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Gaza-Israel-Krieg: Gewalt im Westjordanland – hier tobt ein weiterer Kampf


Radikale Siedler
Im Schatten des Krieges tobt ein weiterer Kampf

  • Marianne Max
Von Marianne Max

Aktualisiert am 02.11.2023Lesedauer: 6 Min.
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Palästinenser trauern im Westjordanland: Zwei ihrer Verwandten starben an Verletzungen, die sie bei Zusammenstößen mit israelischen Siedlern erlitten hatten. (Quelle: Ayman Nobani/dpa)

Während die Augen in aller Welt auf Gaza gerichtet sind, eskaliert auch im Westjordanland die Gewalt. Radikale Israelis vertreiben viele Palästinenser aus ihrer Heimat.

Im Schatten des Krieges zwischen der Terrororganisation Hamas und Israel eskaliert auch fernab des Gazastreifens die Gewalt. Seit Beginn der Angriffe durch die Hamas-Terroristen auf Israel wurden im Westjordanland Hunderte Palästinenser durch radikale israelische Siedler aus ihrer Heimat vertrieben. "Der Krieg in Gaza hat den Siedlern grünes Licht gegeben", sagt Tariq Mustafa, Bewohner der Beduinengemeinde Wadi Siq im Westjordanland, der "Washington Post".

Mustafa musste nach Drohungen bewaffneter israelischer Siedler aus seiner Heimat fliehen. Einer der Männer sei mit seinem Auto davongefahren und habe ihn gezwungen, mit seiner Frau und seinen drei Kindern zu Fuß in die nächstgelegene Stadt zu gehen. Dort habe Mustafa die israelische Polizei gerufen, doch der Beamte habe einfach aufgelegt. Nun ist die Familie heimatlos. Doch sie ist nicht die einzige, so wie ihr ergeht es derzeit vielen Palästinensern.

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Mindestens 607 Menschen wurden seit dem 7. Oktober aus ihrer Heimat im Westjordanland vertrieben, mehr als die Hälfte von ihnen Kinder, berichtet die UN. Die Angriffe von Siedlern auf Palästinenser haben sich demnach seitdem mehr als verdoppelt – von durchschnittlich drei Vorfällen pro Tag auf acht. Die Berichte reichen von Drohungen, Diebstählen und Übergriffen auf Palästinenser bis hin zu Tötungen – ausgeführt von radikalen Israelis, gedeckt von der israelischen Armee. Mehr als 100 Palästinenser sollen so nach Angaben der UN seit dem 7. Oktober bereits getötet worden sein.

Doch wie kommt es zu der Gewalteskalation gegen die Palästinenser, wie steht die israelische Regierung dazu und was tut das Ausland?

"Die Vorzeichen standen im Westjordanland auf Eskalation"

Dass es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen im Westjordanland kommt, ist an sich nichts Neues. Seit dem Sechstagekrieg 1967 ist das Gebiet, das ursprünglich den Palästinensern zugesprochen wurde, durch Israel besetzt. Systematisch trieb die israelische Regierung seitdem den völkerrechtswidrigen Bau israelischer Siedlungen voran. Inzwischen leben dort, wo einst Palästinenser wohnten, mehr als 600.000 radikale israelische Siedler. Das Westjordanland heißt bei ihnen bibeltreu Judäa und Samaria, Palästinenser haben für sie dort keinen Platz.

Westjordanland

Das Westjordanland, auch West Bank genannt, liegt in der historischen Region Palästina, an der südöstlichen Küste des Mittelmeeres. Im UN-Teilungsplan von 1947 wurde das Gebiet als Bestandteil des britischen Mandats dem zu gründenden arabischen Staat Palästina zugesprochen. 1948 wurde es im Zuge des Arabisch-Israelischen Krieges von Jordanien besetzt und 1950 von dem Staat annektiert. Seit dem Sechstagekrieg von 1967 ist es von Israel völkerrechtswidrig besetzt. Mehr zur Geschichte des Nahostkonflikts lesen Sie hier.

