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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine Für Putin hört der Ärger nicht auf

Die Ukraine erwartet eine russische Offensive an mehreren Fronten. Das setzt die Verteidiger im eigenen Land unter Druck. Doch bisher muss auch Kremlchef Wladimir Putin empfindliche Rückschläge hinnehmen.
Der Friedensprozess im Ukrainekrieg scheint in einer Sackgasse zu stecken. Nachdem der Kreml zunächst unannehmbar hohe Forderungen an die Ukraine gestellt hatte, folgten nun weitere an die Adresse der Nato und der USA.
So forderte der russische Vizeaußenminister Sergej Rjabkow am Dienstag von den USA, "die Ursachen für die grundlegenden Widersprüche zwischen uns im Bereich der Sicherheit zu beseitigen." An welche Ursachen Rjabkow, der für die strategische Rüstung Russlands zuständig ist, dabei dachte, machte er auch gleich klar: Die Nato-Erweiterung stehe dabei an erster Stelle. "Ohne die Lösung dieses für uns grundlegenden und akuten Problems ist es schlichtweg unmöglich, den aktuellen Konflikt im euroatlantischen Raum zu lösen."
Die Nato soll sich also mit Blick auf mögliche Erweiterungen selbst einschränken und möglicherweise sogar ihre Osterweiterung rückabwickeln. Diese Forderungen der russischen Führung sind nicht neu. Dennoch überrascht der Zeitpunkt, zeugen sie doch von einem Gefühl der Stärke und Überlegenheit, was sich allerdings militärisch derzeit nicht so eindeutig darstellt. Denn Putins Armee und Russland müssen aktuell empfindliche Rückschläge hinnehmen.
Russland nutzt Personalnot der Ukraine
Zwar befindet sich Russland in der Ukraine weiterhin in der Offensive, hat ein Übergewicht an fast allen Frontabschnitten. Aber die russische Armee kommt nur langsam voran. Im Jahr 2024 eroberte sie 4.200 Quadratkilometer des ukrainischen Staatsgebietes, das sind gerade einmal 0,7 Prozent der Gesamtfläche der Ukraine.
Die langsamen operativen Fortschritte und überschaubaren Gebietsgewinne zeugen davon, dass Russland weniger überlegen ist, als das Land vorgibt. Der Ukrainekrieg ist vor allem ein Abnutzungskrieg. Am Ende wird daher die Seite gewinnen, die über längere Zeit mehr Soldaten, Rüstungsgüter und Geld zur Verfügung stellen kann.
Das beutetet im Umkehrschluss: Die Einnahme von Gelände hat in dem Konflikt für keine der beiden Kriegsparteien oberste Priorität. Sondern es geht darum, die Verluste an Soldaten, Kriegsgerät und Logistik des Gegners langfristig hochzuhalten und die eigenen Verluste zu minimieren.
Deswegen greift die russische Armee aktuell dort an, wo sie wenig Widerstand vermutet. Putins Truppen sollen demnächst die Regionalgrenze nach Dnipropetrowsk überschreiten, obwohl Russland diese ukrainische Oblast zumindest nicht offiziell annektiert hat. Gleichzeitig soll der Kreml offenbar 50.000 Soldaten an der ukrainisch-russischen Grenze zusammengezogen haben. Moskau will hier anscheinend eine Pufferzone errichten, um das eigene Staatsgebiet besser schützen zu können.
Aber die übergeordnete Strategie ist eine andere: Putins Generäle möchten die Front so weit wie möglich in die Länge ziehen, damit sich durch die angespannte Personalsituation bei der ukrainischen Armee Lücken auftun, die Moskau dann für sich nutzen möchte.
Ukrainischer Geheimdienst erzielt Wirkungstreffer
Doch die ukrainische Regierung sieht die Gefahr und hat Gegenmaßnahmen vorbereitet. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die drohende russische Sommeroffensive genutzt, um im westlichen Bündnis für mehr militärische Unterstützung und für mehr Sanktionen gegen Russland zu werben. Zudem führt Kiew die weitere Eskalation der Kämpfe als Beleg dafür an, dass Russland die Schuld am Scheitern der Friedensverhandlungen trägt. Das ist mit Blick auf US-Präsident Donald Trump wichtig, der bislang stets auch der Ukraine eine Mitschuld am Krieg gegeben hat. "Ich bin fest überzeugt, dass Putin diesen Krieg nicht beenden will. In Putins Gedanken sei ein Ende des Kriegs ohne die totale Niederlage der Ukraine nicht möglich", erklärte Selenskyj am Dienstag.
