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Österreich: Nein zur Nato, jein zur gemeinsamen Verteidigung


"Trittbrettfahrer" Österreich
Nein zur Nato, jein zur gemeinsamen Verteidigung

Von Christian Bartlau, Wien

Aktualisiert am 23.05.2022Lesedauer: 4 Min.
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Militär in Österreich: Das Land schließt einen Nato-Beitritt aus.Vergrößern des Bildes
Militär in Österreich: Das Land schließt einen Nato-Beitritt aus. (Quelle: imago-images-bilder)

Von wegen Zeitenwende: In Österreich bleiben die Uhren stehen, auch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Die Neutralität wird bis an die Schmerzgrenze ausgereizt, ein Beitritt zur Nato kommt für die Regierung nicht infrage.

"Österreich war neutral, ist neutral und wird auch weiterhin neutral bleiben." Was Kanzler Karl Nehammer zwei Wochen nach der russischen Invasion in der Ukraine an seine 60.000 Follower twitterte, wirkte auf den ersten Blick wie ein Machtwort. "Die Neutralität leistet uns gute Dienste, sie steht nicht zur Debatte", fügte Nehammer noch hinzu. Basta-Politik auf Österreichisch?

Man könnte den Tweet des Kanzlers auch anders lesen – als nüchterne Zusammenfassung der Diskussionslage im Land. Mag Deutschland sich Hals über Kopf in die "Zeitenwende" stürzen, mögen Schweden und Finnland im Eiltempo sicherheitspolitische Dogmen über Bord werfen, Österreich rückt keinen Zentimeter von seinem Standpunkt ab: kein Nato-Beitritt, keine Waffenlieferungen, keine Videobotschaft von Präsident Wolodymyr Selenskyj im Parlament. Keine Diskussion.

Überwältigende Mehrheit für Neutralität

"Nur ja nicht anstreifen", so beschreibt der österreichische Politikexperte Peter Filzmaier im Gespräch mit t-online die Haltung der politischen Parteien. Soll heißen: An diesem Thema will sich niemand die Finger verbrennen. Die Neutralität gehört zu den Grundpfeilern der österreichischen Identität, zementiert im Bundesverfassungsgesetz über die "immerwährende Neutralität" vom 26. Oktober 1955, der jährlich als Nationalfeiertag begangen wird.

Filzmaier spricht von einem "Mythos", der sich aus Halbwahrheiten und Unlogik speise: Tatsächlich wurde Österreich weder in den Ungarn-Aufstand 1956 noch in den Prager Frühling 1968 hereingezogen, die russischen Truppen respektierten die Grenzen. Dass die Neutralität den Wirtschaftsaufschwung nach dem Krieg befeuert habe, sei aber falsch – wirtschaftlich sei Österreich nie neutral gewesen, sondern klar westlich und marktwirtschaftlich orientiert.

Besonders wirkmächtig war die "aktive Neutralitätspolitik" des Sonnenkanzlers Bruno Kreisky in den 1970er-Jahren: Österreich schwang sich damals zum "Brückenbauer" und Zentrum der Weltgemeinschaft auf, mit UNO-Sitz und wichtigen Gipfeltreffen in Wien. Bis heute zehrt die Politik von diesem Ruf, mit dem Kanzler Nehammer auch seinen rätselhaften Besuch bei Wladimir Putin in Moskau rechtfertigte. "Aber was aktive Neutralitätspolitik heute genau bedeutet", sagt Peter Filzmaier, "wird nicht nur nicht definiert, sondern gar nicht hinterfragt. Aber alle stehen innerlich still."

Mythen hin, Halbwahrheiten her: Die Bevölkerung hat die Neutralität verinnerlicht. In einer Umfrage der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik von Mitte März – also nach dem russischen Angriff – halten neun von zehn Befragten sie für wichtig oder sehr wichtig. Nur 17 Prozent sprachen sich für einen Nato-Beitritt aus.

"Würden das auch nicht für Putin haben wollen"

Kanzler Nehammers Beharren auf der Neutralität spreche also vor allem für seine "Lesekompetenz in Sachen Umfragen", meint Politikexperte Filzmaier. Zwar drangen in den Wochen nach der russischen Invasion aus der zweiten Reihe der ÖVP vorsichtige Diskussionsvorschläge – die wenige Tage später vom Kanzler höchstpersönlich rabiat eingefangen wurden. Seitdem sind alle Parteimitglieder auf Linie, auch ÖVP-Verteidigungsministerin Klaudia Tanner, die sich vom Sinneswandel in Schweden und Finnland nicht beirren lässt: "Aufgrund der geografischen Situation und der direkten Nachbarschaft zu Russland haben diese Länder eine andere Bedrohungseinschätzung", sagte sie im "Standard".

Die wenigen Kritiker des österreichischen Sonderwegs vermuten, dass sicherheitspolitische Argumente gar keine große Rolle spielen. "Es ist ausschließlich umfragegetriebene Politik", sagt Nikolaus Scherak von den liberalen Neos im Gespräch mit t-online. "Hinter vorgehaltener Hand teilen einige aus der ÖVP unsere Meinung." Allerdings haben seine Neos, die kleinste Oppositionspartei, in Sachen Neutralität auch den Rest des Parlaments gegen sich: Von den Grünen über die Sozialdemokraten bis zu den Rechtsaußen der FPÖ will niemand an der Neutralität rütteln – seltene Einigkeit in der sonst so heillos zerstrittenen Parteienlandschaft. Nur die Neos wollen eine Neuorientierung, nicht im Rahmen der Nato, aber als Teil einer europäischen Armee.

An der Pro-Neutralitäts-Front scheiterte im März auch der Neos-Antrag, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Nationalrat reden zu lassen. Ein tagelanges Hickhack endete mit einer Absage, weil SPÖ und FPÖ mit Verweis auf die Neutralität Österreichs Bedenken anmeldeten. "Wir würden das auch für Putin nicht haben wollen oder irgendeine andere Kriegspartei", sagte FPÖ-Chef Herbert Kickl damals.

Wie echt ist die Neutralität?

Die überwältigende Zustimmung zur Neutralität in Österreich basiert für Scherak auf einem "Missverständnis". Die Bevölkerung glaube, dass die Neutralität das Land vor Angriffen schütze. "Das stimmt nicht – die Ukraine war auch neutral. Wir sind geschützt, weil wir in der EU und von Nato-Mitgliedsstaaten umgeben sind."

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Ein Argument, das auch Kanzler Nehammer benutzt – für die Neutralität. Er verwies im "Standard" auf die gegenseitige Pflicht zum Beistand, die laut Artikel 42 des EU-Vertrags in der Europäischen Union herrscht. Der Subtext: Wozu in die Nato, wenn wir eh geschützt sind?

Was Nehammer nicht dazu sagt: De facto macht sich Österreich damit zum Trittbrettfahrer. Zwar beteiligt sich das Land an den EU-Battlegroups, der neuen schnellen Eingreiftruppe Brüssels. Einen substanziellen Beitrag in einem großen Krieg könnte Österreich jedoch kaum leisten – ein interner Bericht bescheinigte dem Bundesheer 2019 einen katastrophalen Zustand.

Österreich kann sich auf EU verlassen

Außerdem wirft Nehammers Hinweis auf die EU ein Schlaglicht auf die Untiefen des angeblich so klaren Begriffs Neutralität: Wie neutral kann ein Land überhaupt sein, das sich in einem Verfassungsartikel zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union bekennt? Für Rechtsprofessor Peter Bußjäger ist die Lage "zwiespältig", wie er im Gespräch mit t-online erläutert.

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Österreich kann sich im Verteidigungsfalle auf die Solidarität seiner EU-Nachbarn verlassen – dürfte sich aber theoretisch im Falle eines Angriffs auf ein anderes EU-Land einfach aus den Kämpfen raushalten. Die rechtlichen Grundlagen für diese bequeme Situation sind etwas für juristische Feinschmecker, für jedermann pikant sind aber Bußjägers Schlussfolgerungen: All diese Bestimmungen schränkten die Neutralität Österreich ohnehin schon mehr ein, als es bei der Öffentlichkeit durchgedrungen ist. "Ein großer Teil der Menschen in Österreich vertraut auf einen Status, der in Wahrheit nicht durchzuhalten ist."

Wenn es hart auf hart kommt, meint Bußjäger, werden ohnehin die Fakten entscheiden: Österreich könne wohl kaum neutral bleiben, wenn ein Mitgliedsstaat der EU angegriffen wird. Spätestens dann würde auch im Land der immerwährenden Neutralität eine Zeitenwende anbrechen.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Dr. Peter Filzmaier, Professor für Demokratiestudien und Politikforschung
  • Gespräch mit Dr. Peter Bußjäger, Professor für Staatsrecht, Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht
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