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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gefährliche Weiterentwicklung Putins neue Waffe könnte der Ukraine zusetzen

Putins Truppen feuern immer mehr Kamikazedrohnen auf ukrainische Städte ab – und entwickeln ihre Geschosse gefährlich weiter. Doch die Verteidiger schlagen zurück.
Das mopedartige Geräusch einfliegender Kamikazedrohnen gehört schon lange zum Alltag der Ukrainer. Im September 2022 begannen die Russen ihre Angriffe mit der iranischen Terrorwaffe Shahed-136, die sie unter dem Namen Geran-2 bald selbst herstellten. Inzwischen feuern Putins Truppen Hunderte dieser Drohnen auf ukrainische Städte. Jede einzelne kann bis zu 50 Kilo Sprengstoff tragen und kostet den russischen Staat wohl nur wenige Zehntausend Euro.
Doch Russland hat nicht nur die Produktion der Drohnen hochgefahren – es hat die Geschosse auch gefährlich weiterentwickelt.
Schon Anfang des Jahres berichtete der ukrainische Militärgeheimdienst HUR, dass Russland mit der Produktion der Geran-3-Drohne begonnen habe. Sie gilt als Kopie der iranischen Shahed-238, einer verbesserten Version der Shahed-136. Im Frühjahr berichteten Zeugen in der Ukraine erstmals von einem neuen Geräusch am Himmel: Nicht mehr nur das behäbige Dröhnen der relativ langsam Shahed-136 sei zu hören gewesen, sondern ein schneller, pfeifender Klang, vergleichbar mit dem eines Formel-1-Rennwagens.
Neuer Antrieb
Das neuartige Geräusch, von dem die Menschen berichteten, stammt nach ukrainischen Angaben vom Jet-Antrieb der Geran-3. Bei dem Antrieb soll es sich um den illegalen Nachbau eines tschechischen Raketenmotors handeln. Dieser beschleunigt das deltaförmige Geschoss auf eine Geschwindigkeit von 550 bis 660 Kilometer pro Stunde, im Sturzflug sollen angeblich 700 Kilometer pro Stunde möglich sein.
Damit wäre die Drohne deutlich schneller als die Shahed-136, die mit ihrem Propellerantrieb maximal 250 Kilometer pro Stunde erreicht. Das macht es für die Verteidiger deutlich schwieriger, die Geran-3 abzufangen, beispielsweise mit schweren Maschinengewehren vom Boden aus oder in der Luft mit Kampfhubschraubern.
Doch die Geran-3 ist nicht nur schnell: Mit 300 Kilo Traglast kann sie sechsmal so viel Sprengstoff ins Ziel tragen wie die Shahed-136 und hat mit mutmaßlich 2.500 Kilometern auch deutlich mehr Reichweite als das Vorgängermodell.
Wie das Fachportal "Defense Express" berichtet, hat die neue Drohne auch eine verbesserte Navigation: Sie soll in der Lage sein, eingehende Videoaufnahmen der Umgebung dank Künstlicher Intelligenz mit ihren Zieldaten zu vergleichen und ihren Kurs noch im Flug automatisch anzupassen. Ähnliches ist auch mit dem deutschen Taurus-Marschflugkörper möglich.
Russland feuert immer mehr Shahed-136 auf die Ukraine
Ob Russland die Geran-3 schon in größeren Stückzahlen herstellt, ist unklar. Bislang scheint sie nur vereinzelt zum Einsatz zu kommen. Sorge bereitet den Ukrainern aber auch die schiere Masse an Geran-2-Drohnen, die Russland zuletzt regelmäßig abfeuert. Nach Angaben der Regierung in Kiew waren es seit September 2022 insgesamt mehr als 28.000 Stück – davon zehn Prozent allein im Juni. Noch gelingt es den Ukrainern, die meisten Drohnen entweder abzufangen oder durch elektronische Störungen vom Kurs abzubringen. Doch schon bald könnten die Angriffe die ukrainische Flugabwehr an ihre Grenzen bringen.
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Nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes produziert Russland inzwischen täglich 70 Geran-2, nachdem es 2024 noch 21 Stück pro Tag gewesen seien. Zudem werde Russland bald zwölf neue Abschussrampen in Betrieb nehmen und dann bei jedem Angriff mehr als 500 Drohnen abfeuern können, erklärte ein Vertreter des Geheimdienstes Anfang Juni im "Kyiv Independent". Tatsächlich hat Russland beim jüngsten russischen Großangriff auf die Ukraine in der Nacht zu Sonntag 477 dieser Kamikazedrohnen eingesetzt, mehr als je zuvor in einer Salve. Und die immer heftigeren Angriffe fordern auch mehr Opfer in der Zivilbevölkerung.
