Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr fĂŒr Sie ĂŒber das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Millionen Deutsche leiden unbemerkt unter der "stillen Sucht"
Medikamente haben das Ziel, krankheitsbedingte Beschwerden zu lindern. Doch viele PrĂ€parate bergen ein groĂes Risiko: Sie können abhĂ€ngig machen. Woran Sie erkennen, ob Sie betroffen sind.
Ob Schmerztabletten, Schlafmittel oder Nasentropfen: Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle fĂŒr Suchtfragen (DHS) sind 1,5 bis 1,9 Millionen Menschen in Deutschland medikamentenabhĂ€ngig â meist ohne es zu wissen. Denn oft wird das Suchtpotenzial von Schmerz- und Beruhigungstabletten unterschĂ€tzt.
Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen. UnabhĂ€ngig vom Geschlecht sind Ă€ltere Menschen hĂ€ufiger medikamentenabhĂ€ngig als jĂŒngere. Wie sich eine Medikamentensucht Ă€uĂert und wie Sie diese ĂŒberwinden können, erklĂ€ren Suchtexperten.
Medikamentensucht erkennen: sechs Kriterien
Eine MedikamentenabhÀngigkeit wird gemÀà der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) durch folgende sechs Kriterien definiert:
- Es besteht der starke Wunsch beziehungsweise Zwang, das Medikament einzunehmen.
- Es besteht eine verminderte KontrollfĂ€higkeit bezĂŒglich des Beginns, der Menge, und/oder der Beendigung der Einnahme.
- Beim Absetzen des Medikaments treten Entzugssymptome wie Zittern, Schwindel, Schlafstörungen oder Unruhe auf.
- Es kommt zu einer Toleranzentwicklung. Die Dosis muss gesteigert werden, da das Medikament nicht mehr die gewĂŒnschte Wirkung zeigt.
- Die Betroffenen investieren viel Zeit in die Beschaffung der Medikamente oder brauchen lange, um sich von den Folgen des Konsums zu erholen. Kontakte, Verpflichtungen und Interessen werden zunehmend vernachlÀssigt.
- Der Konsum wird fortgefĂŒhrt, obwohl es zu gesundheitlichen SchĂ€den durch den Substanzgebrauch kommt.
Mindestens drei dieser sechs AbhĂ€ngigkeitskriterien mĂŒssen fĂŒr die Diagnose Medikamentensucht innerhalb des zurĂŒckliegenden Jahres erfĂŒllt gewesen sein.
Bei welchen Medikamenten droht AbhÀngigkeit?
Beruhigungs- und Schlafmittel, auch bekannt unter dem Begriff Benzodiazepine, besitzen ein betrÀchtliches körperliches wie auch psychisches AbhÀngigkeitspotenzial. Das liegt nicht nur daran, dass sie eine körperliche Gewöhnung verursachen können. Sie beeinflussen auch das emotionale Erleben. Es besteht die Gefahr, dass Patienten sie in schwierigen Lebenssituationen als "Fluchthilfe" heranziehen.
Laut der DHS besteht die Gefahr einer AbhĂ€ngigkeitsentwicklung vor allem dann, wenn die Einnahme nicht im Rahmen therapeutischer Absprachen erfolgt. Doch auch bei ordnungsgemĂ€Ăem Gebrauch ist das Risiko erhöht, vor allem wenn Medikamente ĂŒber einen lĂ€ngeren Zeitraum hinweg eingenommen werden. Den Suchtexperten zufolge sind die am hĂ€ufigsten missbrauchten Benzodiazepine:
- Lorazepam
- Bromazepam
- Oxazepam
- Flunitrazepam
- Diazepam
Sie werden unter Handelsnamen wie Tavor, Lexotanil, Adumbran, Bromazanil und Diazepam-Ratiopharm verordnet.
Wichtig: Diese PrÀparate sollten nur unter Begleitung eines Arztes eingenommen werden.
Warum machen Schmerzmittel sĂŒchtig?
Bestimmte Schmerzmittel bergen ebenfalls die Gefahr einer Medikamentensucht, besonders die sehr stark wirkenden Schmerz- und BetÀubungsmittel aus der Gruppe der Opiate und Opioide. Opiate sind Mittel, die Opium oder Opiumalkaloide enthalten, insbesondere Morphin. Opioide hingegen umfassen alle morphinÀhnlich wirkenden synthetischen oder teilsynthetischen Substanzen.
Opiate und Opioide wirken unmittelbar auf das zentrale Nervensystem. Dort aktivieren sie die Freisetzung von Endorphinen, die neben einer schmerzstillenden auch eine euphorisierende und bewusstseinsverÀndernde Wirkung haben. Dieser Mechanismus erklÀrt das erhöhte Suchtrisiko, das von diesen Substanzen ausgeht. Nach Angaben der DHS liegt bei Opiaten und Opioiden das suchterzeugende Potenzial noch vor Alkohol.
