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Calmund: "Man hätte unseren Profis Pampers geben können"


Calmund über Abstiegskampf
"Man hätte unseren Spielern Pampers geben können"

t-online, Reiner Calmund

Aktualisiert am 11.05.2017Lesedauer: 5 Min.
Reiner Calmund schreibt über seinen Ex-Klub im Abstiegskampf.Vergrößern des BildesReiner Calmund schreibt über seinen Ex-Klub im Abstiegskampf. (Quelle: imago-images-bilder)
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Leverkusen zittert vor der Relegation – und ausgerechnet jetzt kommt der risikofreudige 1. FC Köln zum Derby. Kaum jemand kennt diese Situation so gut, wie Ex-Bayer-Manager Reiner Calmund. Hier beschreibt er, wie das Abstiegsgespenst an seinem Bettlaken zog und er den Spielern an der Seitenlinie lieber "Pampers als Fitness-Drinks" reichen wollte.

Die Kolumne von Reiner Calmund bei t-online.de

Während meiner Zeit bei Bayer Leverkusen haben wir ja – was gerne vergessen wird – nicht nur Vize-Titel geholt. Neben dem UEFA-Cup-Sieg 1988 und dem DFB Pokalerfolg 1993 bewerte ich unser Champions-League-Finale – trotz einem 1:2 gegen Real Madrid – mindestens ebenso hoch ein. Doch wenn ich zusammenrechnen würde, wie viel Zeit ich damit verbracht habe, über unsere Fast-Abstiege zu sprechen – es war doppelt und dreifach so viel wie über alle Erfolge.

Kein Verein außer Bayern vor Abstiegskampf gefeit

Der Existenzkampf beherrscht dich und dein Denken so stark, dass kein Platz mehr in Deiner Birne frei ist, außer den Gedanken an die Rettung. Und während den Erfolg alle gern so mitnehmen, will mit dem Abstiegskampf keiner etwas zu tun haben und wissen, warum es schief gegangen ist. Als könnte man damit die nächste Katastrophe verhindern. Dabei fürchte ich, dass außer dem FC Bayern kein Verein in der Bundesliga davor gefeit ist, in Abstiegsgefahr zu geraten. Dortmund ist es passiert, Wolfsburg ebenfalls, der VfB Stuttgart grüßt aus der zweiten Liga. Diese drei Klubs waren im letzten Jahrzehnt die drei anderen Meister außer dem FC Bayern.

Leverkusens erster Abstiegskampf 1982 kam wenig überraschend. Wir waren als Sensations-Aufsteiger noch nicht etabliert in der Liga, galten von vornherein als Kellerkind und retteten uns erst in der Relegation gegen den Zweitliga-Dritten, die Offenbacher Kickers. Das war aufregend, aber längst nicht so dramatisch wie 1996 oder gar 2003. In beiden Saisons gehörten wir zum erweiterten Favoritenkreis der Liga. 1996 mit Top-Spielern wie Ulf Kirsten, Bernd Schuster oder Rudi Völler. 2003 als tragischer Triple-Vize der Vorsaison mit den Abgängen von Michael Ballack und Zé Roberto und langen Verletzungen von Schlüsselspielern wie Lucio und Jens Nowotny.

Wir hätten auch Pampers an die Profis verteilen können

Die Dramen, die sich bei mir im Kopf abspielten, die führte ich als extrovertierter Mensch auch öffentlich auf. Ich erzählte jedem, wie mir der sportliche Existenzkampf an die Nieren ging, wie das Abstiegsgespenst nachts bei mir am Bettlaken zog – ich litt unter brutalem Nervenstress, fand keine Ruhe mehr, keine Abwechslung, keinen Schlaf. Deswegen leide ich jetzt auch mit Ingolstadt, Wolfsburg, Augsburg, Mainz, Hamburg und meinem Verein Bayer Leverkusen. Ich gönne keinem Trainer, Manager, Spieler oder Funktionär den Abstieg,

In diesen Wochen war für mich Aktionismus die beste Beruhigungspille. Also plante ich, die Spieler aus ihrem Trott herauszuholen. Weg von den Medien, weg von den Fans auf der Straße und am Trainingsplatz, weg von den Mitarbeitern, um deren Jobs es ja auch ging. Fußballer sind sensibel wie hoch gezüchtete Rennpferde, sie reagieren wie Seismographen auf die leisesten Schwingungen.

Und davor wollte ich sie bewahren. In die Stille schicken, unter sich sein, keine Zeitungen lesen, keine Journalisten sehen und sprechen. Ich wollte ihnen vor allen Dingen die Angst nehmen. Die Angst vor dem Job, vor dem Ball. Wir hätten damals an einige Profis an der Seitenlinie statt Fitness-Drinks auch Pampers verteilen können. Und ich betone: Charakterlich waren die alle blitzsauber. Aber nervlich waren sie im Abstiegskrimi fast alle Wracks.

