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Armutsproblem der USA: Ladendiebstahl-Epidemie im Land des Überflusses


Ladendiebstahl-Epidemie in den USA
Das Ende eines amerikanischen Traums

  • Bastian Brauns
Von Bastian Brauns

30.09.2023Lesedauer: 6 Min.
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Sicherheitsleute sind meist nur Statisten: Der Massendiebstahl wird kaum verhindert (Archivbild).Vergrößern des Bildes
Sicherheitsleute sind meist nur Statisten: Der Massendiebstahl wird kaum verhindert (Archivbild). (Quelle: Spencer Platt)

Eine wahre Ladendiebstahl-Epidemie breitet sich in den USA aus. Während Demokraten und Republikaner über die Gründe streiten, leiden Kunden unter den absurden Gegenmaßnahmen des Einzelhandels.

Bastian Brauns berichtet aus New York und Washington

Eine Frau steht in einem Drogeriemarkt der amerikanischen Kette CVS im New Yorker Stadtteil SoHo und schimpft: "Das ist so unfassbar nervig!" Gerade wollte sie nach einer Zahnpasta im Regal greifen, die Packung für 9,39 Dollar (8,87 Euro). Doch die Zahnpasta liegt fest verschlossen in einem bruchsicheren Kasten aus durchsichtigem Plexiglas. Öffnen kann diesen nur ein Ladenmitarbeiter.

Schon dreimal hat die Kundin die "Zahnpasta-Klingel" gedrückt, einen neben dem Regal angebrachten roten Plastikknopf. Endlich kommt ein Mitarbeiter angeschlurft und zückt einen kleinen silbernen Schlüssel.

Überall in den USA ist aus einem alltäglichen Shopping-Erlebnis längst nicht nur bei Zahnpasta ein Stopping-Erlebnis geworden. Auch beim Duschgel heißt es vielerorts: Stopp! Kerzen? Stopp! Müllbeutel? Stopp! Waschmittel? Stopp! In manchen Filialen fällt es schwer, überhaupt noch Produkte zu finden, die nicht weggesperrt sind. Für jedes einzelne muss dann ein Mitarbeiter gerufen werden. Besonders betroffen sind US-Drogerien wie die Ketten CVS, Walgreens und Rite Aid.

Der Grund dafür ist, dass die Zahl der Ladendiebstähle in Amerika stark zugenommen hat. Betroffen ist längst nicht nur New York, wo die Zahl zwischen 2019 und 2022 um mehr als 50 Prozent angestiegen ist, wie das John Jay College of Criminal Justice, eine Hochschule für Kriminologie, herausgefunden hat. Ob Los Angeles, Chicago, Atlanta oder die Hauptstadt Washington – alle größeren Städte der USA melden einen drastischen Anstieg. Auch in kleineren Städten wächst das Problem seit Jahren. Landesweit ist die Zahl der Ladendiebstähle zwischen 2020 und 2022 um 27 Prozent gestiegen, wie eine aktuelle Studie des Handelsverbands "National Retail Federation" (NRF) zeigt.

Eine hilflos wirkende Einzelhandelsindustrie sieht sich daher offenbar gezwungen, extreme und teilweise kundenfeindliche Maßnahmen zu ergreifen.

Massendiebstahl von Bohrmaschinen bis Dosenwurst

Ausgerechnet im Land, das den unbeschwerten Konsum wie kein anderes feiert, entsteht so eine Parallelwelt. Betroffen sind auch Supermärkte, Kleiderläden und Baumärkte. In Kalifornien erbeuteten Diebe in einem Laden der Baumarkt-Kette Home Depot zuletzt Elektrowerkzeuge im Wert von Tausenden Dollar, zu sehen in diesem Video. Die Diebe laufen einfach aus dem Laden, die Mitarbeiter schreiten nicht ein. Oft gibt es vom Management für solche Fälle eine Ansage, sich zurückzuhalten, um nicht zu eskalieren.

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Weil immer mehr gestohlen wird, verschwindet Produkt für Produkt hinter Plexiglas. Was in Deutschland in einigen Supermärkten nur bei hochprozentigem Alkohol bekannt ist, ist in den USA immer öfter die Regel quer durch alle Produktgruppen – sogar Dosenwurst und Eiscreme werden extra gesichert.

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In Chicago schloss die Kette Walgreens zuletzt wegen Diebstahls sogar vier Filialen und eröffnete anschließend einen "Anti-Theft-Store", einen Anti-Diebstahl-Laden. Kunden können dort Produkte nur abholen, die sie zuvor auf einem Computer-Bildschirm ausgewählt und vorab bezahlt haben.

Firmen wie beispielsweise Indyme haben aus dem Problem direkt ein Geschäftsmodell entwickelt. Mit sogenannten Smart-Response-Systemen sollen Diebstähle bekämpft und die Verluste reduziert werden.

