Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online. "Auch dahinter steckt ja eine Botschaft" Stehen Putins Truppen vor dem Durchbruch?

Kremlchef Putin sieht seine Truppen in der Ukraine angeblich vor einem Durchbruch. Militärexperten sind skeptisch – und warnen doch vor Russlands perfiden Taktiken.
Für die Ukraine schien die Lage im Krieg gegen Russland lange nicht mehr so düster auszusehen wie in diesen Tagen. In ihren unterbesetzten Schützengräben kämpfen die Verteidiger gegen einen permanenten Strom von russischen Angreifern, während die Zivilbevölkerung in den Städten immer heftigeren Luftangriffen mit Kamikazedrohnen und Raketen ausgesetzt ist. Und dann lässt der russische Staatschef Wladimir Putin auch noch verlauten, wie zuversichtlich er auf die Lage seiner Truppen blickt.
- Ukraine unter Beschuss: Schwerster russischer Luftangriff seit Kriegsbeginn
Schon in den kommenden Wochen könnten die ukrainischen Verteidigungslinien einbrechen und die russischen Truppen massiv vorrücken, glaubt Putin einem Bericht der "New York Times" zufolge. Die Zeitung beruft sich dabei auf zwei Kreml-Insider. Demnach lasse sich Putin auch nicht von der Aussicht abschrecken, dass die USA möglicherweise neue Sanktionen gegen sein Land verhängen. Ein entsprechender Gesetzentwurf liegt dem US-Senat schon vor, zuletzt soll auch Präsident Trump seinen Widerstand dagegen aufgegeben haben. Aber was steckt hinter den Äußerungen aus Moskau – und ist Putin zurecht optimistisch?
Militärexperte Masala sieht Äußerungen skeptisch

Zur Person
Carlo Masala, Jahrgang 1968, lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München und ist zugleich Direktor des Metis Instituts für Strategie und Vorausschau. Der Politikwissenschaftler diskutiert regelmäßig im Podcast "Sicherheitshalber" über Sicherheitspolitik. Im Oktober 2023 ist Masalas Buch "Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende" erschienen.
Der Militärexperte Carlo Masala deutete die Äußerungen aus Moskau vor allem als politische Botschaft des Kremls. "Putin signalisiert damit, dass der er weiter auf einen militärischen Sieg setzt und diesen in greifbarer Nähe sieht. Und darin steckt natürlich auch die Drohung, dass Russland weiter Richtung Westen der Ukraine vordringt, wenn die Front in der Ukraine kollabiert", so der Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München zu t-online. "Dass die Ukraine bald zusammenbricht, hören wir aus dem Umfeld von Putin aber seit mehr als drei Jahren immer wieder."
- Offensive hat begonnen: "Die Russen wollen eben keinen Waffenstillstand"
- Auch von westlichen Firmen: Russland beschlagnahmt Milliarden-Vermögen
Als reine Propaganda mochte Masala die Äußerungen aus Moskau aber nicht abtun. "Tatsächlich stehen die ukrainischen Frontlinien extrem unter Druck, vor allem in der Region Sumy im Nordosten des Landes. Die erste Angriffswelle konnten die Ukrainer bislang zurückschlagen, aber es könnte sein, dass der zweite Versuch der Russen dort erfolgreich sein könnte", so Masala. "Auch in der Region Luhansk im Osten des Landes sieht es nicht gut aus für die Ukrainer und bei Pokrowsk im Südosten stehen sie lange unter großem Druck."
Militärexperte Reisner gibt keine Entwarnung
Das bedeute aber nicht, dass die ukrainischen Linien bald kollabierten, so Masala. "Die Ukrainer standen schon vorher unter großem Druck und haben es bisher trotzdem immer geschafft, ihre Verteidigung zu organisieren." Mit einem baldigen Durchbruch der Russen rechnet auch Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer nicht.
"Die Ukraine hat ihre Verteidigungsstellungen bis ins Jahr 2025 laufend ausgebaut, obwohl die Russen sie im Nord-, Mittel- und Südabschnitt auch weiterhin massiv angreifen", so der promovierte Militärhistoriker zu t-online. "Offensichtlich versuchen die Russen, die ukrainischen Verteidigungsstellungen endgültig zu durchbrechen. Ob das gelingt, wird sich in den nächsten Wochen und Monaten zeigen. Solange die Ukraine dagegenhalten kann, ist dies aber unwahrscheinlich." Entwarnung gibt Reisner angesichts der russischen Angriffstaktik aber nicht.
Bereitet Russland eine größere Offensive vor?