Unbekümmertheit ist wichtig im Abstiegskampf

Waren die Jungs auf dem Trainingsplatz, im Bett oder bei der Behandlung, plante ich mit unserer Vereinsführung die neue Saison. Links die Unterlagen für die Bundesliga, rechts die für die zweite Liga. Ich rechnete und qualmte und dampfte und lenkte mich doch nur unzureichend ab. Das Ende ist bekannt: Wir retteten uns, 1996 und 2003. Mit Glück, mit der Besinnung auf ein paar Reststärken.

Ich bin davon überzeugt, dass Bayer auch diesmal das rettende Ufer erreichen und die Relegation vermeiden wird. Dass ausgerechnet der 17-jährige Kai Havertz mit seinem Ausgleichstor in Ingolstadt den Grundstein dafür legen konnte, dass der direkte Abstieg verhindert wurde, spricht für die Theorie, dass Unbekümmertheit in solchen Situationen eine wichtige Rolle spielt. Unbekümmert und nervenstark waren in diesen Fußball-Krimis in der Regel immer nur ein paar alte abgeklärte Haudegen und junge unbekümmertste Profis.

An den letzten Spieltagen haben schon Pferde vor Apotheken gekotzt

Havertz bekam im Vorfeld von all den Schlagzeilen und Sondermaßnahmen der vergangenen Woche wahrscheinlich am wenigsten mit. Der Junge hatte in der Tat Wichtigeres zu tun: Er schrieb seine Abiturklausuren. Eine unglaubliche Story, dass ausgerechnet der Gymnasiast Bayer Leverkusen die Sorge vor Platz 17 nahm, Ingolstadt aus seinem schönen Traum vom Klassenerhalt aufweckte sowie Mainz und den HSV vor dem ganzen großen Nervenkitzel zunächst einmal bewahrte.

Aber: Augen auf im Abstiegskampf! Es gibt wohl in keiner Phase einer Saison verrücktere Ergebnisse als an den letzten beiden Spieltagen, da haben schon Dutzende Pferde vor alle erreichbaren Apotheken gekotzt und jede Menge Profis ungläubig ins Leere gestarrt, weil sie plötzlich unter den Strich in der Tabelle gerutscht waren. Und Relegation – das ist Folter pur für die angeschlagenen Nerven.

Aktionismus ist auch Völlers Beruhigungspille

Es gibt keine Patentrezepte für diese Situationen. Wenn ich an 1996 denke, dann sehe ich einen Rudi Völler vor mir, der mir das Trainingslager und einige Sondermaßnahmen vor dem entscheidenden Spiel ausreden wollte, es sollte alles laufen wie gewohnt. Ich konnte Rudi Völler damals gut verstehen. Er wollte als Weltmeister und Champions-League-Sieger nicht in seinem letzten Bundesliga-Match absteigen, zumal 48 Stunden später sein Abschiedsspiel mit Weltstars gegen die aktuelle deutsche Nationalmannschaft und eine große Abschieds-Party auf dem Programm standen.

Am Ende reichte es, wir schafften im letzten Saisonspiel ein glückliches 1:1 gegen den 1. FC Kaiserslautern. Jeder kann sich noch an das Kult-Foto vom weinenden Absteiger Andy Brehme im Arm seines Freundes Rudi Völler erinnern. Beide hatten sechs Jahre vorher für den 1:0-WM-Endspielsieg gegen Argentinien gesorgt. Rudi war gefoult worden, Andy verwandelte den Elfer. So nah stehen Freud und Leid im Fußball zusammen.

Jetzt musste ich schmunzeln, als ich in der vergangenen Woche las, dass Bayer einen Tag früher als gewöhnlich zum Auswärtsspiel nach Ingolstadt anreiste, um die Mannschaft mit ein paar Sondermaßnahmen optimal auf die Begegnung vorzubereiten. Aktionismus ist eben auch für den erfahrenen Fuchs Rudi Völler die beste Beruhigungspille, wenn du in der Verantwortung stehst.

Es muss alles auf den Platz, was treten kann

Klar ist auch: Jetzt, in der aktuell entscheidenden Phase ist die Angst vor der Pleite oft stärker als die Fußballkunst. Nur mit Edeltechnikern ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Da muss alles auf den Platz, was kämpfen, rennen und treten kann. Es kommt auf die richtige Mischung an. Rudi Völler muss mit Tayfun Korkut vor dem Derby gegen den 1.FC Köln entscheiden, ob der ein oder andere Top-Spieler wie Kampl, Bellarabi, Bailey und Chicharito jetzt eingesetzt werden oder erneut auf der Bank sitzen muss. Unklar ist sicher auch, inwieweit man das Risiko eingeht, einen der angeschlagenen Nationalkicker Toprak, Tah und Brand einzusetzen. Ich bin ganz ehrlich – ich möchte nicht in ihrer Haut stecken.

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