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Armenien: Zivilisten bereiten sich auf Krieg mit Aserbaidschan vor


Schießstände in Armenien
"Zivilisten sind die Ersten in der Schusslinie"


29.06.2025 - 08:29 UhrLesedauer: 4 Min.
t-online-Reporter Tobias Schibilla erlernt auf dem Azatazen-Schießstand bei Eriwan den Umgang mit einem Scharfschützengewehr.Vergrößern des Bildes
t-online-Reporter Tobias Schibilla erlernt auf dem Azatazen-Schießstand bei Eriwan den Umgang mit einem Scharfschützengewehr. (Quelle: Kim Schibilla)
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In Armenien wächst die Angst vor einem neuen Krieg. In den Hügeln bei Eriwan üben Zivilisten mit Scharfschützengewehren – für den Fall, dass der Nachbar erneut angreift.

Tobias Schibilla berichtet aus Armenien

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Ein Schuss peitscht über die mit Geröll und Gräsern bedeckten Hügel. Ein metallisches Geräusch signalisiert, dass der Schütze sein Ziel getroffen hat. "Sehr gut", sagt Ausbilder Areg* und grinst. "Du hast Talent dafür."

Aregs Schießstand in den Hügeln nahe der Hauptstadt Eriwan ist bei Touristen beliebt. Die meisten kommen aus Russland oder China. Doch tatsächlich ist die Anlage eher für die heimische Bevölkerung gedacht.

Üben für den Ernstfall

Ehemalige Soldaten versuchen dort, die zivile Bevölkerung auf den Ernstfall vorzubereiten: einen bewaffneten Konflikt mit dem Nachbarn Aserbaidschan. Denn die Gefahr eines erneuten Angriffs durch das Land hängt wie ein Damoklesschwert über Armenien.

Auf dem Gelände der Nichtregierungsorganisation Azatazen außerhalb der armenischen Hauptstadt Eriwan kann jeder, der möchte, mit einem Scharfschützen- oder Sturmgewehr schießen. Was wie ein Freizeitangebot für Abenteuerlustige wirkt, hat in Armenien einen ernsten Hintergrund. Zuletzt griff Aserbaidschan im Jahr 2020 international anerkanntes armenisches Gebiet an und eroberte in einem sechs Wochen dauernden Krieg einige Regionen im Süden Armeniens. Seitdem haben sich in vielen Teilen des Landes zivile Milizen gegründet, die eine erste Verteidigungslinie im Falle eines erneuten Angriffs auf Armenien bilden sollen – bis das Militär eintrifft.

Der Konflikt ist nie ganz zur Ruhe gekommen. Immer wieder beschießen aserbaidschanische Soldaten die Grenzregionen mit leichten Waffen.

So berichten etwa die Einwohner des kleinen Dorfs Khnatsakh im Südwesten Armeniens der Nachrichtenagentur Reuters, dass aserbaidschanische Soldaten an jedem Abend ab 22 Uhr das Feuer in Richtung ihrer Häuser eröffnen. Dabei sollen mehrfach Dächer getroffen worden sein. Die Bewohner des Dorfes vermuten Einschüchterungsversuche oder Machtdemonstrationen hinter dem Beschuss. Aserbaidschans Armee bestreitet die Vorwürfe – und doch bleibt bei den armenischen Zivilisten die Angst vor einem erneuten Angriff des Nachbarlandes.

Vier zivile Schießstände

Um besser gegen diese Gefahr gewappnet zu sein, gründeten Veteranen des letzten Krieges im Jahr 2021 die NGO Azatazen ("Die Freien") und eröffneten vier zivile Schießstände im ganzen Land. "Unser Ziel ist die Entwicklung einer Kultur der zivilen Bewaffnung", erklärt Areg im Gespräch mit t-online auf dem Schießstand. "Sollte es zu einem größeren Krieg kommen, sind Zivilisten die Ersten in der Schusslinie. Darauf müssen wir die Menschen vorbereiten."

