknecht für die Debatte in Deutschland.

t-online: Frau Musaieva, wie viele Ihrer Kollegen sind bereits in diesem Krieg gestorben?

Sevgil Musaieva: Von denen, die ich kenne, sind es inzwischen sieben. Einige von ihnen wurden Soldaten und sind im Kampf gestorben. Weil der Krieg immer weitergeht, bleibt allerdings kaum Zeit für ein würdiges Andenken. Das macht den Verlust noch trauriger. Mit meiner Arbeit versuche ich, etwas an Gerechtigkeit einzufordern. Es ist das Mindeste, was ich nach ihrem Tod tun kann.

Wie hat der Krieg, der nun seit mehr als einem Jahr andauert, Ihr Leben als Journalistin verändert?

Vor dem Krieg lag unser Fokus auf innenpolitischen Themen. Zu Beginn des Krieges ging es dann erst mal nur um die Situation an der Front und verwandte Themen wie die Sanktionen gegen Oligarchen. Aber dann ist die Politik zurückgekehrt. Jetzt veröffentlichen wir auch wieder Geschichten über Fehlverhalten unserer Politiker. Für uns als unabhängiges Medium geht es nicht nur um den Kampf gegen Russland, sondern unseren internen Kampf gegen Korruption und schlechtes Regieren. Auch während des Krieges muss man über Missstände sprechen, das ist die Aufgabe des Journalismus.

Was ist die größte Herausforderung?

Es fängt damit an, dass wir trotz Stromausfällen rund um die Uhr Nachrichten produzieren müssen. Gleichzeitig müssen wir für die maximale Sicherheit unseres Teams sorgen und bei all dem nichts Wichtiges verpassen. Die Front ist viele Hundert Kilometer lang, und das Geschehen verlagert sich ständig. Man muss sich davon verabschieden, alles verfolgen zu können. Wir müssen uns auf einzelne Orte und Geschichten konzentrieren. Die vielen betroffenen Zivilisten sind unsere wichtigsten Quellen. Wir sind viel damit beschäftigt, Informationen, die wir bekommen, zu verifizieren.

Gibt es Versuche der Regierung, auf Ihre Berichterstattung Einfluss zu nehmen?

Nein. Natürlich ist man nicht glücklich über unsere Investigativrecherchen, aber sie lösen auch etwas aus. Als wir das letzte Mal über Korruption berichteten, entließ der Präsident die im Bericht genannten Personen.

"Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit", heißt es. Wie prüfen Sie die Informationen, die Sie bekommen?

Wir stützen uns auf verschiedene Quellen. Und überprüfen auch die Informationen, die wir von der Regierung erhalten.

Das Verifizieren in Kriegszeiten bedeutet auch, grausamste Dinge zu sehen. Was haben Sie gesehen?

Ich habe Hunderte von Fotos und Videos gesehen, die wir nicht veröffentlichen können. Dazu kommen die ganzen Geschichten, die wir von jenen Menschen erzählt bekommen, die unter der russischen Besatzung leiden.

Was erzählen sie Ihnen?

In einer der schrecklichsten Geschichten, die mich berührt hat, geht es um ein Geschehnis in einer Stadt, die 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist und einen Monat lang besetzt war. Der Bürgermeister dort hat mir die zerstörte Umgebung gezeigt. Plötzlich trafen wir auf eine Familie. Alle weinten. Der Vater der Familie war von einem russischen Panzer getötet worden. Durch die Explosion wurde er in zwei Teile gerissen. Die Ehefrau konnte ihren Ehemann erst nach einer Woche begraben, weil die Kämpfe zu nah waren. Nachdem sie ihn schließlich begraben hatten, die Russen weg waren, kam der Staatsanwalt und ordnete an, ihn wieder auszugraben.

Warum mussten sie das tun?

