Setzte Putin eine Interkontinentalrakete ein? Das wäre ein historischer Bruch
Der russische Raketenangriff auf Dnipro wirft viele Fragen auf. Die wohl wichtigste: Hat Putins Militär tatsächlich eine Interkontinentalrakete auf das Nachbarland gefeuert?
Russland hat die ukrainische Stadt Dnipro am Donnerstagmorgen mit einer Interkontinentalrakete beschossen – sagt die ukrainische Luftwaffe. Wenn dem so wäre, würde das den jüngsten russischen Angriff auf das Nachbarland auf eine neue Eskalationsstufe heben: Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters wurden Interkontinentalraketen zwar in der Vergangenheit immer wieder öffentlichkeitswirksam getestet, aber noch nie im Kampf eingesetzt.
Anders als viele herkömmliche Geschosse können Interkontinentalraketen (englisch: Intercontinental Ballistic Missile oder ICBM) Nuklearsprengköpfe transportieren und haben eine hohe Reichweite. Sie sind in der Lage, Ziele in einer Entfernung von mindestens 5.500 Kilometern zu treffen, andere reichen bis zu 9.000 Kilometer oder noch weiter.
Ob die Russen tatsächlich eine solche Waffe aus der Nähe des Kaspischen Meers in Richtung der Südostukraine gefeuert haben, lässt Kremlsprecher Dmitri Peskow bewusst offen. Das sei eine Frage für das Militär, erklärte Peskow Reportern – als wäre das Putin-Regime in eine dermaßen bedeutsame Entwicklung prinzipiell nicht eingeweiht. Die russische Regierungssprecherin Marija Sacharowa soll während einer Pressekonferenz gar einen Anruf erhalten haben, in dem sie instruiert wurde, nichts über den Angriff zu sagen.
Doch nicht überall ist man überzeugt, dass es sich bei dem auf Dnipro abgefeuerten Geschoss tatsächlich um eine Interkontinentalrakete handelte. Der US-Sender ABC News zitiert westliche Quellen, die, anders als die Ukrainer, behaupten, der Angriff sei mit herkömmlichen, ballistischen Geschossen erfolgt.
Was bezweckt Russland mit dem Angriff?
Dass Russland womöglich ausgerechnet jetzt Interkontinentalraketen einsetzt, wäre indes kein Zufall, erklärt Militäranalyst Malcolm Davis dem US-Sender CNN. "Sie wollen ein Zeichen setzen." Der mögliche Einsatz von Interkontinentalraketen sei als eine Reaktion auf den Einsatz amerikanischer ATACMS- und britischer Storm-Shadow-Marschflugkörper gedacht. In dieser Woche hatte die Ukraine diese Waffen erstmals mit westlicher Erlaubnis tief ins Innere Russlands geschossen, am Donnerstag wohl auch das russische Hauptquartier in Kursk getroffen.
"Wäre das tatsächlich als Signal an den Westen und damit auch als nukleare Drohung gedacht, dann wird Russland das immer und immer wieder tun, wenn wir uns dem beugen", so Davis. Die richtige Antwort des Westens und der Ukraine sei es nun, "sich der Drohung nicht zu beugen".
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Ein Video, das bei X kursiert, soll den Raketenangriff zeigen. Unter anderem Anton Geraschchenko, ehemaliger Berater des ukrainischen Innenministeriums, teilt das Bildmaterial. Zu sehen sind mehrere Wellen von Einschlägen, allerdings keine Explosionen.
Auch wenn die Interkontinentalraketen theoretisch mit Nuklearsprengköpfen bestückt werden können, erklärt Militäranalyst Davis: "Die Russen haben ganz klar die Nuklearwaffen von dem Geschoss genommen und entweder ohne Bewaffnung oder mit konventionellen Sprengköpfen losgeschickt."
Dennoch, schreibt Analyst Nick Paton Walsh bei CNN, sei der mögliche Einsatz der Interkontinentalraketen eine Erinnerung daran, "dass Russland größere Möglichkeiten hat, als zuvor demonstriert".
Wie funktionieren Interkontinentalraketen?
Die Geschosse funktionieren fundamental anders als herkömmliche Raketen oder Marschflugkörper. Sie werden sowohl aus festen Silos oder von mobilen Plattformen wie Schiffen abgefeuert. Interkontinentalraketen verfügen über mehrere Stufen und steigen daher weit höher auf als konventionelle Raketen. Beim Wiedereintritt in die Atmosphäre löst sich der Wiedereintrittskörper, also Sprengkopf, von der obersten Stufe. Moderne Interkontinentalraketen haben typischerweise acht Mehrfachsprengköpfe, die einzeln gesteuert werden können. Russland hatte zuletzt wiederholt Interkontinentalraketen getestet, nicht immer mit Erfolg.
Die erste Interkontinentalrakete wurde 1957 von den Sowjets abgefeuert, 1959 folgten die US-Amerikaner. Sie galten als die zentrale Waffe zur gegenseitigen nuklearen Abschreckung während des Kalten Krieges.
- cnn.com: "The latest on Russia’s war in Ukraine" (englisch) vom 21. November 2024
- abcnews.com: "Ukraine’s military says Russia launches intercontinental ballistic missile" (englisch) vom 21. November 2024
- Eigene Recherche