Bereits in der Vergangenheit blickten Beobachter daher mit Sorge auf das Gebiet, denn immer wieder kam es dort zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) dokumentierte etwa im Jahr 2022, dass mindestens 34 palästinensische Kinder durch israelische Streitkräfte getötet worden waren, nachdem sie die Soldaten mit Steinen angegriffen hatten. Auch im Frühjahr 2023 griffen extremistische Siedler das palästinensische Dorf Huwara an, ein Kommandeur der israelischen Armee bezeichnete den Angriff als "Pogrom", wie Sie hier lesen.

"Die Vorzeichen vor dem 7. Oktober standen bereits im Westjordanland auf Eskalation", sagt Steven Höfner, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Ramallah, zu t-online. Doch mit dem Angriff der Terrororganisation Hamas aus dem Gazastreifen eskalierte die jahrelange Feindschaft nun in weiterer Gewalt. Zahlreiche Palästinenser protestierten gegen die israelische Bodenoffensive im Gazastreifen, wo viele von ihnen Familie und Verwandte haben. Sie stürmten zu israelischen Kontrollpunkten, warfen Steine und verbrannten Reifen auf den Straßen. Doch auch die radikalen israelischen Siedler wenden Gewalt gegen die Palästinenser an. Auch zu tödlichen Schüssen soll es gekommen sein.

"Davon profitiert letztlich die Hamas"

Gründe sind der Angriff der Hamas auf Israel sowie das Misstrauen gegenüber der jeweils anderen Partei: Die Palästinenser werfen dem radikalsten Rand der israelischen Siedler vor, den Angriff der Hamas dafür zu missbrauchen, ihr seit Langem gehegtes Ziel anzuvisieren: mehr Land für den jüdischen Staat. Auch Höfner fürchtet das. "Die aktuelle Kriegslage wird sicherlich auch von den radikalen Siedlergruppen genutzt werden, um ihre Ziele durchzusetzen", so der KAS-Experte mit Blick auf das Vorgehen der israelischen Radikalen.

Unter diesen wächst indes die Sorge davor, dass auch sie durch radikale Palästinenser angegriffen werden könnten. Denn das Westjordanland wird zwar von der Fatah-Organisation von Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas kontrolliert, die Hamas versucht aber auch dort, stärker Fuß zu fassen. "Die Zivilbevölkerung fühlt sich nicht mehr von der Fatah und von der von ihr dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde in ausreichendem Maße geschützt", erklärt Höfner mit Blick auf die Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung. "Daher werden Rufe nach bewaffnetem Widerstand wieder lauter, von denen letztlich die Hamas profitiert."

"Hier sind wir umzingelt"

Um einem möglichen gewaltsamen Aufstand der Palästinenser zuvorzukommen und die israelischen Siedler zu schützen, hat die israelische Regierung die Siedlergemeinden mit Waffen ausgestattet. "Wir werden die Welt auf den Kopf stellen, damit die Städte geschützt werden", sagte Israels rechtsextremer Minister für innere Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, mit Blick auf die völkerrechtswidrigen Siedlungen im Westjordanland nach dem 7. Oktober. Einheiten aus Freiwilligen formierten sich in den Siedlungen und sollen diese schützen.

"Wir müssen davon ausgehen, dass das, was [in der Nähe von Gaza] passiert ist, jeden Tag hier passieren könnte", befürchtet etwa Erik Claster, ein Bewohner der Siedlung Efrat, südlich von Bethlehem im Gespräch mit der "Washington Post". Der Siedler hat sich freiwillig für die örtliche Verteidigungstruppe gemeldet, patrouilliert mit einer Waffe entlang der Straße. "Hier sind wir umzingelt", sagte er, zeigte dabei auf die palästinensischen Dörfer, die seine völkerrechtswidrig erbaute Siedlung umgeben. In ihnen sieht er eine Bedrohung.

