Erfolgreiche Strategie der Ukrainer Angriffe auf "die Lebensadern des Feindes"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der Einsatz von Drohnen im Ukraine-Krieg ist bereits Alltag. Doch bald könnten die unbemannten Fahrzeuge das Kriegsgeschehen noch mehr prägen. Woran liegt das?
In dieser Woche hat die Ukraine mit durchschlagenden Operationen Aufsehen erregt: Angriffe auf die von Russland völkerrechtswidrig annektierte Halbinsel Krim haben den russischen Truppen womöglich empfindliche Schläge versetzt. In Sewastopol sollen ein U-Boot und ein Patrouillenschiff mindestens stark beschädigt worden sein, wenn nicht vollständig zerstört. Die Angaben zu Ausmaß und Schwere der Schäden gehen auf beiden Seiten auseinander.
Eine weitere Attacke kostete Russland wohl ein Flugabwehrsystem vom Typ S-400. An beiden Operationen waren Berichten zufolge Drohnen beteiligt.
Russland seinerseits überzieht die Ukraine bereits seit Monaten mit massiven Drohnenangriffen. Immer wieder stürzen sich sogenannte Kamikaze-Drohnen auf ihre Ziele, explodieren und richten so große Schäden an. Nur in dieser Woche hat es Dutzende Angriffe mit solchen Drohnen gegeben. So sind allein am Mittwoch laut Angaben aus Kiew 44 Kamikaze-Drohnen auf ukrainische Donauhäfen geflogen. Die Angriffe der unbemannten Luftfahrzeuge gehören zum Kriegsalltag.
Hier können Sie das Gespräch auch im Video sehen.
Doch das könnte erst der Anfang sein, denn bald beginnt in der Ukraine die als "Rasputiza" bekannte Schlammperiode. Besonders im Süden und Osten des Landes werden dann Straßen und Wege wegen starker Regenfälle kaum befahrbar. Das dürfte auch Auswirkungen auf die derzeit laufende Gegenoffensive der Ukraine haben: Der Militärexperte Christian Mölling sagte t-online dazu, dass beide Seiten dann wohl verstärkt auf Drohnen setzen werden.
"Jede Seite kann die andere genau beobachten"
Schon jetzt hätten diese Systeme eine entscheidende Rolle im Ukraine-Krieg, sagt Markus Reisner, Oberst des österreichischen Bundesheeres, im Gespräch mit t-online. Die Drohnen würden dabei nicht nur in der Luft, sondern auch an Land und besonders zu Wasser eingesetzt. Seedrohnen sollen sowohl bei den jüngsten Angriffen auf russische Militäreinrichtungen auf der Krim als auch bei den Attacken auf die Kertschbrücke eine Rolle gespielt haben.
Aber sie dienen auch der Beobachtung. "Durch den Einsatz dieser Systeme haben beide Seiten ein nahezu vollständiges, ohne Zeitverzug vorhandenes Lagebild", erklärt Reisner. "Das heißt, jede Seite kann die andere genau beobachten und damit verhindern, dass der Gegner größere Kräfte zusammenzieht, ohne dass sie erkannt werden", so der Militärexperte. "Darum ist der Krieg aktuell im Prinzip heruntergebrochen auf Scharmützel kleinerer Einheiten."
Die Ukraine begann Anfang Juni eine groß angelegte Gegenoffensive, um die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern. Beim Vorrücken gegen die russischen Einheiten stoßen die ukrainischen Streitkräfte aber immer wieder auf Verteidigungslinien mit Panzerfallen und Minen. Bislang wurden im Zuge dessen nur wenige Dörfer wiedergewonnen. Doch in den vergangenen Wochen hat die Ukraine ihre Angriffe verstärkt – und insbesondere an der Südfront Erfolge erzielt, darunter mit der Einnahme von Robotynje in der südlichen Region Saporischschja.
So setzt die Ukraine ihre Drohnen ein
Doch wie groß ist die Bedeutung von Drohnen in dem Krieg? "Drohnen werden in der Ukraine auf taktischer Ebene vor allem zur Aufklärung eingesetzt", erklärt der Oberst. Auf operativer Ebene kämen sie etwa zur Bekämpfung von Fliegerabwehrstellungen tief hinter der Front zum Einsatz "und auch auf der strategischen Ebene, um die Lebensadern des Feindes anzugreifen". Russland tue genau dies mit seinen Angriffen auf die kritische Infrastruktur der Ukraine, sagt Reisner.
