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9/11: Deutscher David Stern gab New Yorkern wieder Hoffnung


David Sterns "The Gathering"
So heilte ein Deutscher das Trauma der New Yorker

  • Bastian Brauns
Von Bastian Brauns, New York City

Aktualisiert am 11.09.2021Lesedauer: 7 Min.
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Terroranschläge vor 20 Jahren: Was genau am 11. September 2001 in den USA geschah und welche Bilder an diesem Tag um die Welt gingen. (Quelle: t-online)

Ein monumentales Gemälde zum 11. September wurde für Millionen Amerikaner zu einer Ikone des kollektiven Trauerns. Es stammt vom deutschen Künstler David Stern. Wie ist ihm dieser Coup gelungen?

Der blaue Himmel. Keine brennenden Türme. Kein Rauch. Kein Staub. Keine Schreie. Auch keine herumirrenden Menschen. Einfach nur dieser blaue Himmel.

Das ist es, was David Stern am tiefsten mit dem 11. September 2001 verbindet, wenn man ihn in seinem Maleratelier 20 Jahre später auf sein Kunstwerk anspricht, das seit 2014 im 9/11-Museum am Ground Zero zu finden ist. Millionen von Menschen haben es seitdem gesehen.

Oben in Queens, in einer alten Zigarrenfabrik ganz nah am East River, steckt Stern sich eine Zigarette an. American Spirit. Es gibt schwarzen Kaffee. Ein Mann von 65 Jahren mit dichtem grauen Haar und vollem Bart. Ruhig wirken seine hellen Augen, als er sich zu erinnern beginnt.

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"Das Unsagbare traf uns aus dem friedlichen Blauen heraus. Wortwörtlich und im übertragenen Sinne", sagt der Künstler. "Es war ein Wetter wie heute. Es war keine einzige Wolke am Himmel."

Ein Kunstwerk für Millionen von Menschen

Vor zwanzig Jahren liegt Sterns Studio noch unten in Manhattan. Es geschieht quasi vor seiner Haustür. Als er gerade seinen Wagen umparkt, hört er im Radio: Ein Sportflugzeug hat womöglich den Südturm des World Trade Centers getroffen. Kurz darauf ist er am Times Square. Die Menschen um ihn herum schreien: "Oh No!" Tausende sehen, was rund 60 Blocks weiter südlich von ihnen passiert. Live auf riesigen Videoleinwänden. "Eine dermaßen groteske Situation", beschreibt es Stern.

Zu diesem Zeitpunkt weiß er noch nicht, dass er sechs Monate später sein berühmtestes Gemälde schaffen und ihm den Titel "The Gatherings" (Die Versammlungen) geben wird. Millionen von New Yorkern und Besuchern aus der ganzen Welt werden sein Kunstwerk betrachten und sich an diesen Tag erinnern. Wenn sie dorthin kommen, wo einst die beiden Türme standen, wo heute das Wasser in die Tiefe der beiden Fußabdrücke der Fundamente rauscht und wo ein privater Verein auf Initiative der Angehörigen das 9/11-Museum betreibt.

Stern beschließt kurz nach den Einschlägen am 11. September 2001 hinunter zu seinem Studio zu laufen. "Menschen mit grauen Gesichtern kamen mir entgegen, bedeckt mit diesem toxischen Staub." Dort, wo er sein Atelier hat, ist alles ruhig. Ganz so, als sei gar nichts geschehen. Bis sein Vermieter mit einem Pick-up angefahren kommt. "Die Ladefläche war voller Papiere und Zettel. Der Wind hatte sie aus den Büros von 110 Stockwerken herübergeweht", erzählt der Maler. Da waren die Türme bereits in sich zusammengestürzt und mit ihnen Sterns Traum von seinem neuen Leben in den USA.