Während sich Russland selbstbewusst präsentiert, kommuniziert die ukrainische Führung eher zurückhaltend. Dabei sind ihrer Armee in den vergangenen zwei Wochen große Erfolge gelungen. Mit der "Operation Spinnennetz" etwa griff der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU mehrere Flugplätze in Russland massiv mit Drohnen an. Bis zu 40 strategische Bomber machte er dabei flugunfähig. Ein herber Schlag für Putin, der der Ukraine umgehend mit Vergeltung drohte.
Die ukrainische Führung lobte zwar die erfolgreiche Operation – vor allem, weil es der russischen Luftwaffe dadurch schwieriger gemacht wird, den Beschuss der Ukraine mit Marschflugkörpern in hoher Intensität fortzusetzen. Doch Selenskyj und auch viele europäische Staaten blieben vergleichsweise zurückhaltend – und auch das hat vor allem mit Trump zu tun.
Denn Trump hatte Selenskyj bereits bei dessen Besuch im Februar im Weißen Haus vorgeworfen, mit dem Dritten Weltkrieg zu "spielen". Der US-Präsident sieht den Angriff auf Putins Bomber, die ein wichtiger Bestandteil der atomaren Abschreckung Russlands sind, kritisch: Der Angriff habe Russland hart getroffen, er erwarte nun eine "sehr harte" Antwort Moskaus, sagte Trump nach einem Telefonat mit Putin in der vergangenen Woche.
Dabei waren die Angriffe auf die teuren Bomber nur das derzeit auffälligste Beispiel für erfolgreiche ukrainische Operationen. Wiederholt gab es in den vergangenen Wochen erfolgreiche Angriffe auf Bahnstrecken, kriegsrelevante Fabriken, und auch an diesem Wochenende attackierte die Ukraine offenbar zwei russische Kampfflugzeuge auf einem Flugfeld. Bei einem anderen Vorfall soll Putins modernstes Kampfflugzeug – die Su-35-Kampfjet – in einen Hinterhalt geraten und über der russischen Region Kursk abgeschossen worden sein.
Warten auf russische Reaktion
All diese Angriffe sind für den Kreml schmerzhafte Nadelstiche – und sie scheinen aktuell nicht aufzuhören. Die Ukraine schafft mit ihren Drohnenoperationen das, was der russischen Armee bereits kurz nach Beginn der Vollinvasion im Jahr 2022 gelungen war: den Gegner in der Substanz zu treffen. Für Russland wird der Krieg also nicht nur immer teurer, sondern das Land wird in bestimmten militärischen Bereichen Nachschubprobleme bekommen.
Experten sind sich zwar einig, dass dies Putin mittelfristig nicht zu einem Rückzug aus den besetzten ukrainischen Gebieten bewegen wird. Aber die ukrainischen Angriffe werden die russische Offensivfähigkeit beeinflussen, und das gibt den ukrainischen Verteidigern im eigenen Land etwas mehr Luft zum Atmen. Es war wahrscheinlich kein Zufall, dass die ukrainischen Drohnenangriffe stattfanden, als die russische Armee Truppen für eine Offensive zusammenzog. Zwar griffen russische Verbände in den vergangenen Tagen vor allem im Raum Sumy im Norden an, aber besonders erfolgreich waren diese Vorstöße bislang nicht.
Die kommenden Wochen werden nun zeigen, ob dies so bleibt, oder ob die Ukraine sich lediglich Zeit verschafft hat. Putin kann es sich eigentlich nicht leisten, nicht auf die ukrainischen Drohnenattacken zu antworten. Denn die Angriffe waren nicht nur ein militärischer Wirkungstreffer, sondern sie waren auch ein symbolischer Schlag gegen das russische Selbstverständnis der Unbesiegbarkeit. Eine militärische Antwort Putins ist daher wahrscheinlich – unklar bleibt nur, wann sie kommt und in welcher Form.
- deepstatemap.live: Pro-ukrainische Kriegskarte
- n-tv.de: Selenskyj über Kriegsende: Putin strebe "totale Niederlage" der Ukraine an
- fr.de: Ukraine erwartet russischen Großangriff
- tagesschau.de: Rückt Russland in Region Dnipropetrowsk vor?
- dw.com: Wie gefährlich ist Russlands Offensive bei Sumy?
- fr.de: Russland trifft Klinik in Odessa
- Nachrichtenagenturen dpa und rtr
- Eigene Recherche