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Analoge Gesellschaft bekommt digitale Werkzeuge


Ausblick auf 2019
Wie die Digitalisierung unsere Gesellschaft verändern wird

MeinungEin Gastbeitrag von Ansgar Mayer

29.12.2018Lesedauer: 5 Min.
Meinung
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Konzertbesucher mit Smartphones: Digitale Werkzeuge, analoge GesellschaftVergrößern des Bildes
Konzertbesucher mit Smartphones: Digitale Werkzeuge, analoge Gesellschaft (Quelle: imago-images-bilder)

Die Digitalisierung hat längst in allen Bereichen des Lebens begonnen – wir verwalten unser Geld und unsere Versicherungen online und steuern unser Leben per App. Und trotzdem ist der Mensch durch und durch analog, schreibt t-online.de-Gastautor Ansgar Mayer.

Um diesen Text zu schreiben, habe ich mein Notebook gestartet, mir ein passendes WLAN gesucht, in meiner Streaming-App eine Playlist mit konzentrationsfördernder Musik gestartet und dann gegoogelt: Auf dem Weg in welche Gesellschaft sind wir denn nun, wollte ich von der mächtigsten Suchmaschine der Welt wissen. Angebote von Google: Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft, die Nonstop-Gesellschaft, die E-Gesellschaft, die Gesellschaft 5.0 – und natürlich auch immer wieder "Auf dem Weg in die digitale Gesellschaft". Was auch immer Letzteres heißen mag, denn die Definitionen gehen auseinander.

Wenn Politikerinnen und Politiker von der Digitalgesellschaft sprechen, ist meistens ein volkswirtschaftlicher Zusammenhang gemeint: Der Bayerische Wald und das Erzgebirge haben keine guten Mobilfunknetze und deshalb hängen uns China und Indien ökonomisch komplett ab. Irgendwie so wird die Kausalkette zugespitzt.

Die renommierte Oxford Martin School prognostizierte schon 2013, dass in den kommenden zwanzig Jahren weltweit die Hälfte aller Jobs durch künstliche Intelligenz, also Software und Roboter ersetzt würden. Jede zweite Stelle würde vernichtet – das ist die düstere Interpretation einer digitalen Gesellschaft.

Technik kann Städte langfristig verändern

Auf der hoffnungsfrohen Seite stehen Menschen wie Hans-Jörg Bullinger, langjähriger Präsident und jetzt Senator der Fraunhofer-Gesellschaft, der schrieb, dass wir in der Geschichte der Menschheit nie zuvor "eine solche Vielfalt an Wissen und technischen Errungenschaften vorweisen konnten. Technologien wie dezentralisierte Energieerzeugung und Energiespeicher, mobiles Internet und Echtzeitkommunikation oder Elektromobilität und intermodale Verkehrssysteme haben das Potenzial, unsere Städte nachhaltig – und damit langfristig – zu verändern."

Irgendwo dazwischen befand sich praktisch jedes Beratungsmandat, das ich in den vergangenen Jahren innehatte, wobei die Gemengelage oft war: Je weiter man hierarchisch nach oben marschierte, umso näher lag man bei der Position von Hans-Jörg Bullinger. Die Angst und Skepsis ist eher eine Frage der Operativen, der Angestellten und des mittleren Managements.

Gelbwesten entstanden aus Protest der Pendler

In Frankreich werden gesellschaftliche Debatten schon historisch bedingt häufiger auf der Straße ausgetragen als in Deutschland, sieht man einmal von Pegida und ihren gewalttätigen Auswüchsen ab. Zurzeit sind es die Gelbwesten, die bei unseren französischen Nachbarn die Bilder beherrschen. Die heterogene Bewegung entstand als Protest von Pendlern gegen massiv gestiegene Spritpreise, sie entwickelte sich dann weiter zu einer generellen Bewegung gegen die Politik des Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Doch die Gelbwesten sind auch ein Ausdruck der Angst des "einfachen Bürgers", des vielzitierten "kleinen Mannes", vor dem, was sich da gerade wirtschaftlich und technologisch entwickelt, weil es nicht einzuordnen ist.

t-online.de-Kolumnistin Ursula Weidenfeld verwies an dieser Stelle auch schon auf einen Stadt-Land-Konflikt in Frankreich: "Die großen Städte profitieren von der Digitalisierung, vom Zuzug Gebildeter, von den Investitionen großer Unternehmen." Die Landbevölkerung dagegen fühle sich abgehängt. Und übrigens konnten sich auch die Proteste selbst nur Bahn brechen, weil es eine digitale Gesellschaft gibt, weil Messenger als Katalysatoren und Stimmverstärker fungieren, weil Youtube und Co. emotionale Botschaften in Echtzeit transportieren.

Aus Informationshäppchen Wirklichkeit formen

Alle konsumieren diese Informationshäppchen und formen sich daraus ein Bild ihrer Wirklichkeit. Wer eintaucht in den Nachrichtenstrom, findet für jede Angst und jede Hoffnung bestärkende Versatzstücke. Oft fehlt es an der Einordnung, dem großen erzählerischen Bogen, der einen schwammigen Begriff wie "die digitale Gesellschaft" eingrenzt und bewertet. Und wenn dann noch die gefeierten journalistischen Erzähler der Gegenwart als Betrüger auffliegen, bleiben noch mehr Ratlosigkeit oder gar Wut und Ohnmacht zurück.

Einer der Besserverdienenden in der Erklärindustrie ist der US-amerikanische Bestseller-Autor John Naisbitt, der als Erfinder des Begriffes "Globalisierung" gilt. Er lebt in Wien und Tianjin, wo er das "Naisbitt China Institute" leitet. Vor rund zehn Jahren erschien auch auf Deutsch sein Buch "Mindset! Wie wir die Zukunft entschlüsseln". (Dafür bin ich übrigens ans Bücherregal gegangen, nicht ins Internet.) Naisbitt "weissagt die Zukunft der Welt", schrieb die "Welt am Sonntag" über ihn. Doch gerade er ist es, der auf die Bremse tritt. Von 30.000 Produkten, die jedes Jahr neu auf den Markt getragen würden, verschwänden 90 Prozent wieder. Naisbitt zitiert aus dem Wirtschaftsbuch "Built to last": "Ein visionäres Unternehmen hält in geradezu religiöser Form an seiner Kernideologie fest. In einem visionären Unternehmen bilden grundlegende Werte eine solide Basis, die nicht von täglichen Trends und Moden erschüttert wird."

Mehr Philosophie wagen

Nicht jeder Trend, der ausgerufen wird, muss also tatsächlich auch umfassend greifen. Die Digitalisierung hat längst begonnen und wird nicht revidiert werden. Doch ob die Digitalisierung auch unsere Gesellschaft in ihrem Kern erfasst, bleibt offen, zumal wir anthropologisch von viel langsameren Prozessen und wellenförmigen Bewegungen ausgehen können.

Macrons irischer Kollege, der Staatspräsident Michael D. Higgins, machte Schlagzeilen mit einem bildungsbürgerlichen Vorstoß: Wenn wir die Technologie und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft begreifen wollten, müssten wir unsere Kinder in der Schule wieder mehr Philosophie lehren. Philosophie sei eines der mächtigsten Werkzeuge, die wir besitzen, um unsere Kinder darin zu stärken, als freie und verantwortungsvolle Subjekte in einer immer komplexeren, vernetzten und unsicheren Welt zu agieren.

Computer durchdringen jeden Winkel unserer Existenz

Der niederländisch-australische Netzkritiker Geert Lovink macht dagegen eher Angst mit seiner Jetzt-Analyse: "Die Netzwerk-Gesellschaft erlaubt dem Kapital, sich in jede Minute unseres Tages einzuschleichen. Es gibt keinen Ort, der nicht zu einem kollaborativen Arbeitsplatz werden kann. Ruhezeit ('Downtime') wird zur Download-Zeit. Krankenversicherungen und Pensionen werden auch nicht fällig. Arbeit und Freizeit gehen fließend ineinander über. Computer durchdringen jeden Winkel unserer Existenz."

Evgeny Morozov, ein weißrussischer Technologie-Journalist, der zur Zeit in Harvard über die Geschichte des Internet forscht, nahm kurz vor Weihnachten im "Freitag" die Politik in die Verantwortung, an Ansätzen gegen diese Zustandsbeschreibung zu arbeiten: "Wir können uns den Weg in eine demokratischere Gesellschaft nicht freikaufen", lautete seine provokante, kapitalismuskritische Mahnung.

Analoge Gesellschaft mit digitalen Werkzeugen

Ich glaube, unsere Gesellschaft wird eine analoge bleiben, aber ihre Werkzeuge werden zunehmend selbstverständlich digital. Das kommt an vielen Stellen dem ländlichen Raum zugute, wenn man an Online-Banking, Internet-Apotheken oder digitale Medienangebote denkt. Es sorgt umgekehrt dafür, dass ein großer Informations- und Aufklärungsbedarf entsteht, um die Spielregeln des Digitalen zu begreifen, die neuen Grenzen des Privaten zu sehen (Stichwort: Datenschutz) und "always on" nicht als Pflicht zu verstehen.

Schon längst reagieren große Konzerne mit interessanten Gegenmodellen, verordnen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern E-Mail-freie Arbeitstage oder kappen dienstliche Mobilfunkverbindungen während Rand- und Wochenendzeiten.

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Immer mehr wissen, immer weniger verstehen

Die Wissens-Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die immer mehr weiß, und immer weniger versteht. Das zu akzeptieren, wäre die erste überlebenswichtige Erkenntnis für eine digitale Gesellschaft. Oder um es mit den Worten von Juan Luis Cebrián zu sagen: "Die digitale Gesellschaft nährt sich von Widersprüchen: Weder annulliert sie diese, noch überwindet sie sie; sie stärkt sie und vergnügt sich mit ihnen."

Ansgar Mayer studierte Politikwissenschaft, Geschichte, Fachjournalistik und Katholische Theologie in Gießen und Heidelberg. 2008 absolvierte er ein BWL-Studium an der Fernakademie für Wirtschaft und Management in Hamburg. 2011 promovierte Mayer an der Universität Bayreuth in Medienwissenschaft/-wirtschaft. Mayer leitete von 2002 bis 2003 die Redaktion des Senders "FAZ 92.4 München". 2004 bis 2006 verantwortete er an der Journalistenschule ifp den Bereich Elektronische Medien. Er war für die Volontärsausbildung der katholische Presse verantwortlich und leitete deren Radio- und Fernsehstudio in Ludwigshafen. Mayer war von 2007 bis 2012 Leiter Crossmedia-Ausbildung an der Axel-Springer-Akademie, wechselte von dort zur Unternehmensberatung Greenkern und wurde im Dezember 2012 Chief Product Officer der Computer Bild Digital GmbH in Hamburg. Von Anfang 2016 bis Ende 2017 war Mayer im Erzbistum Köln Direktor für Medien und Kommunikation.

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