Schwere Vorwürfe an Netanjahu

Viele Palästinenser fühlen sich hingegen seit Jahren ihrer Heimat beraubt. Unter der Besatzung der israelischen Radikalen haben sie bereits viel Leid erlebt. Mit den aktuellen Vertreibungen fürchten sie, dass sich die Situation für sie noch mehr verschlimmern könnte. "Wir müssen für das zahlen, was ihnen passiert ist", sagt Abu Baschar, einer der Anführer der kleinen beduinischen Gemeinde Wadi al-Seek im Westjordanland.

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Am 12. Oktober, drei Tage nach Beginn der Terrorangriffe der Hamas auf Israel, seien dutzende Israelis – Siedler, Soldaten und Polizisten – in sein Dorf eingedrungen und hätten die Bewohner gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, berichtet er der Nachrichtenagentur AFP. Die israelische Armee ging auf Nachfragen zu dem Vorfall zunächst nicht ein, doch Berichte wie die von Baschar gibt es derzeit viele.

"Die israelische Regierung unterstützt diese Angriffe und unternimmt nichts, um diese Gewalt zu stoppen", prangert B'selem, ein Zusammenschluss von 30 israelischen Menschenrechtsgruppen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, an. "Im Gegenteil: Minister und andere Beamte unterstützen die Gewalt und in vielen Fällen ist das Militär anwesend oder beteiligt sich sogar an der Gewalt, auch bei Vorfällen, bei denen Siedler Palästinenser getötet haben", werfen sie Benjamin Netanjahus Regierung vor.

Auch am Dienstag ging die israelische Armee weiter gegen die Palästinenser im Westjordanland vor, teils mit der Begründung, terroristische Anschläge vereiteln zu wollen. Doch zu vielen der Berichte äußert sich die israelische Armee nicht. Bei einem Einsatz in der Stadt Tubas im Norden des Westjordanlands wurden nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums etwa am Dienstag ein 70-jähriger Mann getötet und neun Palästinenser verletzt. Ein 14-Jähriger aus Zawata starb zudem an seinen Verletzungen durch Schüsse der israelischen Armee. Auch am Montag wurden demnach fünf Palästinenser durch israelische Siedler und Schüsse der Armee getötet.

Stoppt Israels Regierung die Gewalt der radikalen Siedler?

"Aus Sicht der radikalen israelischen Siedlergruppen sind alle Palästinenser Terroristen. Sie unterscheiden daher gar nicht zwischen Fatah, Hamas oder anderen Gruppen wie der Zivilbevölkerung", sagt KAS-Experte Höfner. Im Ausland sorgt das für Kritik: Die Bundesregierung rief Israel am Montag dazu auf, palästinensische Zivilisten im Westjordanland vor Übergriffen zu schützen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Zuvor hatte auch US-Präsident Joe Biden kritisiert, die Angriffe der Siedler würden "Benzin auf die bereits brennenden Brände im Nahen Osten seit dem Hamas-Angriff gießen."

KAS-Experte Höfner glaubt allerdings nicht daran, dass die israelische Regierung durch diese Appelle dazu bewegt werde, die Gewalt der Siedler zu stoppen. "Israel ist im Kriegszustand und wird sich vor allem an seine Kriegsziele orientieren und nicht an Kommentare aus dem Ausland", so Höfner. Auch in Tel Aviv ist man jedoch, so glaubt der Experte, offenbar nicht an einer Eskalation interessiert: "Es gibt zunächst ein strategisches Interesse daran, die Lage im Westjordanland unter Kontrolle zu halten, um die militärische Konzentration auf den Gazastreifen zu richten", so Höfner.

Verwendete Quellen
  • Anfrage an Steven Höfner, Konrad-Adenauer-Stiftung am 31.10.2023
  • apnews.com: "Biden condemns retaliatory attacks by Israeli settlers against Palestinians in the West Bank"
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen AFP und Reuters
  • washingtonpost.com: "As Israel pummels Gaza, the crisis in the West Bank comes into focus"
  • washingtonpost.com: "As settler violence surges, West Bank Palestinians fear new displacement"
  • btselem.com: "Emergency call to the international community - stop the forcible transfer in the West Bank"
  • abcnews.com: "As strikes flatten Gaza, furious protests and settler violence rock the West Bank"
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