Amerikanische Einzelhändler nehmen Kundenfrust, sinkenden Konsum und derlei kostspielige Schutzmaßnahmen in Kauf. Denn das Problem scheint größer zu sein als die Risiken der unbequemen Gegenwehr.

Ein Schaden von mehr als 100 Milliarden Dollar

Einer gerade veröffentlichten Umfrage beim Einzelhandel des NRF zufolge bescherte der "Warenschwund" dem Einzelhandel allein im Jahr 2022 Verluste in Höhe von 112,5 Milliarden Dollar (105,9 Milliarden Euro). Schon 2021 beliefen sich demnach die Verluste schon auf mehr als 90 Milliarden Dollar (85,1 Milliarden Euro). Die Kosten seien nicht nur für die Einzelhändler hoch, heißt es, sondern auch für die Gesellschaft. Denn es entstünden so auch zunehmend Problemviertel, in denen niemand mehr einkaufen will.

Das Ausmaß dieser Entwicklung gehe weit über einfachen Warendiebstahl hinaus. Die Vertreter des Einzelhandels, aber auch Politiker im US-Kongress sprechen bei diesem landesweiten Phänomen längst von "Organized Retail Crime", also von bandenmäßiger, organisierter Kriminalität. Ein Kampfbegriff, der an das organisierte Verbrechen rund um Raub, Drogen- und Waffenhandel erinnern soll.

Offizielle Zahlen der Behörden gibt es nicht. Aber in einer in diesem Jahr veröffentlichten Studie beschreibt der NRF das "Organized Retail Crime" als immer drängenderes Problem. Im Interview kommentiert David Johnston, Vize-Präsident der NRF, die Ergebnisse so: "Diese Taten geschehen immer offener und die Diebe sind bei ihren Versuchen, Waren zu stehlen, immer dreister und aggressiver geworden."

Früher seien es fast unsichtbare Straftaten gewesen, sagt Johnston. Heute aber fänden sie vor den Augen der Öffentlichkeit statt. Die Sicherheitsrisiken sowohl für Mitarbeiter als auch für Kunden stiegen.

Klauen für einen Schattenkonsum-Markt

Laut der Studie seines Verbandes finden die gut organisierten Diebesbanden "immer neue Kanäle, um die gestohlenen Waren weiterzuverkaufen". Früher seien die gestohlenen Produkte vor allem im Internet mit Schlüsselbegriffen zu finden gewesen. So standen die Abkürzungen NWT für "new with tag" und BNWT "brandnew with tag", also "neu mit Etikett" oder "brandneu mit Etikett". Mittlerweile scheinen die Diebe ihre Ware vermehrt auf realen Schwarzmärkten zu verkaufen.

Das lässt sich auch in New York beobachten, etwa im Stadtteil Harlem, nördlich vom Central Park. Vor einem großen Einkaufszentrum in der 116th Street haben Menschen auf dem Bürgersteig provisorische Verkaufstische aufgebaut. Neben gefälschten Sonnenbrillen und Handtaschen liegt ein Dutzend Zahnpasta-Packungen der günstigen Marke Crest. Polizisten stehen daneben, aber kümmern sich nicht darum.

Gleich um die Ecke hat der Einzelhandelsriese Target gerade bekannt gegeben, dass er seinen Standort in East Harlem zusammen mit acht weiteren Geschäften im ganzen Land schließen werde. Der Grund sei auch hier: "Diebstahl und organisierte Einzelhandelskriminalität".

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Das illegale Angebot trifft auf eine offenkundig verzweifelte Nachfrage. Die Preise für Lebensmittel und Konsumgüter sind in den USA so schnell und so weit gestiegen, dass sich Familien bis weit in die Mittelschicht viele Produkte nicht mehr leisten können. Zwar ist die Inflation in den vergangenen Monaten gesunken. Die Preise aber bleiben hoch. Ein Standard-Deodorant bei CVS oder Walgreens kostet 8 Dollar (7,56 Euro). 40 Müllbeutel 13 Dollar (12,28 Euro). Ein durchschnittliches Duschgel 7 Dollar (6,61 Euro).

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Streit um Ursachen und Verantwortung

Das Problem ist längst auch ein politisches. Linke Politiker wie die New Yorker Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez machen die wachsende Armut verantwortlich für die steigenden Zahlen von Diebstählen. Schon 2020, mitten in der Covid-19-Pandemie, sagte sie mit Bezug auf verarmte Bürger: "Sie werden in eine Situation gebracht, in der sie das Gefühl haben, sie müssten etwas Brot stehlen oder an diesem Abend hungern."

Es war ein Satz, für den sie von der politischen Rechten bis heute verächtlich gemacht wird. Ob "ihre Armen" etwa Nagellack oder Waschmittel essen würden, lautet einer der harmloseren Kommentare.

