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Flüchtlingsdrama in Belarus und Polen: "Wir sollten uns schämen" | Kommentar


Flüchtlingsdrama an der EU-Grenze
Wir sollten uns schämen, bei diesem zynischen Spiel mitzumachen

MeinungEin Kommentar von Tim Kummert, Białystok

Aktualisiert am 17.11.2021Lesedauer: 3 Min.
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Wasserwerfer und Tränengas: Drohnenaufnahmen zeigen, wie die polnischen Sicherheitskräfte versuchen, Migranten von einer Grenzüberquerung abzuhalten. (Quelle: reuters)

Ja, Belarus treibt ein perfides Spiel an der Grenze zu Polen. Aber man muss das so deutlich sagen: Die Bundesregierung macht sich durch ihr Nichtstun mitschuldig – auch am Tod von Menschen.

Alles begann mit 32 Menschen. So viele Flüchtlinge saßen im August zwischen Polen und Belarus fest. Schon damals konnten sie weder in den einen noch in den anderen Staat, waren gefangen im Niemandsland. Und schon damals litten sie Hunger und Durst.

Im August veröffentlichte "tagesschau.de" einen Artikel mit der Überschrift: „Sie warten, bis hier jemand stirbt.“ Es war der verzweifelte Hilferuf eines Migranten. Die schreckliche Hoffnung lautete damals: Am aktuellen Zustand ändert sich erst etwas, wenn es zum Äußersten kommt. Also dann, wenn jemand umkommt.

Nun, drei Monate später, ist es zum Äußersten gekommen. Nicht heute. Nicht gestern. Sondern bereits vor Wochen: Es sterben Flüchtlinge im Grenzgebiet, mindestens zehn Todesopfer sind schon bestätigt. Wie hoch die Dunkelziffer ist, kann niemand sagen, denn Polen verwehrt Medien und Hilfsorganisationen den Zugang zum Grenzgebiet.

Das Argument der EU kommt einer Unverschämtheit gleich

Der Winter wird kälter und kälter, die Menschen haben keine Kleidung und sitzen draußen vor der Tür Europas. Um die 3.500 Migranten sind es mittlerweile. Und trotz der Todesfälle ändert sich überhaupt nichts an ihrem Zustand. Alles bleibt, wie es ist.

Der Grund: Es wird vonseiten Polens, der EU und der Bundesregierung vor einer zweiten Flüchtlingswelle nach 2015 gewarnt. Wenn man diese Menschen aufnehme, so die Argumentation, könnten sich ja schnell Hunderttausende weitere auf den Weg machen.

Dabei ist das überhaupt nicht sicher, weil bereits jetzt die Flüge nach Minsk gestoppt wurden. Es gibt keine einfache Flugroute nach Europa mehr. Und den normalen Landweg hat es immer gegeben – mit allen Hindernissen.

Doch vor allem ist dieses Argument schlicht eine Unverschämtheit gegenüber den Menschen, die in der Sperrzone festsitzen. Diese über 3.500 Migranten müssen jetzt eben leiden – nur damit ihre Bekannten und Verwandten bloß nicht auf die Idee kommen, nach Europa einreisen zu wollen. Das ist die zynische Zusammenfassung der politischen Haltung der EU.

Es ist ganz passend, wenn keine Fernsehkamera daneben steht

Doch es geht noch weiter, denn die Staatengemeinschaft fühlt sich an ihr eigenes Recht nicht mehr gebunden. Eigentlich ist in der EU festgelegt: Wer europäischen Boden betritt, hat ein Recht auf ein angemessenes Asylverfahren. Doch das ist längst außer Kraft gesetzt. Wer sich derzeit als Flüchtling an den Soldaten vorbei in die polnischen Wälder durchschlagen kann, kann sich noch lange nicht darauf verlassen, dass er ein faires Verfahren bekommt.

Nur bei einer Sache kann er sich sicher sein: Dass das polnische Militär regelrecht Jagd auf die Menschen macht. Und wenn die Soldaten ihn erwischen, bringen sie ihn zurück hinter die Grenze. Da ist es ganz nützlich, wenn keine Fernsehkamera daneben steht.

Aus der Distanz betrachtet, aus Deutschland etwa, mag die Situation einfach aussehen: Polen hat die Lage schon im Griff. Doch das ist ein Irrtum. In Wahrheit hat niemand irgendetwas im Griff. Die Menschen erfrieren, als wären sie nicht nur im Niemandsland, sondern auch im Mittelalter gefangen. Mitten in der Zivilisation. Es ist eine Schande.

Die deutsche Bundesregierung macht sich mitschuldig am Tod von Migranten, wenn sie weiter zusieht. Und die deutsche Bevölkerung auch. Den Menschen muss geholfen werden. Nicht irgendwann, sondern jetzt. Die Stadt München hat bereits angeboten, einige Migranten aufzunehmen. Die 3.500 Menschen lassen sich auf diverse EU-Staaten verteilen – und so vor dem Tod retten. Es ist das Minimum dessen, was die Menschlichkeit gebietet.

Ein Krieg, in dem Menschen als Munition eingesetzt werden

Es mag sein, dass nicht gleich jeder EU-Staat mitzieht. Aber auf die Zögerer kann man im Angesicht des Todes nicht warten. Hier wäre ausnahmsweise mal eine "Koalition der Willigen" überfällig.

Zudem sollte die deutsche Regierung Druck auf Polen ausüben: Es müssen endlich Hilfsorganisationen ins Sperrgebiet – und auch Journalisten. Aktuell leiden die Migranten in einem Korridor der Unsichtbarkeit. Nur wenige Informationen dringen nach außen, neben den Propagandabildern des belarussischen Regimes. Dieser Zustand muss so schnell wie möglich beendet werden.

Und natürlich ist das, was der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko betreibt, unglaublich: Er führt einen Krieg, bei dem er Menschen als Munition einsetzt. Er will gegen die Sanktionen Europas vorgehen, die sein Land treffen.

Lukaschenko hofft auf mehrere Dinge: Etwa, dass die EU sich zerstreitet in der Krise, dass die Staatengemeinschaft ihn endlich als offiziellen Regierungschef anerkennt. All das darf keineswegs geschehen.

Es braucht darum nicht nur die Aufnahme der Migranten. Es braucht auch schärfere Sanktionen. Denn Lukaschenko spricht als Diktator nur eine Sprache: Die Sprache der Tat. Es ist auch die einzige, die er selbst versteht.

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