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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Drohnenjagd auf Zivilisten "Das ist eine neue Dynamik"

Die Region um die ukrainische Stadt Cherson ist besonders umkämpft. Russland setzt dabei vermehrt Drohnen ein. Beobachter werden dem Land deshalb schwere Kriegsverbrechen vor.
Die ukrainische Stadt Cherson ist einer der umkämpftesten Orte des Ukraine-Kriegs. Ein neuer Bericht der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch (HRW) zeigt nun auf, wie Russland Drohnen einsetzt, um gezielt Zivilisten in der Region zu attackieren. Es handele sich um "vorsätzliche oder rücksichtslose Angriffe, die Kriegsverbrechen darstellen", heißt es darin. Dutzende Zivilisten seien so allein 2024 getötet und Hunderte weitere verletzt worden.
HRW verurteilt das Vorgehen als schweres Kriegsverbrechen. Die Angriffe erscheinen keineswegs zufällig und könnten etwas über die russische Kriegsstrategie preisgeben.
Angriffe haben deutlich zugenommen
Russische Truppen hatten Cherson im März 2022 eingenommen, doch acht Monate später befreite die ukrainische Armee die Stadt wieder und drängte die russischen Truppen über den Fluss Dnipro zurück. Bis heute markiert der Fluss die Frontlinie in der Region. Seitdem greifen die russischen Truppen vermehrt mit Drohnen an. Mehr dazu lesen Sie hier.
Seit dem Frühjahr 2024 haben diese Angriffe deutlich zugenommen. Tausende Einwohner wurden dadurch bereits vertrieben. Nach Angaben des Exekutivausschusses des Stadtrats von Cherson ist auch die Bevölkerungszahl des naheliegenden Ortes Antoniwka zwischen Mai und Dezember 2024 von 4.570 auf 2.300 Einwohner zurückgegangen.
HRW geht durch Zeugenaussagen davon aus, dass die russischen Angriffe auf Zivilisten mit handelsüblichen Drohnen durchgeführt wurden, die mit Sprengstoffwaffen, einschließlich Antipersonenminen, ausgestattet waren. Ein Team der Organisation war auch im November 2024 vor Ort, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Zudem gibt es Videoaufnahmen, die von den Tätern selbst aufgenommen und in russischen Telegram-Kanälen geteilt wurden.
"Groß angelegte Kampagne"
Die genauere Untersuchung von 45 Drohnenangriffen bringt HRW zu dem Ergebnis, "dass es sich eindeutig um Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte handelt", wie die stellvertretende Direktorin Belkis Wille dem Exilmedium "Meduza" erklärt.
Es handele sich um eine "groß angelegte Kampagne", die alle Aspekte des zivilen Lebens angreifen solle. "Wir haben gesehen, dass alles angegriffen wurde, was man für das zivile Leben braucht: Geschäfte, Lieferwagen, Krankenhäuser, Krankenwagen, Notfallteams, Feuerwehrfahrzeuge, Generatoren, Menschen in ihren Autos, Menschen auf Fahrrädern, Menschen zu Fuß", so Wille weiter.
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Wille schildert beispielhaft den Fall einer Frau, die in ziviler Kleidung auf ihrem Fahrrad unterwegs gewesen und dann über mehrere Hundert Meter von einer Drohne verfolgt worden sei. Erst dann sei gefeuert worden. Die Frau überlebte schwer verletzt.
Die Erkenntnisse von HRW passen zu einem Bericht des UN-Menschenrechtsbüros, der jüngst festgestellt hat, dass Kurzstreckendrohnen die Hauptursache für zivile Opfer im Ukraine-Krieg waren. UN-Beobachter haben seit dem russischen Einmarsch im Februar 2022 mehr als 3.000 Verletzungen und Todesfälle unter der Zivilbevölkerung durch Drohnenangriffe verzeichnet. Die überwiegende Mehrheit (89 Prozent) macht russische Angriffe auf von der ukrainischen Regierung kontrollierte Gebiete aus. Ganze 62 Prozent ereigneten sich demnach in der Region Cherson.
Drohnen verändern Kriegsdynamik
Dass Drohnen in dieser Form eingesetzt werden, verwundert wenig. Denn der Umbau ist verhältnismäßig einfach und billig. Mit einem 3D-Drucker oder wenigen anderen Teilen aus dem Baumarkt könne quasi jede Drohne so umgebaut werden, dass sie mit Waffen ausgestattet werden kann. Dieser Umbau erfolgt vermutlich bei den einzelnen Divisionen.
Laut HRW stammen die von Russland eingesetzten Drohnen von zwei chinesischen Anbietern. Diese untersagen den Einsatz ihrer Geräte für Kampfhandlungen eigentlich ausdrücklich. Doch niemand gibt sich der Illusion hin, dass diese Anweisungen eingehalten werden – kontrollieren können die Unternehmen den Einsatz ihrer Produkte ohnehin kaum.
Auf beiden Seiten hat der Einsatz von Drohnen zugenommen. "Wir haben es hier wirklich mit einer Verschiebung zu tun, bei der eine Kriegspartei einen hochpräzisen Angriff extrem billig durchführen kann, und das ist das Neue an dieser Dynamik", so Wille.
Russland hat Pläne für die Region
Der Einsatz von Drohnen insgesamt wird auch von den Nichtregierungsorganisationen im Kriegsfall akzeptiert. Denn der eigentlich große Nutzen liegt in der präzisen Anwendung. Umso problematischer sei der Einsatz deshalb gegen Zivilisten. "Ich sage es ganz ausdrücklich: Das absichtliche Anvisieren von Zivilisten ist ein schwerer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, und diejenigen, die diesen Verstoß mit krimineller Absicht oder Fahrlässigkeit begehen, können wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit belangt werden", so Wille von Human Rights Watch.
Die gehäuften Angriffe in der Region um Cherson sagen darüber hinaus etwas über die russische Kriegstaktik aus. HRW ist sich sicher: Russland wolle entweder eine Pufferzone am Flussufer schaffen und dafür die dortige Bevölkerung mit den gezielten Drohnenangriffen verteidigen. Oder Russland könnte einen Brückenkopf einrichten und erneut versuchen, den Fluss zu überqueren und Cherson ein zweites Mal einzunehmen.
- meduza.io: Hunted in Kherson What Russia’s deliberate drone attacks on Ukrainian civilians say about the future of war crimes (Englisch)
- hrw.org: Hunted From Above (Englisch)