Tatsächlich ist das Problem der Ladendiebstähle laut dem NRF-Report seit der Covid-19-Pandemie zunehmend außer Kontrolle geraten. In den USA gab es deutlich weniger soziale Unterstützung durch den Staat als etwa in Deutschland. Die Armutsrate in den USA ist parallel dazu gestiegen. Lag sie 2021 noch bei rund 12 Prozent, was bereits fast 40 Millionen Amerikanern entspricht, ist sie inzwischen wieder bei rund 15 Prozent angekommen, rund 51 Millionen Amerikaner.

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Besonders die Armutsquote bei Kindern ist extrem gewachsen. So lebten im Februar 2022 laut Zahlen des "Centers for Poverty and Social Policy" der Columbia University bereits 3,4 Millionen Kinder mehr in Armut als noch im Dezember 2021. Es war ein Anstieg von fast 40 Prozent innerhalb weniger Monate.

Organisationen wie die "Poor People's Campaign" sprechen von noch viel höheren Zahlen. Demnach würden 140 Millionen Amerikaner entweder in Armut oder mit extrem niedrigem Einkommen leben. Das entspräche einem Drittel der US-Bevölkerung. Diebstahlkriminalität gibt es in allen gesellschaftlichen Gruppen. Bei armen Menschen ist sie aber prozentual deutlich stärker ausgeprägt.

Die Republikaner werfen den Demokraten vor, mit solchen Statistiken Verharmlosung zu betreiben. Viele sind der Meinung, demokratische Politiker gingen einfach zu lasch gegen diese Taten vor und fordern ein härteres Durchgreifen der Behörden. "Law and Order"-Politik gegen "soziale Maßnahmen" – es ist ein Grundsatzstreit, der im US-Wahlkampf noch eine große Rolle spielen dürfte.

Ziel dieser politischen Attacken sind Gesetze wie in Kalifornien. Dort wird seit 2014 Diebstahl von Produkten unter einem Wert von 959 Dollar nicht mehr als Verbrechen, sondern nur noch als Vergehen einstuft.

Anlass für solche Entscheidungen sind vielfach vollkommen überlastete Polizeireviere und Gefängnisse. Um sich besser den besonders schwerwiegenden Verbrechen widmen zu können, sollen sie von vermeintlichen Kleindelikten entlastet werden. Weil es sich bei den sogenannten "Organized Retail Crimes" aber um deutliche höhere Beträge handeln dürfte, greift dabei nach wie vor das alte Gesetz.

Ausweg: Anti-Terror-Ministerium

In einem Interview griff zuletzt auch der ehemalige CEO der US-Baummarktkette Home Depot, Bob Nardelli, die Biden-Regierung in Washington scharf an. Deren Politik würde "eine gesetzlose Gesellschaft befeuern", sagte er dem konservativen Fernsehsender Fox News.

Einzelhändler im ganzen Land würden durch die zunehmenden Diebstähle in Schwierigkeiten geraten, sagte Nardelli. "Dieses Umfeld unter dieser Regierung schürt eine gesetzlose Gesellschaft. Wir müssen das wieder unter Kontrolle bringen. Ich mache mir Sorgen, wohin das alles führt. Das ist heute eine Epidemie. Es verbreitet sich schneller als Covid."

Im Juni trat inzwischen ein neues, bundesweites Gesetz zur Bekämpfung des Onlineverkaufs gestohlener Waren in Kraft, der "Inform Consumers Act". Weitere Gesetze sind in Vorbereitung. Im US-Kongress liegt ein Entwurf, der es dem Heimatschutzministerium ermöglichen würde, eine eigene Bundesermittlungsbehörde einzurichten, die sich ausschließlich der Bekämpfung der organisierten Einzelhandelskriminalität widmet.

Es wäre ein drastischer Schritt. Das Heimatschutzministerium war in den Vereinigten Staaten im Jahr 2002 ursprünglich unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 geschaffen worden.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Presse-Anfrage bei der National Retail Federation (NRF)
  • indyme.com (Englisch)
  • nrf.com: "Organized Retail Crime: An Assessment of a Persistent and Growing Threat" (Englisch)
  • foxnews.com: "Bob Nardelli slams Biden admin for ‘fueling a lawless society’: I fear where we’re heading" (Englisch)
  • povertycenter.columbia.edu: "3.4 million more children in poverty in February 2022 than December 2021" (Englisch)
  • poorpeoplescampaign.org (Englisch)
  • usinflationcalculator.com: "Food Inflation in the United States (1968-2023)" (Englisch)
  • census.gov (Englisch)
  • congress.gov: §S.140 - Combating Organized Retail Crime Act of 2023" (Englisch)
  • ftc.gov: "Informing Businesses about the INFORM Consumers Act" (Englisch)
  • themarshallprject.org: "What the Panic Over Shoplifting Reveals About American Crime Policy"(Englisch)
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