Die Schießstände finanzieren sich überwiegend über die Touristen, die Azatezens Standorte besuchen. Selbst wer noch nie eine Waffe abgefeuert hat, kann hier mit einem Gewehr oder einer Pistole schießen. Notwendig ist zuvor lediglich eine Sicherheitsanweisung durch einen Veteranen.

Das Englisch der Mitarbeiter ist gut, die Auswahl groß. Touristen können mit verschiedenen Modellen an Pistolen, Sturm- oder sogar Scharfschützengewehren schießen. Die Munition kostet umgerechnet nur wenige Euro.

Das Geschäft läuft gut, erklärt Areg, während er eine deutsche Touristin an einem Perun-Sturmgewehr einweist. Besucher kämen häufig, weil es in ihren Ländern nicht die Möglichkeit gebe, mit Kriegswaffen zu schießen.

In Deutschland ist das zwar grundsätzlich möglich, allerdings sind die Hürden deutlich höher. Einige Standorte bieten zwar Veranstaltungen an, bei denen Interessierte mit Kurz- und Langwaffen schießen können. Ihr Angebot ist allerdings deutlich teurer als in Armenien.

Ihre Besuche an den Azatazen-Schießständen würden es ermöglichen, dass Angehörige der zivilen Milizen und Polizeibeamte hier kostenlos trainieren können.

Thema trifft Nerv in der Bevölkerung

Azatazen organisiert nicht nur die Schießstände. Regelmäßig gibt es laut der Webseite der NGO Kurse und Veranstaltungen, bei denen internationale Experten ihre Erfahrung im Zivilschutz an die Mitglieder der Organisation weitergeben.

Das Thema scheint einen Nerv in der armenischen Bevölkerung zu treffen. Laut eigenen Angaben hat Azatazen mittlerweile mehr als 1.000 Mitglieder – und es sollen noch deutlich mehr werden. Als Ziel gibt die NGO auf ihrer Webseite eine Zahl von 10.000 Mitglieder an. Wer Mitglied wird, kann in verschiedenen Kursen nicht nur schießen lernen, sondern auch die Prüfung für den Waffenschein ablegen oder Militärtaktiken erlernen.

Für Areg ist diese Bildung unerlässlich. Er glaubt, dass es in Zukunft wieder zu einem Angriff durch Aserbaidschan kommen wird. "Die Frage ist nicht ob, sondern wann", sagt er.

Armenien ist Aserbaidschan militärisch unterlegen

Dann könnten die zivilen Milizen besonders wichtig werden. Denn die armenische Armee gilt nicht unbedingt als militärische Supermacht. Der "Global Firepower Report" sieht das kleine Land im Kaukasus auf Platz 90 von 145 der stärksten Armeen der Welt. Das Nachbarland Aserbaidschan belegt den 60. Platz. 57.500 Mann stehen im armenischen Militär unter Waffen, während Aserbaidschan auf 126.000 Soldaten zurückgreifen kann. Außerdem kommen noch 210.000 armenische Reservisten dazu, die im Fall eines Angriffs mobilisiert werden könnten – gut 90.000 Soldaten weniger als Aserbaidschan.

Und noch ein Problem gibt es für die armenische Armee: die Geografie des Landes. Armenien ist ein Bergstaat, viele Straßen sind nicht für den Dual-Use, also für die gleichzeitige militärische und zivile Nutzung ausgelegt. So würde es im Falle eines aserbaidschanischen Angriffs lange dauern, bis Truppen zur Front verlegt werden könnten. Auch deshalb sind die zivilen Milizen so wichtig für Armenien.

Ob er selbst noch einmal als Soldat kämpfen wird, lässt Areg offen. Sein Ziel sei es, die Zivilbevölkerung so gut an der Waffe auszubilden, dass sie sich im Falle eines Angriffs bis zum Eintreffen der Armee selbst verteidigen könne.

*Name geändert

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräch mit Ausbilder Areg auf dem Azatazen-Schießstand

Quellen anzeigenSymbolbild nach unten

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