Zur Person
Oberst Markus Reisner, Jahrgang 1978, ist Militärhistoriker und Leiter des Instituts für Offiziersausbildung des österreichischen Bundesheeres an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 analysiert Reisner den Kriegsverlauf auf dem YouTube-Kanal "Österreichs Bundesheer".
"Die russischen Angriffe erfolgen in Phasen. Ihre Truppen versuchen im Erstansatz, die ukrainischen Soldaten in ihren Stellungssystemen mit Gleitbomben, Artillerie und chemischen Kampfstoffen zu zermürben", erklärte Reisner, der die Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie bei Wien leitet. "Hinzu kommt der laufende Einsatz von Aufklärungs- und Angriffsdrohnen. In diesem Fähigkeitsbereich haben die Russen mittlerweile die Überhand gewonnen, obwohl sie von beiden Seiten massiv eingesetzt werden." Zudem befürchtete Reisner, dass Putins Truppen noch nicht am Ende ihrer Möglichkeiten sind.
- Verminung der Nato-Ostflanke: Diese Strategie könnte sich noch rächen
"Die russische Rüstungsproduktion läuft auf Hochtouren. So werden immer öfter Bilder von neu produzierten Panzern gezeigt, die zwar aus den Werken rollen, aber nicht an die Front kommen", so Reisner. "Damit stellt sich die Frage, ob Russland eine größere Offensivhandlung vorbereitet. Diese Aufnahmen sind jedenfalls konträr zu den Bildern von Motorrädern und umgebauten russischen Autos, auch als Buchankas und Schigulis bezeichnet, die für den Fronteinsatz improvisiert verwendet werden." Doch die Ukrainer warten derweil nicht untätig ab, wie Reisner erklärte.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen Bluesky-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren Bluesky-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
So wehren sich die Ukrainer
"Um den Druck auf ihre Stellungen zu verringern, versuchen die ukrainischen Verteidiger, die russischen Angriffsanstrengungen umzuleiten. Das machen sie einerseits durch Gegenangriffe und Übertritte auf das russische Territorium. Andererseits versuchen sie den Gegner auf eigenem Boden abzunutzen, indem sie zurückweichen und diesen immer wieder in neue Stellungen laufen lassen", so der Fachmann. Zudem habe die Ukraine erkannt, dass sie vor allem die Militärlogistik der Russen unterbrechen müsse.
- Angriff auf Putins Prestigebau: "Die Kraft der Explosion war erheblich"
"Beispiele dafür sind die Sprengungen von Brücken entlang einer wichtigen Eisenbahnlinie, die für die laufende russische Offensive im Raum Sumy bedeutend oder auch die immer wieder versuchte Sprengung der Brücke von Kertsch", so Reisner. "Durch solche Zerstörungen kann die russische Militärlogistik verzögert werden, was sich wiederum auf die russische Einsatzführung negativ auswirkt."
Russland greift gezielt Rekrutierungsbüros an
Zusätzliche Probleme dürften den Ukrainern aber die jüngsten russischen Angriffe auf Rekrutierungsbüros der Armee bereiten. Fünf solcher Büros in verschiedenen Städten haben die Russen in jüngster Zeit mit Drohnenangriffen zerstört. "Auch dahinter steckt ja eine Botschaft", sagt Militärexperte Masala. "Nämlich: Wir treffen euch schon, bevor ihr überhaupt rekrutiert wurdet. So sollen die Menschen davon angehalten werden, in die Armee einzutreten."
Hintergrund dieser russischen Angriffe ist der akute Personalmangel der ukrainischen Armee, der dazu führt, dass die Positionen der Verteidiger an vielen Frontabschnitten unterbesetzt sind – und damit anfällig für mögliche russische Durchbrüche.
Masala: Putin will Ukrainer in die Flucht schlagen
Psychologische Motive erkannte der Militärexperte auch hinter den stärker werdenden russischen Angriffen mit Kamikazedrohnen auf ukrainische Städte. Bei dem größten Angriff dieser Art seit dem Überfall im Februar 2022 feuerten die russischen Truppen in der Nacht zu Mittwoch 728 Drohnen auf das Land ab. Bei dem Angriff in der Nacht zu Donnerstag waren es nach ukrainischen Angaben etwa 400 Stück.
- Gefährliche Weiterentwicklung: Putins neue Waffe könnte der Ukraine zusetzen
"Das Kalkül dahinter ist ganz klar: Die Menschen in der Ukraine sollen in die Flucht getrieben werden und es nicht auszuschließen, dass es tatsächlich wieder zu größeren Fluchtbewegungen kommt", sagte Masala. "Die Russen greifen ja ganz überwiegend zivile und keine militärischen Ziele an. Und die Frage ist, wie lange die Menschen das noch aushalten."
Zwar hielt es Masala für eher unwahrscheinlich, dass die russischen Truppen bald schon mehr als 1.000 Drohnen pro Angriff abfeuern könnten, wie jüngste Medienberichte nahelegten. Für ausgeschlossen hielt er es aber nicht. "Und wir sehen ja schon, was Angriffe mit 500 dieser Drohnen anrichten. Die ukrainische Luftverteidigung ist jetzt schon nicht mehr in der Lage, alle Geschosse abzufangen. Und die Russen modifizieren ihre Shahed-Drohnen so, dass sie noch schwerer abzufangen sind."
- Telefonat mit Carlo Masala am 10. Juli.
- Email von Markus Reisner vom 10. Juli.
- understandingwar.org: Russian Offensive Campaign Assessment, July 9