Das Ende eines Lebens in Frieden

Er hatte Deutschland erst 1994, wenige Jahre zuvor, mit seiner Familie verlassen. Stern ist deutsch-jüdischer Herkunft, geboren 1956 in Essen, und er befand, seine bisherige Heimat sei mit sich nicht im Reinen. "Ich wollte, dass meine Kinder befreit von Stigmatisierung aufwachsen. Weder Antisemitismus noch übertriebenen Philosemitismus wollte ich ihnen zumuten. Sie sollten sich einfach frei fühlen", sagt Stern. Er habe sein Auswandern nach New York auch als "Reparatur" der eigenen Familiengeschichte empfunden. Sein Großvater hatte den Holocaust als versteckter Jude überlebt, der seine Religion nicht auslebte. David Stern konvertierte dann schließlich zum orthodoxen Judentum und freute sich auf das Leben in Manhattan.

Da wurde das, was gerade erst seine neue Heimat geworden war, plötzlich angegriffen, wie noch nie in der Geschichte dieses Landes. Stern erinnert sich an die Nationalgarde. Das tagelange Eingeschlossen-Sein auf der Insel Manhattan. Die Brücken waren gesperrt. Die Fähren standen still. "Es kam niemand mehr heraus und niemand mehr herein", erzählt er. F-15-Kampfjets patrouillierten über dem Hudson River. Nichts habe man machen können. "Wir waren verdammt zum Zusehen und die ganze Weltöffentlichkeit sah uns dabei zu."

Stern wurde zum Beobachter der Beobachteten

In diesen zwei Wochen nach den Anschlägen der Islamisten hat Stern zusammen mit Millionen von New Yorkern etwas erlebt, was es so vorher nicht gab und so auch nie wieder gegeben hat. "Empathie", sagt David Stern. Zugewandtheit, Hilfsbereitschaft, gemischt mit tiefer, warmer Verbundenheit. Ohne die kleinen Kämpfe miteinander, die sonst den Alltag der Menschen bestimmten. "Vereint in absoluter Hilflosigkeit", erinnert er sich.

Was er da gerade erlebte, das wusste er schnell, war etwas Einmaliges. Er musste es künstlerisch verarbeiten. Auch um selbst irgendwie weitermachen zu können. Statt weiter an den Nachrichten zu kleben, fing der damals 45-Jährige an, selbst all die Zuschauer des Unbeschreiblichen zu beobachten. Wie sie sich an den Straßenecken in jedem Block, überall in der Stadt spontan verabredeten, um Kerzen aufzustellen, um einfach nur zusammenzustehen. Wie sie an den Zäunen standen und die Aufräumarbeiten und das Bergen der Leichen verfolgten. Wie sie die vielen flehentlichen Zettel mit den Fotos der Tausenden Vermissten studierten. Wie sie aufstanden, um ihre Helden zu ehren, wenn die Feuerwehr vorbeifuhr.

"Es waren Momente, in denen keineswegs nur Trauer herrschte", erzählt Stern. Er spürte etwas, bei dem er sich bis heute fragt: "Warum brauchten wir dazu diesen schrecklichen Angriff von außen?" Dieses Gefühl wollte er festhalten. Irgendwann nach sechs Monaten dachte er nicht mehr nach, sondern malte einfach los. Pinselstrich für Pinselstrich.

Auf seinen beiden Bildern ist der Himmel blau. Die Gesichter der Menschen sind unscharf und erkennbar zugleich. Sie stehen zusammen und schauen zu. Eine Freundin habe ihn erst vor wenigen Jahren darauf aufmerksam gemacht: "Auf dem einen Bild hast du 9 und auf dem anderen hast du 11 Menschen gemalt." Das habe ihn erschrocken. "Ich habe das noch nie öffentlich erwähnt. Aber es stimmt und es war mir selbst nicht bewusst", sagt er.

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Und so gelangten seine beiden Szenen schließlich im Jahr 2014 an eine der großen Wände im 9/11-Museum, das ansonsten vor allem Artefakte zeigt: Feuerwehrtrucks, Betontrümmer und riesige verbogene Stahlträger. Den Gründer hatte Stern bei einer Ausstellung kennengelernt. Für ihn selbst war dieses Werk die wohl größte künstlerische Herausforderung seines Lebens.

Von Menschen, die seine Bilder gesehen haben, bekommt Stern die Rückmeldung, dass sie genau das so erlebt hätten. "Ob sich jeder so viele Gedanken gemacht hat, weiß ich nicht", sagt er. "Aber ich bin mir sicher, dass alle von diesen Wochen des erlebten Zusammenhalts geprägt wurden und dass es ihnen Hoffnung gab."