- Er redet, Putin greift an: Trumps tödliche Friedensbemühungen
"Dieses Jahr ist besonders verheerend für Zivilisten überall in der Ukraine", heißt es in einer Stellungnahme der Vereinten Nationen vom 11. Juni. "Bisher sind deutlich mehr Menschen getötet und verletzt worden als im selben Zeitraum des Vorjahres", heißt. Allein im April, dem bis dahin tödlichsten Monat des Jahres, wurden laut UN 221 Menschen in der Ukraine getötet und 1.168 verletzt – fast 50 Prozent mehr als im April 2024. Der Großteil, fast ein Drittel, gehe auf russische Luftangriffe zurück.
Die ukrainische Flugabwehr steckt in einer Zwangslage
Die Militärexperten Benjamin Jensen und Yasir Atalan vom "Center for Strategic and International Studies" (CSIS) sind überzeugt: "Russland nutzt günstige Shahed-Drohnen, um die ukrainische Luftverteidigung an ihre Grenzen zu bringen und die Moral der Bevölkerung mit ständigen nächtlichen Angriffen zu brechen", schreiben sie in einer aktuellen Analyse. "Ursprünglich vom Iran produziert, stellt Russland diese Drohnen jetzt massenhaft selbst her und greift dabei auf westliche und chinesische Komponenten zurück. Der ständige Einsatz dieser Drohnen offenbart Russlands strategisches Ziel, die ukrainische Flugabwehr mit schierer Masse zu überwältigen."
Wie es um die ukrainische Flugabwehr angesichts der wachsenden Bedrohung steht, ist unklar. Kiew hält sich mit Informationen etwa zum eigenen Raketenarsenal bedeckt, um Moskau keine Anhaltspunkte zu liefern. Doch die Zwangslage der Ukrainer ist bekannt.
Die Munition für Raketensysteme wie Iris-T oder Patriot ist zu knapp, um damit Kamikazedrohnen abzufangen. Schließlich greift Russland oft zeitgleich mit Hyperschallraketen und Marschflugkörpern an, die sich nur mit diesen Waffen abfangen lassen. Um die Shaheds müssen sich mobile Einheiten am Boden oder Kampfhubschrauber und -flugzeuge kümmern.
"Sky Sentinel": Diese Waffe soll die Ukraine beschützen
Wenn aber immer mehr und bald auch schnellere Kamikazedrohnen ankommen, kommen die Verteidiger nicht mehr hinterher. So bat Präsident Selenskyj den deutschen Außenminister Johann Wadephul (CDU) bei dessen Besuch in Kiew am Montag auch um die Lieferung weiterer Iris-T-Systeme. Deutschland hat der Ukraine bereits sechs davon schon geliefert und zehn weitere in Aussicht gestellt. Zu der konkreten Anfrage äußerte sich Wadephul nicht. Und auf die Hilfe der Verbündeten allein will sich die Regierung in Kiew auch nicht verlassen.
So erreichte vorige Woche eine Spendenaktion der Regierung das anvisierte Ziel von 1,5 Millionen US-Dollar, um damit zehn Exemplare eines in der Ukraine entwickelten Abwehrgeschützes zu beschaffen. "Sky Sentinel" ("Himmelswächter") heißt die Waffe, die sich bereits an der Front in der Ukraine bewährt haben soll. Optisch ähnelt sie einem klassischen Geschützturm, unterscheidet sich jedoch grundlegend durch ihre autonome Steuerung und den Einsatz Künstlicher Intelligenz.
"Sky Sentinel" ist mit einem schweren Maschinengewehr ausgestattet, kann sich um 360 Grad drehen und Ziele automatisch erfassen, verfolgen und abschießen – ohne dass ein Mensch eingreifen muss. Laut den Entwicklern trifft das System auch kleine und schnelle Flugziele, von Aufklärungs- und Kamikazedrohnen bis zu Marschflugkörpern. Nach ukrainischen Angaben können zehn "Sky Sentinel" eine Großstadt schützen. Ein einzelnes Exemplar soll reichen, um sensible Objekte wie ein Kraftwerk zu sichern. Ungewiss bleibt aber, ob ein neues Waffensystem allein die russischen Angriffe stoppen kann.
- en.defence-ua.com: russia Attacks Ukraine With Ballistic Missiles, Cruise Missiles, Nearly 500 UAVs on Sunday Night
- en.defence-ua.com: Ukrainian Intelligence Says russia's Setting Up Production of Shahed-238 Analog
- csis.org: Drone Saturation: Russia’s Shahed Campaign
- kyivindependent.com: Russia has launched over 28,000 Shahed drones at Ukraine since 2022
- kyivindependent.com: Exclusive: Ukraine could face 500+ Russian drones a night as Kremlin builds new launch sites
- news.un.org: Ukraine: Ongoing Russian strikes continue alarming civilian casualty trend
- united24.gov: Sky Sentinel
- Material der Nachrichtenagentur dpa
- Eigene Recherche