Weil das wichtig für die offiziellen Ermittlungen der Kriegsverbrechen ist. Sie mussten die 100 Kilogramm schweren Körperteile aus zwei Metern Tiefe wieder ausgraben und all die grausamen Details seiner tödlichen Verletzungen noch einmal ansehen. Dieser Familie zu erklären, dass sie diesen Schmerz ertragen müssen, wenn sie vielleicht irgendwann eine Art von Gerechtigkeit erfahren wollen, war eines der schrecklichsten Erlebnisse für mich.

Wie schaffen Sie es, als Journalistin das Unbeschreibliche zu beschreiben?

Das ist wirklich schwierig. Aber mit Worten kann man zumindest Gefühle erzeugen oder zum Beispiel Gerüche beschreiben. Auch der Krieg hat einen bestimmten Geruch.

Wie riecht der Krieg für Sie?

Es ist eine Mischung aus verschiedenen Gerüchen. Es riecht nach verbrannten Häusern, aber zugleich auch nass und muffig. Als ich in eine verwüstete Stadt kam, ging ich in einen verlassenen russischen Stützpunkt. Ein Büro, in dem die Russen schliefen, ihre Angriffe organisierten, und auch als Krankenhaus diente es. An diesen Geruch erinnere ich mich. Es roch nach Blut, Medizin und Wodka. Ich erinnere mich noch immer daran. Das ist für mich der stärkste Geruch des Krieges.

Vergangenes Wochenende fand in Deutschland, angeführt von der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht, eine große Demonstration statt, in der ein sofortiger Stopp der Waffenlieferungen und Friedensverhandlungen gefordert wurden. Was sagen Sie zu solchen Forderungen?

Es gibt sehr viele, die sich da einmischen wollen. Aber wir wollen selbst über unsere Zukunft entscheiden, denn wir zahlen gerade den Preis dafür. Es sind unsere Leute, die gerade an der Front sterben. Das ist keine Berufsarmee! Ich lade Frau Wagenknecht ein, einmal nach Butscha zu kommen und mit den betroffenen Menschen dort zu sprechen.

Sie waren vergangenen April dort.

Ja, und es war grauenhaft. Ich sah die Leichen von Zivilisten, die von den Russen erst gefoltert und dann getötet worden waren. Der Vater meines Kollegen wurde in Butscha getötet. Er war 70 Jahre alt und hatte nichts weiter getan, als vor sein Haus zu treten. Unbewaffnet. Ein russischer Soldat hat ihn in seinem Garten erschossen. Was muss eigentlich noch passieren? Welche Beweise sollen wir noch liefern, damit Menschen wie Frau Wagenknecht verstehen, dass die Russen das Böse sind?

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Können Sie verstehen, dass einige denken, die Ukraine sei in der derzeitigen Situation nicht allein in der Lage, über einen Frieden zu verhandeln?

Ich verstehe, dass es im Westen Menschen gibt, die darüber nachdenken, wie man schnell einen Frieden erreichen könnte. Wir sind die Ersten, die wollen, dass dieser Krieg aufhört, denn wir bezahlen täglich mit dem Leben dafür. Aber selbst wenn wir morgen einen Vertrag unterzeichnen und bestimmte Bedingungen akzeptieren würden, hätten wir doch keinen Frieden! Genau das ist doch 2014 mit der Besetzung der Krim geschehen. Das war ein Bruch des Völkerrechts, aber die Reaktionen darauf fielen schwach aus, sowohl im Westen als auch in der Ukraine. Eines ist klar: Russland wird nicht aufhören, wenn wir jetzt verhandeln. Wenn die Menschen unter einer Besatzung leben müssen, werden sie permanent in Gefahr sein. Wir stehen an einem Wendepunkt der Geschichte. Wir stehen vor der Frage: Wollen wir Wohlstand und ein bequemes Leben schützen? Oder wollen wir jene Werte verteidigen, die auch die Europäische Union ausmachen?

Verwendete Quellen
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