Stern ärgert sich teilweise über die Versuche anderer Kollegen, die Ereignisse vermeintlich künstlerisch abzubilden. So wie etwa die "fallenden Menschen". "Das ist für mich eine Frage des Anstands", erläutert er. "Kunst darf nicht voyeuristisch sein. Ich halte auch nicht an bei Autounfällen und gaffe."

Das Maleratelier seines Freundes Michael Mulhern befand sich näher an Ground Zero. Der Staub der Türme lag dort überall herum. "Michael hat daraus Bilder gemalt", erzählt er, und es schaudert ihn dabei: "Das war nicht nur Staub aus Beton. Da waren auch die Überreste von Menschen enthalten." Die Kunst und das Leben müssten aber seiner Ansicht nach voneinander getrennt bleiben.

Bis heute gibt es im 9/11-Museum auch eine Abteilung, in der Genanalysen durchgeführt werden, bei denen selbst 20 Jahre später noch vereinzelt endlich eine erlösende Klarheit für die Angehörigen geschaffen werden kann.

Stern erzählt von einem Leichenschauhaus, das damals an den Piers an der Upper West Side aufgebaut wurde. Studenten der Yeshiva Universität und andere Freiwillige sorgten, dafür, dass gefundene Leichenteile von einem Rabbi aufgesucht werden konnten, um die "Shmira" durchführen zu können. Ein im Judentum vorgeschriebenes Ritual, bei dem Psalmen aufgesagt werden. Denn niemand konnte vor einer Identifizierung wissen, ob es vielleicht Juden waren. "Auch das war diese Solidarität. Diese Selbstverständlichkeit, dass man das eben jetzt einfach macht."

New York, die USA und auch die Welt haben sich verändert

Stern vermisst in der Welt von heute diesen Zusammenhalt. "Ich würde mir wünschen, dass sich alle mehr anstrengen würden, gut zu sein", sagt er. Damit meine er keine politische Seite und nicht mehr Geld verdienen. "Sondern sich anzustrengen, bessere Menschen zu werden. Das Leben dauert nur ein paar Tage. Darum geht es wirklich. Wer das früh begreift, kann viel erreichen."

Über das Böse hat Stern nicht erst seit 9/11 viel nachgedacht. Jeder habe eine destruktive Kraft in sich, das habe er selbst früh reflektiert. "Die Nazis waren keine Monster. Das waren Menschen. Jeder von uns hat die Kapazität, ein SS-Mann in einem Konzentrationslager zu sein", gibt er zu bedenken. "Hätte ich einer sein können? Ja, das hätte ich." Aber man ende eben nicht einfach so per Zufall dort. "Da gibt es ganz viele Stationen davor, an denen man hätte Nein sagen können. Man muss Nein sagen."

New York, die USA und auch die Welt haben sich für ihn in den vergangenen 20 Jahren sehr verändert. Die Menschen seien der Komplexität nicht mehr gewachsen. "Das Internet ist das Megafon der Massen. Und Massen waren noch zu keinem Zeitpunkt eine Quelle von Information, sondern von Hysterie", sagt er.

"Natürlich ist es viel einfacher, wenn man Schubladen hat für links und rechts", findet er. Aber die Welt sei wahnsinnig kompliziert. Und je älter sie werde, desto komplizierter und desto wichtiger sei es, Zusammenhänge zu verstehen. Dazu müsse man sich Wissen aneignen und lesen.

Stern hat den 585 Seiten umfassenden 9/11-Report gelesen. Darum weiß er, warum der Himmel vor 20 Jahren so blau und so untrüglich erschien. "Die Regierung hatte zahlreiche Informationen, dass da schon lange etwas im Gange war", sagt er. "Aber sie haben es einfach nicht hinbekommen, daraus die richtigen Zusammenhänge herzustellen und die notwendigen Schlüsse zu ziehen."

"The Gatherings" von David Stern ist vom 1. September 2021 bis zum 7. März 2022 in der US-Botschaft in London im Rahmen der Ausstellung "And Yet We Rise: 20 Years Remembrance of September 11th" zu sehen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Gespräch mit David Stern in Queens, New York
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