Schmerzmittel streng nach Angaben des Arztes einnehmen
Wichtig ist, dass die Behandlung mit Schmerzmitteln immer unter Begleitung eines Arztes erfolgt. Laut den Schmerzexperten der DHS fĂŒhrt "die akute wie auch chronische Schmerzbehandlung mit Opiaten oder Opioiden unter kontrollierten therapeutischen Bedingungen in der Regel nicht zu einer Suchtentwicklung. Das Missbrauchs- und AbhĂ€ngigkeitspotenzial der Opioide sollte deshalb unter keinen UmstĂ€nden dazu fĂŒhren, dass Schmerzpatienten die notwendige Schmerztherapie vorenthalten wird."
Wie Menschen mit Medikamentensucht geholfen werden kann
Der erste Ansprechpartner bei Verdacht auf eine Medikamentensucht ist normalerweise der Hausarzt. Doch auch Ărzten fĂ€llt die Medikamentensucht meist spĂ€t auf. Fest steht aber: Je frĂŒher eine MedikamentenabhĂ€ngigkeit erkannt wird, desto leichter ist es, das Mittel abzusetzen.
In der Regel erfolgt dies nicht von heute auf morgen. Stattdessen wird die Dosis unter Àrztlicher Anleitung schrittweise reduziert. Psychische und auch körperliche Entzugserscheinungen können dabei auftreten.
Begleitend zum Entzug kann eine psychotherapeutische Behandlung helfen, da bei einer Medikamentensucht hĂ€ufig psychische Probleme wie Angststörungen oder Depressionen vorliegen. Nach dem Entzug kann der Patient lernen, bei Stress und Problemen keinen RĂŒckfall zu erleiden und wieder auf Medikamente zurĂŒckzugreifen.
Nasenspray-Sucht droht schon nach einer Woche
Eine Medikamentensucht kann sich nicht nur dann entwickeln, wenn wie bei Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmitteln das zentrale Nervensystem in den Wirkmechanismus eingebunden ist. Ein Beispiel fĂŒr eine physische AbhĂ€ngigkeit sind Nasentropfen.
Wirkstoffe wie Xylometazolin, Oxymetazolin oder Phenylephrin verengen die BlutgefĂ€Ăe der Nasenschleimhaut und sie schwillt ab. Auch die Sekretbildung verringert sich. Dieser kĂŒnstliche Eingriff in die Nasenfunktion kann jedoch Folgen haben.
Warum wird man abhÀngig von Nasenspray?
Laut dem Deutschen Berufsverband der Hals-Nasen-OhrenĂ€rzte lĂ€sst sich bei tĂ€glicher Anwendung bereits nach einer Woche ein Gewöhnungseffekt beobachten. Die sogenannten Alpha-Rezeptoren in der Nasenschleimhaut werden unempfindlicher gegenĂŒber den Wirkstoffen. Ohne die weitere Anwendung der abschwellenden Substanzen schwillt die Schleimhaut nur noch schwer ab â die Nasenatmung ist behindert. Viele greifen immer wieder zu den Tropfen und Sprays. Den Experten zufolge sind rund 100.000 Deutsche von abschwellenden Nasensprays und -tropfen abhĂ€ngig.
Bleiben die BlutgefĂ€Ăe in der Schleimhaut dauerhaft enggestellt, beginnt die Schleimhaut zu schrumpfen und sondert kaum noch Sekret ab. Sie trocknet aus. HNO-Ărzte nennen dieses Krankheitsbild "Rhinitis medicamentosa" oder "Privinismus".
In Folge wird die Nase anfĂ€llig fĂŒr Viren und Bakterien und kann sich entzĂŒnden. In einem fortgeschrittenen Stadium kann es zu einer sogenannten Stinknase (OzĂ€na) kommen. Bei dieser seltenen Erkrankung der Nasenschleimhaut sondert die Nase einen ĂŒblen Geruch ab.
Nasenspray-Sucht behandeln: Das können Sie tun
In leichten FĂ€llen der Nasenspray-Sucht lĂ€sst sich die Entwöhnung mit der "Ein-Loch-Methode" schaffen. Hierbei sprĂŒhen Sie nur in ein Nasenloch die abschwellenden Wirkstoffe. Hat sich das unbehandelte Nasenloch regeneriert, werden die Tropfen auch beim anderen weggelassen. So ist immer nur ein Nasenloch verstopft.
Nasentropfen mit Meerwasser und Dexpanthenol unterstĂŒtzen die Schleimhaut bei der Regeneration und wirken befeuchtend. Der Entzug kann mehrere Wochen dauern.
Wer es alleine nicht schafft, sollte seinen Arzt um Hilfe bitten. Dieser wird es vermutlich mit einer langsamen Reduzierung der Dosis versuchen. In der Akutphase können in ausgeprÀgteren FÀllen kortisonhaltige Medikamente helfen.