Dabei werden enorme Mengen der unbemannten Fahrzeuge eingesetzt. "Allein die Ukraine verliert pro Monat rund 10.000 Drohnen, die meisten davon Aufklärungsdrohnen", verdeutlicht Reisner. Und beide Seiten hätten in den vergangenen Monaten damit begonnen, ihre Fähigkeiten in diesem Bereich massiv auszubauen. So würden vermehrt kleine, handelsübliche Drohnen massenhaft gefertigt, um sie zu Waffensystemen für den Krieg umzufunktionieren.
So arbeitet die Ukraine derzeit an verbesserten Drohnen, die bis zu drei Kilogramm Sprengstoff tragen können, berichtet das Portal "Defense Express". Das als "KH-10" bekannte Modell soll entweder direkt in ihr Ziel hineinfliegen oder die Sprengladung darauf fallen lassen.
Allein seit Jahresbeginn habe die Ukraine Schätzungen zufolge gut 2.000 der iranischen Schahed-Kamikaze-Drohnen abgeschossen, meint Reisner. "Und Russland will nun in einer Fabrik 6.000 solcher Drohnen pro Jahr für den Krieg produzieren." Zuletzt schoss die Ukraine oft Kamikaze-Drohnen ab, die russische Bauteile trugen – ein klares Indiz dafür, dass Russland bereits mit der Produktion von Drohnen iranischer Bauart begonnen hat. Darunter sei etwa ein russisches GPS-System namens "Kometa" gewesen, das besonders schwer mit Störsendern zu bekämpfen sei, sagt Oberst Reisner.
Eine Recherche des "Spiegel" in Zusammenarbeit mit der britischen Organisation Conflict Armament Research (CAR) hatte Mitte August publik gemacht, dass Russland mit der Produktion der Drohnen nach iranischem Vorbild begonnen hat. Neben dem GPS-System wurden weitere Bauteile aus Russland identifiziert. Der Iran hat bis zuletzt zurückgewiesen, Russland mit den Schahed-Kamikaze-Drohnen zu versorgen. Russland bezeichnet die Drohnen offiziell als "Geran-2".
In der Schlammzeit werden mehr Drohnenangriffe erwartet
Deutlich wird: Russland und die Ukraine steigern ihre Drohnenkapazitäten. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diese Technologie in den kommenden Kriegsmonaten eine noch zentralere Rolle einnehmen wird. Laut Angaben des US-Generalstabschefs Mark Milley werde die Schlammperiode in 30 bis 45 Tagen einsetzen und die ukrainische Gegenoffensive stark einschränken.
"Man weiß, dass dann schweres Gerät und Fahrzeuge mit Rädern kaum mehr einsetzbar sind", erklärt Reisner. "Das heißt nicht, dass die Angriffe völlig zum Erliegen kommt, aber man ist gezwungen, mit kleinen Trupps vorzugehen, und die Witterungsbedingungen werden immer schwieriger."
"Die Drohnen werden dann eine noch größere Rolle spielen", sagt der Militärexperte. Man sehe das bereits jetzt: "Immer dann, wenn der Konflikt von einer Bewegungs-Kriegsführung in eine stationäre kommt, beginnen sofort ganze Schwärme von Drohnen aufzusteigen und man beginnt sich gegenseitig aufzuklären und zu beschießen", beschreibt Reisner die Situation an der Front. Besonders im Winter werde man das wieder erleben. "Fakt ist: Der Krieg ist nicht zu Ende, er wird sich weiter intensivieren."
Erst die Drohnen, dann die Marschflugkörper
Dabei würden auch die Drohnenangriffe auf allen Ebenen zunehmen. Aber ist die Ukraine damit gewappnet vor einem weiteren Winter mit massiven Attacken auf ihre kritische Infrastruktur?
Davon geht Reisner nicht aus. Denn Russland nutze seine Drohnen auch, um die ukrainische Flugabwehr zu "übersättigen", sagt der Oberst des österreichischen Bundesheeres. "Erst werden Drohnen geschickt, die von der Flugabwehr ausgeschaltet werden müssen. Dann kommen Marschflugkörper zum Einsatz", erklärt Reisner das Vorgehen der Russen.
Die Ukraine brauche deshalb "so viel Unterstützung der Verbündeten und in dem qualitativen Umfang und in der quantitativen Ausprägung, dass sie in der Lage ist, den permanenten Angriffen der russischen Seite etwas entgegenzusetzen", sagt der Militärexperte. Wie lange das weitergeht, könne jedoch niemand abschätzen.
- Videotelefonat mit Oberst Markus Reisner
- storymaps.arcgis.com: "Documenting the domestic Russian variant of the Shahed UAV" (englisch)
- en.defence-ua.com: "Ukrainian Drone Makers Reveal New KH-S7 FPV Drone and Announce Multirole KH-S10 Attack UAV, Too" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa