Experte über Israels Gegenschlag "Das Risiko ist enorm"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Palästinensische Terroristen überfielen Israel, nun bereitet das Land den Gegenschlag gegen die Hamas im Gazastreifen vor. Oberst Markus Reisner schätzt Risiken und Erfolgsaussichten ein.
Mehr als 700 Tote und Dutzende Entführte sind die Bilanz der Attacke von Hamas und Islamischen Dschihad auf Israel. Wie war ein solcher Angriff an der hochgesicherten Grenze zwischen Gaza und Israel überhaupt möglich? Wie wird die israelische Armee reagieren? Und wie gefährdet sind die Geiseln? Diese Fragen beantwortet Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer.
t-online: Herr Reisner, Terroristen der Hamas konnten die als bestens gesichert geltende Grenze zwischen Gaza und Israel überwinden. Wie war das möglich?
Markus Reisner: Die Hamas hat sich offensichtlich gut und penibel auf diese Attacke vorbereitet – möglicherweise ist es ihr auch tatsächlich gelungen, die Pläne vor der israelischen Armee geheim zu halten. Eine andere Erklärung wäre, dass die israelischen Dienste etwas ahnten, aber die Einleitung von Gegenmaßnahmen zu spät erfolgte.
Hätte die als nahezu unbesiegbar geltende Armee Israels nicht trotzdem besser gewappnet sein müssen?
Sie hat eine Zeit gebraucht, um sich zu fangen, ja. Dabei half der israelischen Armee das Konzept von Sicherheitszonen, das sie seit langer Zeit etabliert hat. Wenn eine angegriffene Zone verloren geht, wird sie mittels anderer isoliert.
Oberst Markus Reisner, Jahrgang 1978, ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt und derzeit in einer Truppenverwendung Kommandant des Gardebataillons des österreichischen Bundesheeres. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 analysiert Reisner den Kriegsverlauf auf dem YouTube-Kanal "Österreichs Bundesheer".
Also eine gestaffelte Verteidigung, bei der zeitweilige Verluste von Territorium hingenommen werden?
So ist es. Nun haben die israelischen Streitkräfte den Raum zurückgewonnen, wenn es stellenweise auch noch versprengte Terroristen auf israelischem Territorium geben mag. Sie haben es also wieder in den Griff bekommen.
Die Folgen sind gewaltig. Nicht nur haben die Terroristen mehr als 700 Menschen ermordet und mehr als 100 als Geiseln verschleppt. Auch die Furcht vor der Überlegenheit der israelischen Armee dürfte weiter erodieren.
Die Milch ist verschüttet, ohne jeden Zweifel. Die israelische Armee ist nicht unbesiegbar – in dieser Erkenntnis besteht der größte Erfolg der Hamas. Zumindest im Informationsraum. Dazu kommen drängende und besorgniserregende Fragen: Was macht die Hamas mit den verschleppten Geiseln, darunter Frauen und Kinder? Wird man sie auf Hochhäuser platzieren, um die israelische Armee von Angriffen abzuhalten. Der Hamas ist alles zuzutrauen.
Wie kann die israelische Armee mit dieser Situation umgehen? Kämpfe in urbanen Gebieten sind ohnehin gefährlich und verlustreich, auch ohne Geiseln, deren Leben in Gefahr geraten kann.
Israelische Spezialkräfte haben damit begonnen, Personen aus dem Führungskader der Hamas festzusetzen. Ich vermute, dass damit Druck für Verhandlungen und einen späteren Austausch erzeugt werden soll.
Das wird aber nicht die einzige Reaktion sein. Der Einmarsch von israelischen Bodentruppen nach Gaza scheint bevorzustehen.
Israel wird mit aller Kraft zurückschlagen. Um ohne jeden Zweifel klarzumachen, dass eine solche Attacke für die Verantwortlichen nicht ohne härteste Konsequenzen bleiben wird. Von israelischen Ministern und Generalstabschefs gibt es bereits sehr zugespitzte Aussagen, wonach die Hamas bald Geschichte sein solle. Sie wollen die Hamas auslöschen.
Aber wie soll das in Gaza möglich sein? Die Hamas hat zahlreiche Geiseln, zudem werden auch palästinensische Zivilisten Opfer werden.
Der Iron Dome, das israelische Raketenabwehrsystem, ist eigentlich genau zu dem Zweck eingerichtet worden, um physische Vorstöße der israelischen Armee nach Gaza unnötig zu machen. Iron Dome schießt Raketen ab, die auf Städte und Ortschaften abgeschossen werden. Häuserkämpfe sind immer verlustreich, es gibt Hinterhalte, eigene Soldaten werden vom Gegner gefangen genommen. So etwas sollte vermieden werden. Nun hat Israel keine andere Wahl mehr.
Besteht die Chance bei einem solchen Einsatz, Geiseln zu befreien?
Das Risiko ist enorm. Wenn wir die Bilder betrachten, wie die Terroristen von der Hamas mit den Geiseln umgehen, wird das Ausmaß des Schreckens deutlich. Diese Terroristen haben keinerlei Hemmungen. Auch nicht, Geiseln als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Mehr Erfolg verspricht die Festsetzung und der Austausch von Führungskadern der Hamas.
Droht Israel möglicherweise gar ein Zweifrontenkrieg? Die Hisbollah im Norden betrachtet das Land als Todfeind.
Wir müssen die Entwicklung abwarten. Mit der Hisbollah im Libanon stehen gewissermaßen auch die iranischen Revolutionsgarden vor der israelischen Nordgrenze. Wie das "Wall Street Journal" berichtet, hat Teheran auch der Hamas bei der Planung der Attacke geholfen. Über verschiedene Rattenlinien dürfte der Iran Kriegsmaterial nach Gaza geschmuggelt haben.
Nun mobilisiert Israel in Rekordzeit 300.000 Reservisten.
Immer wieder wird in diesen Tagen an das Jahr 1973 erinnert, als Israels Existenz im Jom-Kippur-Krieg auf dem Spiel stand. Ich fühle mich tatsächlich eher an 1948 erinnert.
Als Israel quasi im Moment seiner Gründung von den arabischen Staaten angegriffen wurde?
Ja. Denn die Situation ist ernst wie selten zuvor. Auch deswegen will Israel nun Stärke zeigen, damit niemand auf verheerende Ideen kommt. Etwa die, diesen Moment der Schwäche auszunutzen. Gaza wird nun in einen Belagerungszustand versetzt werden, damit die Zivilbevölkerung enormen Druck auf die Hamas ausübt.
Die Hamas war bislang stets geschickt darin, durch diesen Druck den Hass auf Israel zu forcieren.
Es gibt keine Patentlösungen für derartige Krisen. Hoffen wir, dass sich die Lage ohne viele weitere Opfer beruhigen wird.
Herr Reisner, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Markus Reisner via Telefon