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Ende des Prager Frühlings: Ein Zeitzeuge berichtet


Die Nacht, in der Panzer die Tschechoslowakei überrollten

dpa, Michael Heitmann

Aktualisiert am 21.08.2018Lesedauer: 4 Min.
Anfang vom Ende des Prager Frühlings: Die Prager Bevölkerung umringt am 21. August 1968 einrollende sowjetische Panzer.Vergrößern des BildesAnfang vom Ende des Prager Frühlings: Die Prager Bevölkerung umringt am 21. August 1968 einrollende sowjetische Panzer. (Quelle: UPI/dpa-bilder)
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Vor 50 Jahren marschierten Soldaten des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei ein und beerdigten die Hoffnungen auf einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Ein Zeitzeuge berichtet.

Als die ersten sowjetischen Panzer die Grenze zur Tschechoslowakei überschreiten, reißt das Telefon Richard Seemann aus dem Schlaf. Der Journalist soll so schnell wie möglich in das Prager Funkhaus im Stadtzentrum kommen. "Als ich ins Taxi gestiegen bin, habe ich schon das Dröhnen der Flugzeuge mit den Fallschirmjägern gehört", berichtet der heute 84-Jährige.

Es ist die Nacht auf den 21. August 1968. Die Staaten des Warschauer Pakts marschieren im sozialistischen "Bruderland" Tschechoslowakei ein, um die Demokratiebewegung des Prager Frühlings niederzuschlagen. Der Reformkommunist Alexander Dubcek hatte dort in wenigen Monaten die Zensur aufgehoben, Wirtschaftsreformen begonnen und mit der stalinistischen Vergangenheit abgerechnet. Doch die Hoffnungen auf einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" werden jäh zerschmettert.

In den frühen Morgenstunden sendet Seemann mit seinen Kollegen vom Auslandssender Radio Prag die Nachricht von dem Einmarsch auf Kurzwelle in vielen Sprachen in die Welt – auch auf Deutsch. Internet gibt es längst noch nicht, die Telefonleitungen sind gekappt. Dann kommen die Panzer dem Funkhaus immer näher. "Es war ein furchtbares Chaos", sagt der damalige Nachrichtenredakteur.

Vor dem Gebäude des Rundfunks fallen Schüsse

Eine Traube von Menschen versammelt sich vor dem Gebäude. Barrikaden werden errichtet, um mit bloßen Händen Widerstand leisten zu können. Ein sowjetischer Munitionswagen fängt Feuer, explodiert. Die überforderten Soldaten schießen wild um sich.

Allein vor dem Rundfunk starben an diesem Tag 17 Menschen. Historiker beziffern die Zahl der von August bis Dezember 1968 getöteten Tschechen und Slowaken auf insgesamt 137.

Seemann berichtet, wie einer der russischen Offiziere in die Redaktion der deutschsprachigen Sendungen für Österreich stürmte, einen großen Stadtplan an der Wand entdeckte und fragte: "Gde Tschetka?" – wo sich also die Zentrale der Nachrichtenagentur CTK befinde, um auch diese zu besetzen. "Auf dem Stadtplan stand groß Wien, aber nicht in kyrillischen Buchstaben, so dass er es nicht lesen konnte", sagt Seemann.

Kaum jemand hatte mit einer Invasion gerechnet

Eine halbe Million sowjetischer, polnischer, ungarischer und bulgarischer Soldaten marschierten damals insgesamt ein, nahmen die Tschechoslowakei in einen gigantischen Zangengriff und besetzten in Windeseile strategisch wichtige Punkte. Kaum jemand hatte zu diesem Zeitpunkt mit einer Invasion gerechnet – trotz der Erfahrungen aus der Niederschlagung der Volksaufstände in der DDR 1953 und in Ungarn 1956.

Viele Menschen glaubten, dass sich der Kreml ein solches Vorgehen vor der Weltöffentlichkeit nicht erlauben könne. Doch letztlich war in Moskau die Angst vor dem Aufbruch in Prag größer. Als Vorwand verwies man auf einen umstrittenen "Einladungsbrief" tschechoslowakischer Hardliner.

Die DDR-Führung um Walter Ulbricht befürwortete den sogenannten "Schlag gegen die Konterrevolution". Die Nationale Volksarmee war gefechtsbereit, am Ende überschritten aber keine ihrer Kampftruppen die Grenze – die Gräuel des Zweiten Weltkriegs lagen nur wenige Jahre zurück. Doch startete die DDR einen eigenen Propagandasender, der auf Mittelwelle auf Tschechisch und Slowakisch sendete. Radio Vltava (Moldau) warnte vor "prowestlichen Abenteuern" und war bei den Hörern ein Flop – zu stark war der Akzent der Sprecher.

Widerstand prallte an Macht der Invasoren ab

Das Volk in der Tschechoslowakei stellte sich hinter die Reformkommunisten um ZK-Generalsekretär Dubcek. Auch bekannte Persönlichkeiten wie der Olympiagewinner und Langstreckenläufer Emil Zatopek verurteilten die Invasion. Doch es nützte alles nichts: Im April 1969 wurde Dubcek durch Gustav Husak ersetzt, der die euphemistisch genannte "Normalisierung" begann, also den Staat ganz auf Moskauer Linie brachte. Mehr als 250.000 Tschechoslowaken wählten in der Folge die Flucht ins Ausland.

Zahlreiche Fotoausstellungen erinnern dieser Tage in Prag an das Schicksalsjahr 1968. Für heftige Diskussionen sorgte indes, dass Tschechiens russlandfreundlicher Präsident Milos Zeman zum runden Jahrestag keine Rede hält. Er wähle das Schweigen, um seinen Freund und Kremlchef Wladimir Putin nicht zu vergraulen, kritisierte die Zeitung "Hospodarske noviny".

Zeman sei mutig gewesen in einer Zeit, als Mut Opferbereitschaft erfordert habe, erwiderte sein Sprecher: "Und das ist weit wertvoller als tausend Reden nach 50 Jahren." Seinem Lebenslauf zufolge wurde Zeman im Jahr 1970 nach Kritik an der sowjetischen Okkupation aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen.

Erinnerung an den Prager Frühling schwindet

Was im politisch heißen Sommer des Jahres 1968 passiert ist, das wissen heute viele junge Menschen nicht mehr. Eine aktuelle Umfrage der Organisation Postbellum ergab: Für 46 Prozent der Tschechen zwischen 18 und 24 Jahren ist die Sowjetinvasion eine große Unbekannte. Manche denken bei Prager Frühling zuerst an ein Festival für klassische Musik.


Für den Journalisten Richard Seemann ist das keine Überraschung. "Wie viele von uns gibt es noch, die sich daran erinnern?", fragt er. Ebenso wie viele Kollegen, die sich damals nicht anpassen wollten, verlor er seinen Job beim Rundfunk. Bis zur demokratischen Wende von 1989 musste er seine Familie als Heizer in einem Krankenhaus und Verkäufer von Sanitärartikeln ernähren.

Wenige Monate nach der Invasion, im Januar und Februar 1969, verbrannten sich die Studenten Jan Palach und Jan Zajic in Prag selbst – aus Protest gegen die sowjetische Besatzung. Der damalige Dissident und spätere erste frei gewählte Präsident Vaclav Havel (1936-2011) sagte einmal: "Die Gesellschaft hat diese radikale Tat sofort verstanden; sie drückte die Verzweiflung und Hilflosigkeit dieser Zeit aus."

Verwendete Quellen
  • dpa
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